Aus dem Schattenreich: Ein etwas unheimlicher Minerva

Dass die europäische Zivilisation aus meiner Sicht auf dem absteigenden Ast ist, gehört zu einem der Motive, die in meinem Blog öfters anklingen. Die Beschäftigung mit den Automobilen von einst ist für mich auch eine Art Ahnenkult.

Dazu passt das heutige Datum – 2. November – perfekt: Allerseelen. Lange nicht mehr gehört? Zusammen mit Allerheiligen von „Halloween“ verdrängt? Genau das sind die Verluste an Erbe, die an mir nicht spurlos vorübergehen – wie die sich häufenden Anschläge auf christliche und jüdische Gläubige und ihre Gotteshäuser.

An Allerseelen gedenkt man in der katholischen Tradition der Seelen der Verstorbenen, die im Fegefeuer ausharren, bis sie gereinigt von Gott aufgenommen werden. Das Fegefeuer ist also kein dauerhafter Aufenthaltsort wie der Hades der antiken Römer und Griechen (der mir altem Heiden gleichwohl interessanter erscheint…).

Die Seelen im Fegefeuer befinden sich in einem eigentümlichen Zwischenstadium zwischen Tod und Auferstehung und an Allerseelen kehren sie dem Volksglauben zufolge auf die Erde zurück.

Was das mit Vorkriegsautos zu tun hat? Nun, ich meine, dass ich heute die perfekte Illustration dazu zeigen kann:

Dieser Part mag noch wenig überraschen. Nach kurzem Detailstudium ist klar, dass diese Frontpartie zu einem Wagen der belgischen Marke Minerva gehört.

Die Identifikation erlaubt die Gestaltung des Kühlers, die auf den ersten Blick zwar der von LorraineDietrich-Wagen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ähnelt, aber letztlich einzigartig ist. Auf dem Originalabzug erkennt man zudem die markentypische Einbuchtung im Oberteil der Motorhaube, die dem Profil des Kühlergehäuses folgt und sich dann verliert.

Auch belgische Kenner der Marke wollten sich nicht genauer festlegen und so blieb es bei der Bestimmung „Minerva von 1913/14″ – da kommen diverse Motorisierungen in Frage.

Tatsächlich ist bei diesem Fahrzeug der genaue Typ nicht annähernd so interessant wie die Aufnahmesituation, die bei näherer Betrachtung etwas Unheimliches hat:

Zunächst registriert man mit Wohlwollen die großzügige Tourenwagen-Karosserie, die noch ganz im Stil der Zeit vor dem 1. Weltkrieg gehalten ist – die elektrischen Scheinwerfer sind eventuell später nachgerüstet worden.

Ganz erlesen ist der obere Abschluss der Lederpolster der hinteren Sitzbank mit schuppenartig ausgeführten Nähten. Doch was ist mit den rückwärtigen Passagieren geschehen?

Sie sitzen scheinbar kopflos eine Etage tiefer – etwas gruselig, nicht wahr? Und die reale Dame, die in die Kamera schaut, scheint einen kaum weniger unheimlichen Begleiter vor sich auf dem Schoß zu haben:

Was ist von dieser geisterhaften Erscheinung zu halten? Sind dies vorübergehende Gäste aus dem Schattenreich wie die Verstorbenen, die angeblich an Allerseelen zu uns zurückkehren?

Oder gibt es eine vollkommen nüchterne Erklärung dafür? Sicher ist jedenfalls, dass auf diesem Dokument für einen Moment zwei getrennte Welten zusammenkommen. Die eine ist ländlichen Charakters, die andere mutet herrschaftlich an:

Wie beides einst auf wundersame Weise miteinander verschmolz, das zu begreifen, das bleibt heute wahlweise dem Verstand oder der Phantasie meiner geschätzten Leser überlassen…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

2 Gedanken zu „Aus dem Schattenreich: Ein etwas unheimlicher Minerva

  1. Wird wohl so gewesen sein – an zwei unterschiedlichen Aufnahmeorten…

  2. Wohl versehentlich eine bereits (teil)belichtete Photoplatte verwendet…?

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