Für die Kenner österreichischer Vorkriegsautomobile, von denen es in Deutschland leider nur wenige zu geben scheint, geht nichts über die Kreationen der Wiener Manufaktur Gräf & Stift, deren Tradition bis ins späte 19. Jh. zurückreicht.
Nach ersten Gehversuchen mit konventionellen Modellen, die wie bei so vielen Herstellern in deutschsprachigen Raum anfänglich noch französischen Vorbildern folgten, beschritt man ab 1907 eigene Wege und widmete sich ganz der Fertigung von Oberklasse-Automobilen.
Bald wurde Gräf & Stift die bevorzugte Marke des österreichischen Kaisers, der zugleich König von Ungarn war – man kennt die Doppelmonarchie auch unter dem Kürzel “KuK”.
Der Vielvölkerstaat verband übergreifende gesamtstaatliche Elemente mit Respekt vor lokaler Identität und war damit das genaue Gegenteil des auf rücksichtslose Gleichschaltung fixierten Technokraten-Regimes der sogenannten Europäischen Union.
Das faszinierende kuk-Gebilde fiel bekanntlich dem 1. Weltkrieg zum Opfer, welcher sich aus einem unbedeutenden Lokalkonflikt Österreich-Ungarns mit Serbien ergab und an dem die späteren Sieger mindestens ebensoviel Schuld tragen wie die unterlegenen Parteien.
Die folgende Aufnahme transportiert uns mitten hinein in das damalige Geschehen:

Auf diesem technischen hervorragenden Foto sehen wir noch einmal die Opulenz von KuK kurz vor ihrem Untergang: Die Männer in dem Wagen sind Soldaten der kuk-Armee, sie könnten aus unterschiedlichen Ländern des Riesenreichs stammen.
Das Automobil ist unübersehbar österreichischer Herkunft – ein Gräf & Stift mit Spitzkühler, wie er 1914 eingeführt wurde.
Für den Hund, der hier mit von der Partie ist, kommen ebenfalls alle Länder des Österreichisch-Ungarischen Reichs als Heimat in Betracht, darunter Böhmen, die Slowakei, Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina sowie Teile der heutigen Territorien Polens, Rumäniens, Italiens und der Ukraine.
Etwas genauer bestimmen lässt sich immerhin der Wagentyp, wenngleich mir ein vergleichbares Foto eines solchen Spitzkühlermodells von Gräf & Stift aus dem 1. Weltkrieg noch nicht untergekommen ist.
Bis zum 1. Weltkrieg waren die Automobile der Marke bei äußerlich sehr ähnlichem Erscheinungsbild mit Vierzylinder-Motoren erhältlich, deren Leistung von 22 bis 65 PS reichte. Damit korrespondierte eine Hubraum-Bandbreite von gut 4 Litern bis 10 Litern.
So konnte ich es zumindest Heinrich von Fersens Standardwerk “Autos in Deutschlad 1885-1920 entnehmen, welches auch einige österreichische Fabrikate abhandelt. Das Opus ist zwar mittlerweile bald 60 Jahre alt, aber es bietet trotz mancher Schwächen immer noch Informationen, die man andernorts so komprimiert kaum findet.
Vielleicht kennt ja ein Leser eine Gesamtdarstellung aller Gräf & Stift-Typen bis 1918 mit vollständigen technischen Daten – das muss es doch mittlerweile irgendwo geben.
Unterdessen bleibt uns nur, über die Motorisierung des prachtvollen Exemplars zu sinnieren, das sich auf diesem außergewöhnlichen Foto erhalten hat, welches von einer nachträglichen Kolorierung nochmals profitiert:

Was für ein Aggregat verbarg sich unter dieser im Original feldgrau lackierten Motorhaube? Nun, die kleinste Version mit 22 PS darf man ausschließen, sie scheint nur bis 1913 gebaut worden zu sein, der Spitzkühler taucht bei Gräf & Stift aber erst ab 1914 auf.
Den gigantischen10-Liter-Motor der 65 PS-Ausführung darf man wohl als zu exotisch ausschließen, auch dürfte der Vorderwagen dafür zu klein gewesen sein.
Bedenkt man, dass der österreichische Kaiser (und König von Ungarn) seinerzeit einen Gräf & Stift mit dem 45 PS starken 7,3-Liter-Motor besaß, was für ein gewisse Exklusivität spricht, kommt aus meiner Sicht der etwa schwächer Typ 18/32 PS am ehesten in Betracht.
Ganz ausschließen können wir die stärkeren Modelle aber nicht, wissen wir doch nicht, welcher Persönlichkeit dieser Wagen zur Verfügung stand.
Am Ende gilt es, auch den Insassen nach über 100 Jahren die letzte Ehre zu erweisen. Das große Rad der Zeit ist über sie ebenso hinweggegangen wie wahrscheinlich über den Wagen, der bereits erste “Kampfspuren” aufweist und gegen Kriegsende vermutlich einen zunehmend rücksichtslosen Einsatz erfuhr.
Was mag den Männern in dem Wagen zum Aufnahmezeitpunkt wohl durch den Kopf gegangen sein? Sie scheinen von der Situation entweder überrascht worden zu sein oder diese gar nicht bemerkt zu haben:

Die beiden Herren vorn waren übrigens Mannschaftsdienstgrade, während wir es hinten mit einem Fähnrich (und am Heck des Wagens) mit einem Leutnant zu tun haben (Hinweis von Leser Klaas Dierks).
Ebenfalls Leserhinweisen verdanke ich die Identifikation des Truppenteils, dem diese Männer angehörte – es war die Fliegertruppe (zu erkennen am Ballon auf den Kragenspiegeln des Fähnrichs und des Leutnants).
Viel näher an das schicksalhafte Geschehen vor über 100 Jahren und an einen solchen frühen Gräf & Stift-Wagen mit Spitzkühler kommen wir im 21. Jahrhundert nicht mehr heran.
Dokumente wie dieses sind unübersehbar weit mehr als nur Momentaufnahmen irgendwelcher alter Autos. Sie erzählen zugleich von Glanz und Elend einer Welt, die untergegangen zu sein scheint, die im Fall der einstigen kuk-Gebiete aber in Teilen noch erstaunlich lebendig ist und vom alten Europa weit mehr bewahrt hat, als man denkt…
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Besten Dank für die Bestätigung!
Hallo Herr Billicsich,
“Wenn der hinten Sitzende einen Fesselballon am Kragenspiegel trägt könnte das auf eine Verwendung bei einen Fliegereinheit spät im Weltkrieg hinweisen.” Ich denke, das sehen Sie richtig. Wir haben hier einen Fähnrich und einen Oberleutnant auf den hinteren Plätzen, einer davon mindestens der mit dem Fesselballon bei einer Fliegereinheit.
Schöne Grüße,
K. D.
Besten Dank für diese faszinierenden Details – offen gesagt, hatte ich gehofft, dass Sie diesem großartigen Automobil noch mehr abgewinnen können als ich.
Guten Tag Herr Schlenger,
Der Karosserietyp hier ist ein Batteriekomandantenwagen der KuK Armee.Vorne eine Türe auf der rechten Seite und eine Türe hinten zum Einstieg. Hinten 2 Klappsitze im vorderen Bereich und hinten beidseitig eine kurze Sitzbank zum auf- oder abklappen. Also Platz für 8 Mann. Das geschlossene Dach wurde nach vorne umgelegt und liegt hinter der Fahrersitzbank auf daher kannman bei der hinteren Türe unbehindert einsteigen kann. Diese Aufbauten gab es auf verschiedenen Fahrgestellen wie Prag, Puch oder Austro-Daimler. Wenn der hinten Sitzende einen Fesselballon am Kragenspiegel trägt könnte das auf eine Verwendung bei einen Fliegereinheit spät im Weltkrieg hinweisen.. Das wiederum zeigt der Kragen des neben dem Fahrer sitzenden.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Billicsich
erkennenPilotenabzeichen am Kragen