Wer ist heute noch in der Lage, die Stilistik zeitgenössischer Fahrzeuge zu beschreiben? Der Verfasser dieses Blogs zumindest hat längst kapituliert und versteht die gestalterische Logik der meisten modernen Wagen nicht mehr.
Da beginnen und enden irgendwelche Linien und Falze ohne erkennbaren Grund, Einbuchtungen und Wülste finden sich allerorten – manchmal ist man sich nicht sicher, ob man es nicht doch mit einem Blechschaden zu tun hat.
Hinzu kommt, dass – abgesehen von einem zunehmenden Hang zum Grotesken – kein Trend mehr zu erkennen ist. Viele Wagen des Jahres 2018 hätten auch fünf oder zehn Jahre früher entstanden sein können, zumindest äußerlich.
Natürlich geht die Entwicklung weiter – heutige Autos sind so sicher, leistungsfähig, zuverlässig und umweltfreundlich wie nie zuvor. Doch die stetige Verbesserung im Detail ist nicht mit den Entwicklungssprüngen der Vorkriegszeit zu vergleichen.
Dem Verfasser war bislang vor allem bei den Autos vor dem 1. Weltkrieg aufgefallen, dass damals etwa alle fünf Jahre eine drastisch verbesserte neue Generation auf den Markt kam – nebenbei ganz ohne staatliche “Anreize” auf Kosten der Steuerknechte, die sich den Spaß nicht leisten können, wie das heute bei Elektrokutschen der Fall ist.
Doch auch kurz vor dem 2. Weltkrieg war ein rasanter Umbruch binnen fünf Jahren zu erkennen. Die damalige gestalterische Zäsur dokumentieren wir heute anhand von zwei historischen Originalfotos von Chevrolets jener Zeit:

Chevrolet “Six” in Kopenhagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Diese technisch nicht ideale, aber dennoch reizvolle Aufnahme entstand vor Schloss Amalienborg in Kopenhagen, bis heute Residenz der dänischen Königsfamilie.
Im Hintergrund, am Ende der Frederiksgade, lugt majestätisch die Frederikskirche hervor, deren Kuppel stark vom Petersdom in Rom inspiriert ist, aber erst Ende des 19. Jahrhunderts fertiggestellt wurde.
Uns interessieren natürlich vor allem die beiden Autos auf dem Foto. Zwischen den beiden Wagen liegen bloß zehn Jahre, doch bereits sie gehören zwei Welten an.
Das linke, halb verdeckt am Straßenrand stehende Auto wirkt mit fast freistehenden Schutzblechen, senkrechtem Kühler, vertikaler Frontscheibe und fehlender Stoßstange wie das Urbild eines Veteranenwagens.
Alle Bauelemente sind klar voneinander geschieden, nichts gefällig Geformtes oder Glänzendes findet sich daran – von der Kühlereinfassung abgesehen. Doch um dieses heute fremdartig wirkende Geschöpf geht es gar nicht.
Wir nehmen die Sechsfensterlimousine ins Visier, die rechts durch’s Bild fährt:
Bei diesem chromblinkenden und luxuriös anmutenden Wagen handelt es sich wahrscheinlich um einen Spezialaufbau als Taxi. Die Basis lässt sich aber eindeutig als Chevrolet “Six” von 1934/35 identifizieren.
Hinweise sind der schräggestellte Kühler mit Emblem im oberen Drittel, die drei waagerechten Luftschlitze in der Motorhaube und die markanten Radkappen.
Je nach Ausführung “Standard” oder “Master” verbaute Chevrolet hier Sechszylinder mit rund 60 oder 80 PS. Beim “Master” gab es außerdem eine unabhängige Radaufhängung an der Vorderachse (Dubonnet-Prinzip).
Was unterscheidet den Chevrolet aber stilistisch von dem namenlosen Nachbarn auf unserem Foto?
- Vor allem die Vorderschutzbleche, die nach Art eines Radhauses das ganze Rad umschließen. Dazu gehört auch die Seitenschürze, die die unattraktive Rahmenpartie verbirgt – und zugleich ein Schmutzfänger ersten Ranges war…
- Neu sind auch die Radkappen, die nicht nur die Nabe, sondern auch die Radbolzen abdecken. Man sieht daran, wie funktionelle Elemente hinter der äußeren Formgebung zurücktreten.
- Typisch für die 1930er Jahre ist auch die in einer Linie auf die Frontscheibe zulaufende Haubenpartie. In den 1920er Jahren waren Motorhaube und “Windlauf” noch klar voneinander getrennte Elemente.
- Die Neigung des Kühlers bringt zwar nicht viel, spiegelt aber die damalige Stromlinienmode wider – der auch die waagerechten Haubenschlitze entstammen.
So grundlegend anders der Chevrolet von 1934/35 daherkommt, sind bei ihm immer noch die meisten funktionellen Elemente voneinander unterscheidbar: Kühler, Haube, Kotflügel, Scheinwerfer usw.
Nur fünf Jahre später – im Jahr 1940 – sind wir plötzlich mit einer radikal neuen Formgebung in einem ganz anderen Umfeld konfrontiert:

Chevrolet von 1940; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Diese außergewöhnliche Aufnahme stammt aus dem Fotoalbum eines deutschen Wehrmachtssoldaten, der vermutlich irgendwo im Hinterland der Ostfront nach der Schneeschmelze in einem Überschwemmungsgebiet unterwegs war.
Über Aufnahmezeitpunkt und -ort wissen wir nichts Näheres, ebenso nichts über die Heereseinheit, zu der der Wagen damals gehörte.
Auf ein ziviles Vorleben deutet zwar die unter der grauen Lackierung hervorkommende Verchromung von Stoßstange und Kühlergrill hin. Doch ist es möglich, dass der Wagen zuvor in alliierten Militärdiensten stand und von deutscher Seite nach dem Sieg in Frankreich 1940 erbeutet wurde.
Dann wäre das Auto praktisch neu gewesen, denn es handelt sich eindeutig um einen Chevrolet “Six” des Modelljahrs 1940.
Was uns hier über einen Abstand von bald 80 Jahren anschaut, ist nicht nur in weltgeschichtlicher Hinsicht ein Zeuge einer dramatischen Umbruchsphase. Wir sehen hier zugleich die Moderne in der Autogestaltung im Werden.
Folgende Dinge fallen in’s Auge:
- Die Motorhaube besteht mit einem Mal aus einem Bauteil, das nach oben aufgeklappt wird, nicht aus zweien, die sich seitlich öffnen lassen.
- Die Kotflügel sind keine mehr im ursprünglichen Sinn – sie bilden ein Gehäuse, das mit der gesamten Frontpartie zu einem Ganzen zu verschmelzen beginnt.
- Der Kühler ist kein von außen erkennbares separates Bauteil mehr. Er verbirgt sich weit hinter dem geschlitzten Blech, das den direkten Blick auf die Kühlerlamellen und andere Elemente wie beipielsweise die Hupen verstellt.
- Die Scheinwerfer sind nicht mehr seitlich an der Haube oder senkrecht am Rahmen angebracht wie zuvor – sie beginnen in der Frontpartie zu versinken.
Ein Wagen wie dieser Chevrolet von 1940 wäre auch 15 Jahre später noch aktuell gewesen – man denke nur an den stilistisch ähnlichen Peugeot 203.
Insgesamt ist dieses zweite Foto ein Rückblick in die dramatische Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zugleich weist es aus dem Kriegsgeschehen in die Moderne und eine friedlichere Zukunft.
Vielleicht kam der Soldat, der einst mitten im 2. Weltkrieg einen Halt in sicherer Umgebung zu einem Foto für die Angehörigen zuhause nutzte, später noch in den Genuss, endlich auch privat einen derart modernen Wagen zu fahren.
Was auf den Schnappschuss noch folgen sollte und auf welchen Wegen er es in die Gegenwart geschafft hat, wissen wir nicht. Auch das macht alte Fotos von Vorkriegsautos so berührend…
Ich teile Michaels Meinung über die aktuelle Fahrzeugstylistik absolut, das ist alles nur noch ein Einheitsbrei, der von Modell zu Modell nur noch hässlicher wird. Die verschiedenen Modelle eines Herstellers kann ich oftmals nicht mehr auseinanderhalten, wobei Mercedes-Benz hier den (Negativ-)Vogel abschiesst. Kreativität ist dort seit der Pensionierung von Bruno Sacco offenbar nicht mehr gefragt, man folgt dort nur noch dem Mainstream, dessen Exzesse von Modell zu Modell nur noch zunehmen.