Um es gleich zu sagen: Wer darauf hofft, dass es endlich wieder Austin Sevens aus Berlin im Neuzustand gibt, wird heute enttäuscht werden. Diese Episode ist seit Ende der 1930er Jahre endgültig passé.
Ich habe auch meine Zweifel, dass in der deutschen Hauptstadt der prekären Existenzen, aus der einen zunehmend verstörende Nachrichten erreichen, noch in der Breite dieselbe technische Kompetenz wie in der Vorkriegszeit vorhanden wäre.
Wieso Berlin von einer der führenden Industriemetropolen der Welt zu einem subventionsbedürftigen Inkompetenzzentrum verkommen ist, soll hier nicht erörtert werden.
Erfreuen wir uns stattdessen an dem folgenden Zeugen der an Vielfalt kaum zu überbietenden Automobilhistorie der einstigen Weltstadt:

So oder so wäre diese Aufnahme des filigranen Roadsters, die ich Leser und Sammlerkollege Klaas Dierks verdanke, ein schöner Fund – selbst wenn sie “nur” einen von 300.000 zwischen 1923 und 1939 gebauten Austin “Seven” zeigen würde.
Dass es aber nicht “irgendeiner” dieses genial einfachen Entwurfs der frühen 1920er Jahre war – deutschen Hersteller gelang bis Einführung der DKW-Frontantriebswagen ab 1931 nichts Vergleichbares – das zeigt ein Blick auf die Position des Lenkrads:

Linksgelenkte “Seven” gab es von Austin eigentlich nicht – außer in Berlin, wo vor dem 2. Weltkrieg so ziemlich alles möglich war.
Dort schraubte eine Firma namens Willys-Overland-Crossley GmbH (kurz W.O.C) ab 1932 Austins dieses populären und konkurrenzlos günstigen Typs zusammen. Dabei verwendete man wohl weitgehend zugelieferte Bausätze, die lediglich in einigen Details an deutsche Gegebenheiten angepasst wurden.
Dies ist einem absolut empfehlenswerten Buch zu entnehmen, das nebenbei zeigt, was in Sachen Vorkriegsauto-Literatur hierzulande nach wie vor möglich ist – wenn man will und den nötigen Biss hat, ein solches wirtschaftlich kaum lohnendes Projekt durchzuziehen:
Austin und Willys aus Berlin, von Klaus Gebhardt, Verlag Kraftakt, 2013
Was man dort leider nicht erfährt ist, wer die Karosserie des Austin Seven Roadsters auf dem Foto von Klaas Dierks gebaut haben könnte. Diese hat nämlich nur entfernte Ähnlichkeit mit serienmäßigen Roadsteraufbauten von Austin (“Nippy”), der auf folgendem Foto zu sehen ist – übrigens ebenfalls ein Austin 7 “Made in Berlin”:

Tatsächlich weisen die beiden Roadster – von der Kühlerpartie, den Drahtspeichenrädern und dem links angebrachten Lenkrad abgesehen – kaum Gemeinsamkeiten auf.
Unter anderem besaß die serienmäßige Roadsterkarosserie des Austin “Seven” kein Trittbrett, dafür eine ausstellbare Frontscheibe sowie einen vollwertigen Kofferraum.
Auf den üppigen Chromschmuck des “Nippy” musste der Roadster auf dem Foto von Klaas Dierks ebenfalls verzichten – er war eine fast kompromisslose Fahrmaschine.
Nun könnte man einwenden, dass es sich doch auch um einen Lizenzbau des Austin “Seven” handeln könnte, der unter dem altehrwürdigen Markennamen Dixi seit 1927 in Eisenach gefertigt wurde – natürlich auch er mit Linkslenkung.
An diesem Punkt kommt Helmut Kasimirowicz ins Spiel, der sich ganz den unzähligen Varianten des von Dixi (und später BMW) gebauten Austin 7-Derivaten verschrieben hat. Seinem fulminanten Wissen verdanke ich den Hinweis auf ein entscheidendes Detail, das sich auf einem weiteren Foto desselben Wagens findet:

Diese Aufnahme (wiederum bereitgestellt von Klaas Dierks) lässt erkennen, dass der fragliche Roadster auf Austin “Seven”-Basis von der rechten Seite betankt wurde.
Bei den Dixi-Lizenzbauten des Austin befand sich der Tankstutzen jedoch auf der linken Fahrzeugseite. Demnach wird es sich um eine in Berlin von W.O.C. gebaute Version des Austin “Seven” mit eigenständiger Roadster-Karosserie gehandelt haben.
Auf der zweiten Aufnahme sieht man auch sehr gut, wie simpel der Aufbau dieses Austin “Seven” im Vergleich zum serienmäßigen “Nippy”-Roadster war. Reizvoll ist auch die Situation an einer ARAL-Tankstelle, die damals noch kein Supermarkt mit angeschlossenem Benzinverkauf war.
Der junge Mann, der hier in Richtung Kamera schaut, ist derselbe, der auf auf dem ersten Foto des Autos am Steuer sitzt. Die Frau, die uns etwas unschlüssig ansieht und die beiden Mädchen hinter dem Austin, die uns ignorieren, könnten zur Familie des Tankstellenbesitzers gehört haben.
Leider geben die Aufnahmen nicht genügend Details preis, was Zulassungsbezirk und Ort der Tankstelle angeht. So bleibt ungewiss, wo diese beiden schönen Dokumente entstanden sind, die in vielerlei Hinsicht Relikte einer untergegangenen Welt darstellen…
© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.