Wie – ein neuer Blogeintrag ganz ohne Hinweis auf Hersteller und Typ des Vorkriegsautos, das präsentiert wird? Richtig, das ist ein Novum.
Doch bisweilen gibt es Wichtigeres als Hersteller und Typ eines Vorkriegsautos – selbst in einem Blog, der ganz diesem Thema gewidmet ist.
Das ist dann der Fall, wenn man es mit einem Zeitzeugen besonderer Art zu tun hat – festgehalten in einer Situation, die typisch für das Aufeinandertreffen mehrerer Welten in der Frühzeit des Automobils ist.
Die Gelegenheit dazu verdanke ich Herrn Johannes Kühmayer aus Wien, dem die Affinität zum Automobil wohl in die Wiege gelegt wurde – neben einigem anderen. Erst kürzlich haben wir erstmals Bekanntschaft mit ihm gemacht (hier).
Sehr früh hatte sich Johannes Kühmayer bereits den ersten eigenen Wagen zugelegt. Dieser Roadster mit verlässlichem Tretantrieb und sportlichen Drahtspeichenrädern war ganz nach dem Geschmack des Buben, der hier im blütenweißen Hemd posiert:

Das weiße Hemd ist hier nicht nur Sinnbild jugendlicher Unschuld, es nimmt auch vorweg, dass der Automobilist auf den staubigen Landstraßen der Frühzeit mit einem weißen Hemd stets gut gekleidet war.
Im Fall einer Panne konnte man damit zusätzlich brillieren: Entweder erwarb man sich dabei tüchtige Öl- und Fettflecken, die den begehrten verwegenen Look ergaben, mit dem sich der Autler von einst über die Masse der Fußgänger und Kutscheninsassen erheben konnte.
Oder es gelang einem, sich während der Reparatur die sprichwörtliche “weiße Weste” zu bewahren, und man fiel am Ziel allenfalls durch schmutzige Finger unangenehm auf.
Bei diesem wunderbaren Foto, das uns Johannes Kühmayer aus seinem Familienalbum spendiert hat, scheint es den beiden Hemdträgern gelungen zu sein, einen Totalschaden an ihrem Outfit zu vermeiden – dank hochgekrempelter Ärmel.
So stilvoll bewältigten Männer von Welt einst Defekte an ihrem Benzinmobil, bei denen heute meist der ADAC-Engel einspringen muss:

Ähnliche Situationen sind natürlich in unzähligen Exemplaren dokumentiert, doch hier haben wir es mit einer besonders reizvollen Aufnahme zu tun.
Dass ich den Wagen – eine typische Chauffeur-Limousine aus der Zeit vor 1910 – nicht genau identifizieren kann, ist dabei verkraftbar. Ich vermute anhand einiger Details, dass wir es mit einem Daimler “Mercedes” von ca. 1905 zu tun haben – vielleicht weiß jemand mehr.
Der eigentliche Charme liegt darin, dass dieses Automobil noch ein Repräsentant der Kaiserzeit ist, das Foto selbst aber erst nach der großen Zeitenwende des 1. Weltkriegs entstand, wie wir zuverlässig wissen. Schon insofern treffen hier zwei Welten aufeinander.
Später als 1919/20 wird sich die Aufnahme kaum datieren lassen. Denn ab den frühen 1920er Jahren setzte bei der Damenmode ein großer Umschwung ein – Röcke und Kleider gewährten “Beinfreiheit” und die geschlossenen Blusen wichen größerer Offenherzigkeit.
Die Dame, die wir hier sehen, geht konzentriert einer nicht bekannten Tätigkeit nach. Sie selbst ist dagegen sehr wohl bekannt – es handelt sich um Auguste Kühmayer (1888-1985), die Stieftante von Johannes Kühmayer:

Neben ihr steht der leider namentlich nicht mehr bekannte Chauffeur der Familie – wohl mit dem beschädigten Reifen, der nach Ersatz verlangt hatte.
Dazu war bei dieser Konstruktion offenbar der Wechsel von Mantel und Schlauch erforderlich gewesen – wie es scheint, bestand das Ersatzrad hier nicht aus einem auf der Felge vormontierten Reifen, der lediglich an das Rad angeschraubt werden musste.
Das passt gut zu einem Detail, das auf diesem Foto abgelichtet ist – der Handluftpumpe, mit der man nach Montage von Reifen und Schlauch den erforderlichen Luftdruck erzeugte. Das war Aufgabe des jungen Mannes, der sich hier entschlossen zeigt, mit anzupacken und die Situation zu meistern.
Dabei hat er sich nicht gescheut, nicht nur den Ruin des blütenweißen Hemds, sondern auch der hellen Sommerhose in Kauf zu nehmen:

Wer war nun dieser braungebrannte Bursche mit der verwegen in den Nacken geschobenen Ballonmütze?
Auch das wissen wir ganz genau: Es war der Vater von Johannes Kühmayer. Sein Geburtsjahr (1903) passt perfekt zur Datierung des Fotos – der junge Richard Kühmayer dürfte hier 16 oder 17 Jahre alt gewesen sein.
Von seinem Stil und seiner Energie kann sich die heutige Jugend eine Scheibe abschneiden – und sei es nur in Form eines geschmackssicheren Auftritts in Papas altem Daimler anlässlich heutiger Veteranenveranstaltungen. Leider klappt das hierzulande nur selten.
Nicht vergessen wollen wir an dieser Stelle die junge Dame, die uns über Richard Kühmayers Kopf anlächelt, als sei so eine Situation das Selbstverständlichste der Welt. Das war nämlich seine acht Jahre ältere Schwester Hildegard.
Wer genau hinsieht, erkennt auch in ihrer Hand ein Werkzeug – eventuell der Schlüssel zur Betätigung des Wagenhebers. Auch für sie wird die Sache vermutlich nichts Neues gewesen sein – Reifenpannen waren an der Tagesordnung und ein beliebtes Fotomotiv.
Auch Hildegard Kühmayer steht damit für das titelgebende “Rendezvous zweier Welten”, in dem Frauen und Technik ganz selbstverständlich zusammentrafen – das war das “Schicksal” derer, die sich überhaupt den Luxus eines selbstfahrenden Untersatzes leisten konnten.
Doch noch in einer weiteren Hinsicht ist der Titel “Rendezvous zweier Welten” gerechtfertigt. Denn zu dieser hübschen Momentaufnahme aus dem Alltag betuchter Städter haben sich neugierige Vertreter der Landbevölkerung hinzugesellt:

Fotoscheu scheint die junge Bäuerin nicht gewesen zu sein, die hier barfuß an der staubigen Piste steht. Sie scheint sich fast ein wenig in Pose zu werfen, während ihre Nachbarin skeptisch dem Treiben der Städter zuschaut.
Diese Frauen hatten ein Arbeitspensum und Alltagshärten zu absolvieren, das heute kaum vorstellbar ist (die Männer auf dem Land natürlich ebenfalls). Doch wirken sie nicht unglücklich oder verhärmt, auch wenn sich ihr Leben vermutlich in denselben bescheidenen Verhältnissen vollendete, in denen sie großgeworden waren.
Davon wissen ihre heutigen Geschlechtsgenossinen vermutlich nichts, die im 21. Jahrhundert immer noch meinen, furchtbar benachteiligt zu sein, anstatt ihr Glück (worin auch immer es besteht) entschlossen und anstrengungsbereit in die eigenen Hände zu nehmen – es steht ihnen wirklich alles offen.
Auch das mag eine der Botschaften dieses wunderbaren Dokuments sein, das gut 100 Jahren wohlbehütet überdauert hat, um nun erstmals einer breiten Öffentlichkeit die Geschichte von einer Reifenpanne zu erzählen, die zum Rendezvous zweier Welten wurde.
Schließen möchte ich mit dem Versuch, der Situation von anno 1920 noch ein wenig Farbe einzuhauchen. Das ist einigermaßen gelungen, nur dem Teint des jungen Richard Kühmayer hat die moderne Technik keine Gerechtigkeit zuteil werden lassen. Ich glaube, er kommt aber auch so noch gut genug weg…

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Gerade studiere ich dieses fast schon drama-tische Dokumentarfoto und stoße auf die merk- würdigen Details dieses
Reifenwechsel – zumal das Auto hinten ja ein- feurig die zur Bauzeit üblichen Wechselfelgen trug!
Diese “Mischbereifung” war ja nicht üblicher Standard und ist ein Hinweis auf die Moderni
sierung der alten “Schleuder” mit den brandneuen Vorder- rädern in Ganzstahlaus- führung auf denen diese
Noträder zu verwenden sind (dies Patent ist auch mir als Nachgeborenem
nicht geläufig gewesen bis dato).
Weiterhin konstatieren ich den etwas gewagt wirkenden Ansatz des Wagenhebers mit Wackel
-Klötzchen an der Vorder -feder! So steht’s nicht in den Handreichungen für Automobilisten….
Der junge Herr Kühmayer hält übrigens
in der rechten Hand ein
Werkzeug wie ich es von meinem Zoologen- Großvater erbte.
Es wird in alten Werkzeug- Katalogen “Autozange” genannt und man ahnt schon wo- zu es gleich dienen sollte: lösen der fest angezogenen Ventil- Schutzkappe.
Sie sind auch heute noch
ab und an bei ebay im Angebot.
Für Freunde von Geschichten aus der Frühzeit des Automobilis mus empfehle ich das über Österreich hinaus
wohl kaum bekannte Buch “Alte Autos – junge Frauen” von Dr. Albert Lorenz, Orthopäde wie sein berühmter Vater und 18 Jahre älterer Bruder des Verhaltens-
Forschers Konrad Lorenz, der in seiner Jugend übrigens 10 Jahre
Rennen auf seiner schweren Brough Superi-
or fuhr , was mit einem Kieferbruch endete und
ihm zu seinem charakte-ristischen Kinnbart ver- Half.
Sehr interessant, das war mir neu – besten Dank, Herr Billicsich!
Lieber Herr Schlenger,
wieder einmal ein sehr interessantes Bild mit viel Leben zu dem ich 2 Details ergänzen kann.
Das Reserverad ist ein “Stepney Wheel”. Es wurde mit den dreieckigen Befestigungen an dem luftlosen Rad angeschraubt und ermöglicht so ein rasches Weiterfahren bis zur nächsten Möglichkeit den Reifenschaden zu reparieren.
Die eine ländliche Zuschauerin hat ihren Schürzenzipfel wie es aussieht nach oben gesteckt. Sie ist nicht bei der Arbeit und macht Pause. Heute noch in Südtirol zu sehen wenn die Männer mit hochgesteckten Schürzenzipfel eine Pause machen.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Billicsich