Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich im Jahr 1934 und sind begeistert von der Idee, auf Autobahnen hohe Reisegeschwindigkeiten zu erreichen, anstatt sich auf Landstraßen und in Ortsdurchfahrten dem Ziel entgegenzuquälen.
Natürlich wissen Sie, dass die Idee der Autobahn bereits in den 1920er Jahren in Italien in den Köpfen Fortschrittsbegeisterter lebendig war. Tatsächlich entstanden in Norditalien bereits ab 1924 die ersten gezielt auf den Fernverkehr hin konstruierten Schnellverkehrswege.
Wer heute mit dem Kraftfahrzeug von Como Richtung Mailand unterwegs ist, wird die lange Gerade bemerken, auf der man über Lomazzo bis Linate fährt, bevor es auf die ebenfalls schnurgerade verlaufende Strecke geht, die von Varese kommend gen Südosten führt.
Diese frühen Autobahnen Italiens waren das Werk von Ingenieuren und Planern der Mussolini-Ära – die nebenbei großen Einfluss auf die deutsche Spielart des Faschismus hatte.
Während also der einschlägig bekannte österreichische Mussolini-Verehrer hierzulande das Autobahnnetz zur nationalen Aufgabe machte, waren dessen Anfänge bei den mit deutscher Arroganz verachteten “Spaghettifressern” längst in die Tat umgesetzt.
Nehmen wir nun an, Sie hätten die freie Wahl sowie das nötige Kleingeld und könnten sich 1934 für einen Wagen der 2,3 Liter-Klasse entscheiden, mit dem sie künftig auf der Autobahn allen anderen zeigen wollen, wo vorne ist.
Dann hätten Sie unter deutschen Fabrikaten nicht allzuviel Auswahl. Bei Hanomag aus Hannover bekämen Sie immerhin den “Sturm” mit 50 PS-Sechszylinder und Spitze 110 km/h:

Der Hanomag “Sturm” war zweifellos ein ausgezeichnetes Fahrzeug, was Zuverlässigkeit und Langlebigkeit angeht, auch sah er durchaus repräsentativ aus.
Doch würde man ihm keine Eleganz zusprechen, vielmehr verkörperte er ein gewisse Schwerfälligkeit, welche südlich der Alpen von jeher mit den Deutschen assoziiert wird.
Adler, Audi, BMW, Mercedes-Benz und Wanderer hatten 1934 in derselben Klasse rein gar nichts im Programm. Außergewöhnliches bot immerhin der Nischenhersteller Stoewer aus Stettin mit dem 2,5 Liter Achtzylindertyp “Greif V8”.
Vergessen Sie nun einfach alles, was ich bisher geschrieben habe. Denn was ich nachfolgend präsentieren kann, suchte anno 1934 vergeblich seinesgleichen und unterstreicht einmal die besondere Klasse italienischer Wagen der Vorkriegszeit:

Was wir hier vor prächtigen mehrstöckigen Palazzi in Lugano im italienischen Teil der Schweiz sehen, war im Jahr 1934 nichts weniger als eine Offenbarung.
Bei dieser sportlich anmutenden Limousine unternahm man keine ästhetischen Verrenkungen, um das Fahrzeug “windschlüpfig” zu machen – eine der Obsessionen von Autogestaltern zu einer Zeit, als der Treibstoffverbrauch völlig unerheblich war (in den USA) oder die Anschaffungskosten ein Automobil ohnehin zum Luxusgegenstand machten (in Deutschland).
Auch sonst meinte man nicht, sich äußerlich irgendwie auffällig geben zu müssen. Stattdessen sorgte man dafür, dass dieser Wagen einen Antrieb mit souveräner Leistungsentfaltung erhielt.
Das Ergebnis sorgfältiger Arbeit im Ventiltrieb sowie im Ansaugtrakt waren rund 70 Pferdestärken aus 2,3 Litern Hubraum, welche eine Spitzengeschwindigkeit von 130 km/h erlaubten.
Damit, liebe Leser, wäre man 1934 für die Anforderungen der in Deutschland noch in den Anfängen befindlichen Autobahnen gewappnet gewesen wie kaum ein anderer.
Doch vermutlich blieben dermaßen souveräne Wagen wie dieser Alfa-Romeo des Typs 6C 2300 meist südlich der Alpen. So blieb auch dieses Modell, dessen Ästhetik an einen auf den Leib geschneiderten Armani-Maßanzug erinnert, hierzulande unbekannt:

Ich habe eine Weile gebraucht, um diese Zweitürer-Limousine näher einordnen zu können. Meines Erachtens haben wir es mit der “Gran Turismo”-Ausführung des Alfa-Romeo 6C2300 zu tun.
Typisch sind die mittig abwärtsgeschwungene Vorderstoßstange, die seitlichen Kotflügel”schürzen” und die Luftklappen in der Motorhaube.
Mit diesem leistungsstarken und perfekt gestalteten Wagen wäre Ihnen anno 1934 nicht nur die linke Spur auf der Autobahn sicher gewesen, sondern auch die Aufmerksamkeit der Mitmenschen, wo immer auch Sie damit auftauchen.
Die folgende kurze Videosequenz mag ein wenig von der formalen Klasse dieses Alfa vermitteln, die seinerzeit ihresgleichen suchte…
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.