Oje, mag der regelmäßige Leser dieses Oldtimerblogs denken – nicht schon wieder ein Auto, das irgendwo im Krieg verheizt wurde, das hatten wir gestern erst (hier).
Keine Sorge – zwar gehört der Militäreinsatz nun einmal zum Schicksal vieler Wagen der Vorkriegszeit und wird hier daher ebenfalls berücksichtigt, doch beim heutigen “Frontbesuch” handelt es sich bloß um ein Wortspiel.
Natürlich wäre es einfacher gewesen, Marke und Typ des Autos wie sonst auch gleich im Titel zu erwähnen. Doch damit wäre der Überraschungseffekt verpufft, der – das sei versprochen – phänomenal ist.
Denn heute haben wir es mit einer Ikone der Automobilbaukunst zu tun, zudem noch an einem denkbar unwahrscheinlichen Ort. Doch der Reihe nach.
Die Geschichte beginnt damit, dass der Verfasser für kleines Geld folgende Aufnahme erstand, ohne so recht zu wissen, was es damit auf sich hat:

Cord L-29; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Tja, was soll man mit so einem Foto anfangen, auf dem das fragliche Fahrzeug nicht einmal vollständig abgebildet ist?
Gerade solche rätselhaften Aufnahmen haben es jedoch oft genug in sich, auch wenn die Suche nach Markenschriftzügen oder Emblemen erst einmal erfolglos bleibt.
Sicher weiß kaum jemand auf Anhieb, was für ein Wagen sich hinter dieser Frontpartie verbirgt:
Eine stilistische Analyse erlaubt zumindest eine ungefähre zeitliche Einordnung.
So verweist das Fehlen seitlicher Kotflügelschürzen auf die Zeit vor 1932 (siehe hier). Die endlos lang scheinende Motorhaube in Kombination mit der auffallend niedrigen, senkrecht stehenden Windschutzscheibe lässt an eine Entstehung Ende der 1920er Jahre denken.
Diesen sportlichen Stil prägten damals die US-Marken, die seinerzeit in jeder Hinsicht tonangebend waren, übrigens nicht nur in punkto Optik, wie wir noch sehen werden.
Auch die Drahtspeichenräder mit der voluminösen Nabenkappe sprechen für ein US-Fahrzeug, aber welches?
Den 1600 Seiten starken “Standard Catalog of American Cars” durchzuarbeiten, wäre eine Möglichkeit – doch allenfalls, wenn man eine Woche krank im Bett liegt…
Geben uns vielleicht die beiden Herren vor dem Wagen einen Hinweis?
Zwei Charaktere wie aus dem Bilderbuch, zwei unterschiedlichen Welten zugehörig.
Von dem freundlich in die Kamera schauenden älteren Herrn erwartet man den kräftigen Händedruck eines Menschen, der es gewohnt ist anzupacken. Vielleicht haben wir hier einen Bauern oder Handwerker vor uns, der sich fein gemacht hat.
Seine Jacke mit Nadelstreifen zitiert städtische Mode, Hose und Hemd sind gut getragen, aber nicht ungepflegt.
Der geschlossene Hemdkragen kündet auch ohne Krawatte vom Wunsch, “korrekt” – d.h. Rücksicht auf die Mitmenschen nehmend – gekleidet zu sein. Die einzige Freiheit, die man sich erlaubt, ist die verwegen sitzende Schiebermütze.
Der Verfasser ist geneigt, hier einen Bewohner eines Landstrichs irgendwo auf dem Balkan zu sehen.
Sein Widerpart ist der modisch gekleidete junge Mann, dessen Händedruck vermutlich der eines Schreibtisch”arbeiters” ist. Für ihn ist die Krawatte auch beim sportlichen Dress mit Knickerbocker-Hosen und Pullover ein “Muss”.
Er scheint gut gebräunt zu sein – offenbar hat er sich eine “Auszeit” vom Bürodasein gegönnt. Was die beiden Männer miteinander verband, wissen wir leider nicht.
Wahrscheinlich ist nur: Diese Aufnahme eines mutmaßlichen US-Autos entstand einst irgendwo in südlichen Gefilden in Europa.
Das wäre angesichts der aus heutiger Sicht unglaublichen damaligen Marktpräsenz amerikanischer Wagen in Europa nicht überraschend. Doch genau dieses Auto, das ist schon spektakulär. Dessen Identität sollte sich bald klären.
Denn einige Zeit nach Erwerb obigen Fotos gelangte der Verfasser in den Besitz einer zweiten Aufnahme desselben Autos vom gleichen Verkäufer, dieses hier:

Cord L-29; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Diese Aufnahme ist ein schönes Beispiel für den einzigartigen Reiz historischer Aufnahmen von Vorkriegsautos. Dabei ist nicht einmal das ganze Fahrzeug zu sehen und Teile davon liegen bereits im Unschärfebereich des Kameraobjektivs.
Und doch meint man, bei dieser Szene vor über 80 Jahren förmlich mit dabei zu sein. Sie liefert zugleich den entscheidenden Hinweis auf die Identität des Wagens.
Der Bildausschnitt genügt, um das Auto anhand der Kühlerpartie als Cord L-29 zu identifizieren.
Mit diesem 1929 vorgestellten Typ landete die amerikanische Cord Corporation, die auch die legendären Marken Auburn und Duesenberg besaß, einen Coup.
Der Cord L-29 war nicht nur der erste in größeren Stückzahlen gebaute frontgetriebene Wagen in den USA, er war auch stilistisch avanciert.
Im Unterschied zu später entwickelten Fronttrieblern aus europäischer Produktion (DKW 1931 und Adler 1932) war der Cord L-29 großzügig motorisiert.
Verbaut wurde ein 4,9 Liter große Reihenachtzylinder mit 125 PS, der auch bei der Schwestermarke Auburn zum Einsatz kam, natürlich mit einigen Anpassungen, um Frontantrieb zu ermöglichen.
Zwar galt der schwere Cord L-29 mit einer Spitzengeschwindigkeit von “nur” 130 km/h als untermotorisiert, doch sorgte seine niedrige, gestreckte Linie für Furore.
In Europa errangen mit Manufakturaufbauten ausgestattete Wagen des Typs Cord L-29 dutzende Siege bei Schönheitswettbewerben. So gesehen scheint es nicht mehr so überraschend, diesem Fabeltier in Europa zu begegnen.
Tatsächlich ist der zweiten Aufnahme des 2-türigen Cabriolets auf der Rückseite zu entnehmen, dass der Abzug von einem Fotostudio in Wien entwickelt wurde.
Dennoch: Dieses großartige Automobil wurde 1929 in nur 1.800 Exemplaren gebaut, 1930 und 1931 folgten nochmals zusammengenommen rund 3.000 Stück.
Die Wahrscheinlichkeit, einer derartigen Rarität irgendwo auf Reisen in Europa zu begegnen, ging schon damals gegen null.
Heute dieses Prachtexemplar genießen zu dürfen, ist umso faszinierender.
Der Besitzer mit dem pelzbesetzten Kragen schaut hier etwas verkniffen, die tiefstehende Sonne scheint ihm direkt ins Gesicht. War er vielleicht ein Besucher aus den Staaten, der seinen Cord nach Österreich mitgenommen hatte?
Sein Hund hat den Blick abgewandt und schaut melancholisch in die Ferne. Wohin es wohl als nächstes gehen mag? Wohin es den frontgetriebenen Besucher aus Übersee später verschlagen hat, wissen wir nicht.
Von den beiden Situationen vor über 80 Jahren ist nichts geblieben außer diesen Fotos, vielleicht existieren irgendwo noch ein paar Überbleibsel des Cord L-29.
Auch das ist eine Facette der Beschäftigung mit Vorkriegsautos – die Konfrontation mit der Vergänglichkeit, aber hier in grandioser Form…