Wer diesen Oldtimerblog für Vorkriegswagen schon ein wenig länger verfolgt, vermisst vielleicht “Neuigkeiten” zur einstigen Berliner Marke NAG, für deren charakteristische Wagen der Verfasser seit jeher eine Schwäche hat.
Der letzte NAG, den wir hier präsentiert haben, war ein Typ C4 10/30 PS, wie er von 1920-24 in für deutsche Verhältnisse beachtlichen Stückzahlen gebaut wurde – zur Klarstellung: die Rede ist von wenigen tausend Exemplaren…
In der NAG-Galerie finden sich eine ganze Reihe von Originalfotos dieser robusten Wagen aus dem AEG-Konzern, beispielsweise dieses hier:

NAG Typ C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Die Aufnahme ist zwar etwas verwackelt, doch sind alle wesentlichen Details gut wiedergegeben:
- der NAG-typische Ovalkühler mit mittigem Knick,
- das sechseckige NAG-Emblem auf der Stange zwischen den Scheinwerfern und
- die in der unteren Haubenhälfte eingeprägten breiten Luftschlitze.
Der Betrachter merke sich außerdem die Form der spitz auslaufenden Schutzbleche, die beim oben abgebildeten Wagen links und rechts auffallend unterschiedlich sind.
Nun aber zu dem NAG, um den es heute eigentlich geht:

NAG Typ D4 10/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Klarer Fall, möchte man meinen: Spitz zulaufender Ovalkühler – ganz sicher ein NAG der 1920er Jahre. Aber auch ein Typ C 10/30 PS?
Nun, auf den ersten Blick dachte der Verfasser an dieses Modell, das sich so oft auf Fotografien der wilden 1920er Jahre findet.
Verfolgte NAG damals nicht wie einige andere deutsche Hersteller eine “Ein-Typen-Politik”? Das war die freundliche Umschreibung dafür, dass man nach dem 1. Weltkrieg nur ein Modell in halbwegs rationeller Form zu fertigen imstande war.
Die Konkurrenz von der Siemens-Tochter Protos machte das seinerzeit so mit dem gleichnamigen Typ C 10/30 PS; selbst Horch aus Zwickau bot nur ein Modell an.
Fast schien es, als sei die Aufnahmesituation das einzig Besondere an dem NAG, doch wie im wirklichen Leben lohnt es sich, vermeintliche Gewissheiten in Frage zu stellen. Der erste Reflex ist oft der richtige, aber nicht immer, so auch hier:
Dass dieser NAG ohne Scheinwerferstange und Markenplakette daherkommt und ihm auch die kleinen Lampen zur Ausleuchtung des Straßenrands fehlen, mag für sich noch nicht viel besagen.
Doch die völlig abweichende Gestaltung der Vorderschutzbleche, die rund statt spitz auslaufen und ein ausgeprägtes Profil zur Stabilisierung aufweisen, hat Gewicht.
Keiner der NAG C-Typen, die dem Verfasser bislang untergekommen sind, weist diese Besonderheiten auf. Dafür gibt es eine Aufnahme in der NAG-Galerie, bei der alles passt, und zwar diese:

NAG Typ D 10/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Hier haben wir dieselbe Gestaltung der Vorderschutzbleche und ein aufgesetztes Blech mit hohen schmalen Luftschlitzen in der Motorhaube.
Leider können wir die Gestaltung der Haubenschlitze beim NAG auf unserem Foto nicht erkennen, doch spricht alles dafür, dass auch er einer der selten abgebildeten D-Typen ist, die 1924 die Nachfolge des C-Typs antraten.
Unter der Haube hatte sich trotz kaum veränderten Hubraums von 2,6 Liter Entscheidendes getan: Hängend im Zylinderkopf angebrachte Ventile erleichterten den Gaswechsel deutlich, wodurch die Höchstleistung um satte 50 % zunahm.
Die Spitzenschwindigkeit des Typs D4 10/45 PS stieg gegenüber dem Typ C4 10/30 PS von 75 auf 90 km/h – bei den damaligen Straßenverhältnissen mehr als ausreichend.
Bis 1927 baute NAG den leistungsgesteigerten und optisch leicht modernisierten Typ D – vermutlich eines der am längsten gebauten Spitzkühlermodelle überhaupt.
Wer die 11.000 Reichsmark für den Tourenwagen aufbringen konnte – für eine Limousine waren sogar fast 15.000 Mark zu berappen – dem war auch sonst ein exklusiver Lebenswandel möglich.
Unser Foto belegt das trotz der ländlichen Umgebung sehr schön:
Diese Herrschaften haben sich gerade ausgehfein gemacht – oder sind am Morgen noch in Sektlaune von einer Feier zurückgekehrt.
Was genau der Anlass war, um teilweise im schicken Abendkleid bzw. Smoking auf Automobil oder Motorrad zu posieren, wissen wir leider nicht.
Doch ist in solchen alten Aufnahmen soviel Leben drin, fast meint man dabei zu sein nach über 90 Jahren. Es sind Zeugnisse wie dieses, die uns die Fahrzeuge der Vorkriegszeit nahebringen wie das kein steril präsentiertes Museumsstück schafft.
© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.