Verblassende Erinnerungen: Bilder des Tatra T11/12

Die Beschäftigung mit historischen Fotos von Vorkriegsautos im deutschsprachigen Raum konfrontiert einen unweigerlich mit Dokumenten, die an die fatalen Konflikte mit unseren Nachbarn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnern.

Ob es das Hin und Her um das Elsass war oder die Grenzverschiebungen im einstigen österreichisch-ungarischen Imperium nach dem 1. Weltkrieg – immer wieder fand sich die betroffene Bevölkerung ungefragt unter neuen Herrschern wieder.

Ein Beispiel dafür ist das Schicksal der Deutschen in den ehemaligen Provinzen Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien, denen 1919 von den Siegermächten des 1. Weltkriegs das Völkerrecht auf Selbstbestimmung genommen wurde.

Mehrere Millionen Deutsche mussten danach im Vielvölkerstaat Tschechoslowakei zurechtkommen. Dass dies immer schärfere Konflikte heraufbeschwor, lehrt uns der Fortgang der Geschichte, doch im Alltag gab es auch friedliche Überschneidungen.

Davon kündet diese schöne Aufnahme aus Böhmen:

Tatra_T12_Böhmen_Galerie

Tatra T12; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auf vielen Fotos jener Zeit finden sich Situationen wie diese: Deutsche, die in einem Wagen eines tschechischen Herstellers – hier eines Tatra T12 – posieren.

Kein Wunder – im Automobilsektor gab es von jeher eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Tschechen und Deutschen. Die Firma Tatra ist ein gutes Beispiel dafür.

Im Vorgängerunternehmen, der Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft, entfaltete Hans Ledwinka von 1897 bis 1917 und von 1921 bis 1945 eine rege Tätigkeit.

Die Leistungen der 1923 in Tatra umbenannten Firma sind untrennbar mit seinem Namen verbunden. Die neuen Herren im Unternehmen wussten seine Fähigkeiten offensichtlich zu schätzen.

Nach seiner Rückkehr 1921 konstruierte Ledwinka als erste Großtat den Tatra T11, der mit seinem luftgekühlten Zweizylindermotor damals für Aufsehen sorgte. Ab 1926 wurde der Wagen mit Vierradbremsen als Tatra T12 angeboten.

Mit einem solchen Modell haben wir es hier offensichtlich zu tun:

Tatra_T12_Böhmen_Frontpartie

Sehr schön ist hier zu sehen, dass Tatra nicht versuchte, dem Wagen eine Kühlerattrappe zu verpassen, sondern eine eigenständige Gestaltung der Frontpartie zuwegebrachte.

Das 1100ccm messende Aggregat leistete 12 PS, was für eine  Höchstgeschwindigkeit von gut 70 km/h genügte.

Man muss das im richtigen Kontext sehen: 95 % der Bevölkerung im deutschsprachigen Raum konnten bereits froh sein, wenn sie ein Fahrrad oder Motorrad besaßen – ein eigenes Automobil war geradezu ein Privileg.

Auf den damaligen Pisten würde auch der Besitzer eines modernen Wagens kaum mehr als 70 Stundenkilometer fahren wollen. Eine Autobahn gab’s damals noch nicht.

So konnte Tatra seinen kompakten und leichtgewichtigen Typ T 11 von 1923-25 problemlos in einigen tausend Exemplaren an den Mann bringen.

Man stößt auf den verblassenden Aufnahmen aus deutschen Fotoalben jener Zeit, die die Vertreibung ihrer Besitzer aus der Heimat ab 1945 überlebt haben, immer wieder auf Bilder, die einen Tatra T11 oder T12 zeigen:

Tatra_T11_Langdorf_1933_Galerie

Tatra T11 oder T12; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Nun mag einer sagen, dass dieser Wagen alles mögliche sein kann. Die Scheibenräder mit vier Radmuttern gab es damals beispielsweise auch beim 4 PS-Modell von Opel.

Richtig, aber den eigenwilligen Schwung des hinteren Kotflügels und die weit nach oben reichenden Luftschlitze findet man bei zeitgenössischen Opel-Wagen nicht.

Außerdem besitzen wir eine weitere Aufnahme des (vermutlich) selben Wagens – man beachte die Ähnlichkeit der jungen Männer auf den Fotos:

Tatra_T11_2_Galerie

Tatra T11 oder T12; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier erkennt man ganz klar die kühlerlose Fronthaube, an die sich die junge Dame – vermutlich die Schwester unseres feschen Tatra-Fahrers – lehnt.

Sachkundige Leser können sicher auch etwas zum Nummernschild des Wagens sagen.

Ob das Auto bereits über Vorderradbremsen verfügt – dann wäre es ein T12 statt eines T11 – oder nicht, soll hier nicht diskutiert werden.

Stattdessen schauen wir uns eine weitere Aufnahme des Tatra T11 bzw. 12 an, die es in die Gegenwart geschafft hat:

Tatra_T11_oder_12_Galerie

Tatra T11 oder T12; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier haben wir einen Tatra des Typs T11 oder T12, der einst anlässlich des Baus eines großzügigen Hauses zusammen mit dem mutmaßlichen Bauherrn und mehreren Handwerkern abgelichtet wurde.

Auch wenn man von dem Wagen nicht allzuviel sieht, ist das eine reizvolle Aufnahme. Der gutbetuchte Hausbesitzer war sich nicht zu schade dafür, auf einem Foto mit schmutzigem Anzug und von der Arbeit gezeichneten Männern zu posieren.

Ob links außen seine Frau und der kleine Sohn zu sehen sind, wissen wir nicht genau, die Wahrscheinlichkeit spricht aber dafür. Im Hintergrund sehen wir das vor der Fertigstellung stehende Haus im sachlichen Stil jener Zeit, der in den 1950er Jahren in nochmals vereinfachter Form fortlebte.

Nur wenige Jahre nach dieser Aufnahme folgte die Besetzung der mehrheitlich von Deutschen bewohnten Teile der Tschechoslowakei durch die Wehrmacht. Wie die Sache ausgegangen ist, verraten die Geschichtsbücher.

Man fragt sich bei diesen Aufnahmen, was wohl aus den Menschen, den Autos und dem Haus geworden ist. Letzteres hatte vermutlich die besten Überlebenschancen…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

 

 

2 Gedanken zu „Verblassende Erinnerungen: Bilder des Tatra T11/12

  1. Oberhalb von “Postsparkasse” steht nur “Sammelstelle”. Der Stil des neu errichteten Hauses ist typisch für die Zeit um 1930, das gibt es hier in Bad Nauheim auch – mit Bauhaus hat das wohl weniger zu tun.

  2. Zum Bild mit dem (Geschwister-)Paar, das einen rechtsgesteuerten Tatra mit dem hälftig lesbaren Ke9nnzeichen M-56. zeigt : Es handelt sich um ein seit der Reform des tschechoslowakischen Kennzeichensystems von 1932 in Mähren vergebenes Nummernschild; das M steht für Mähren.
    Interessant sind aber auch 2 weitere Bilder, zunächst das oberste mit dem Gebäude der Postsparkasse samt dem Torbogen : Wenn das kleinere Wort oberhalb von “Postsparkasse” lesbar wäre …?
    Und dann das Unterste mit den Handwerkern vor dem wohl gerade bezugsfertigen Haus : Der Baustil mit dem großzügigen Runderker ist sehr ähnlich zu einigen der Brünner Villen im Stil des Bauhaus / Art deco, es kann aber auch ganz woanders oder doch wieder zerstört worden sein. Da konnte ich es leider nicht finden :
    https://www.bam.brno.cz/de/objekt

    Gefunden habe ich dafür aber : https://tatramuseumbitov.webnode.cz

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