Der für mich attraktivste “Wanderer”, der je gebaut wurde, ist das 1933 eingeführte Sechszylindermodell W21/22 – zumindest in optischer Hinsicht.
Das Angebot zweier kleiner, noch dazu nahe beieinanderliegender Motorisierungen – 35 bzw. 40 PS bei 1,7 bzw. 2 Liter Hubraum – mutet in der Klasse zwar merkwürdig an (der günstigere Hanomag “Sturm” wartete in der Klasse mit 2,3 Liter und 50 PS auf).
Aber gestalterisch suchte der Wanderer am deutschen Markt seinesgleichen:

Kein anderer Wagen inländischer Hersteller bot eine derartig markante und zugleich dynamisch wirkende Frontpartie. Im ersten Produktionsjahr kam diese noch mit recht breiten, vielleicht ein wenig wuchtigen Kühlerstreben daher.
Diese wichen schon im zweiten Produktionsjahr einer filigraneren Ausführung, ohne dass die unverwechselbare Optik als solche verloren ging. Selbst auf der folgenden, sehr eigenwilligen Aufnahme entfaltet das “Gesicht” des Wanderer seine Wirkung:

Dieses bemerkenswerte Foto von Juni 1936, das mir Leser Klaas Dierks in Kopie zur Verfügung gestellt hat, zeigt übrigens das 40 PS-Modell W22 mit Cabriolet-Aufbau – der etwas schwächere W21 war serienmäßig nur als Limousine erhältlich.
Eine entsprechende geschlossene Ausführung sehen wir auf dem nächsten Dokument aus dem Jahr 1935.
Aufgenommen wurde dieser Wagen in der Nähe von Nürnberg, wohl an einer Tankstelle, die neben einer Eisenbahnbrücke gelegen war, nicht gerade der beste Fotohintergrund:

Die beiden elegant gekleideten Damen hießen übrigens Inge und Gretel, so ist es auf der Rückseite des Abzugs vermerkt.
Ohne das geflügelte “W” auf dem Kühler wäre die Ansprache dieses Autos als Wanderer nicht so einfach gewesen – wobei die beiden Reihen schrägstehender Luftschlitze in der Motorhaube schon recht typisch sind und auf einen W21/22 hindeuten.
Dass dieses Fahrzeug ebenfalls aus dem zweiten Produktionsjahr 1934 stammt, ist an den feinen Kühlerstreben zu erkennen, von denen man gerade noch genug erkennt.
Ansonsten hatte sich bei der Limousine äußerlich nichts geändert, sodass man denselben Wagen auf dieser zweiten Aufnahme ebenso auf 1933 hätte datieren können:

Auf diesem zweiten Foto kann man trotz leichter Verwackelung gut erkennen, wie der Schwung des Vorderkotflügels sich im Trittbrett fortsetzt – solche gestalterischen Finessen finden sich an anderen deutschen Mittelklassewagen jener Zeit kaum.
Ein für die Unterscheidung von W21 und W22 aus dem Jahr 1934 wichtiges Detail findet sich auf der folgenden Aufnahme einer weiteren Limousine.
Dort ist der Vorderkotflügel seitlich weiter nach unten gezogen. Diese Kotflügel”schürze” gab es nur beim W22:

Diese Aufnahme bietet auch unabhängig von modellspezifischen Feinheiten eine Fülle von Details, welche aus einem Autofoto letztlich ein Zeugnis vergangenen Lebens machen.
Bemitleidenswert erscheint der gut gekleidete Herr auf dem Trittbrett, der offenbar ungesundes fetthaltiges Essen bevorzugte. Er schaut auch nicht sonderlich glücklich drein.
Ganz anders die beiden gut aufgelegten jungen Männer hinter dem Wanderer – von denen der rechte ein Soldat der Wehrmacht war, wie Kragenspiegel und Schulterklappen verraten.
Am besten gefallen mir aber die beiden Herren links. Der eine mit der ungezügelten Haarpracht, auf der man sich nur schwer einen Hut vorstellen kann, fixiert uns mit leicht hochgezogener Augenbraue – fast ein wenig spöttisch.
Sein Nachbar mit Schirmmütze, wohl der Fahrer des Wanderer, hat es sich auf einem Puppenwagen bequem gemacht – der von bemerkenswerter Stabilität gewesen sein muss. Er scheint den Fotografen nicht zu bemerken und scherzt mit seinem Hund.
Was soll man sich mehr wünschen als ein solches, vor Leben nur so strotzendes Autofoto? Dagegen verblasst selbst ein ungewöhnliches Dokument wie das folgende:

Hier haben wir ein von der Karosseriemanufaktur “Gläser” aus Dresden gefertigtes bildschönes Vierfenster-Cabriolet auf Basis des Wanderer W22 von anno 1934. Entsprechend lautet die Beschreibung in der “DDAC Motorwelt” vom März jenes Jahres.
Wie wir bereits gelernt haben, waren nur vom stärkeren W22 solche Cabriolet-Versionen erhältlich und die oben erwähnte Kotflügelschürze bestätigt das Baujahr 1934.
Trotz der ungewöhnlichen Aufnahmesituation finde ich solche Werksfotos immer etwas steril.
Ich bevorzuge Fotos aus dem Alltag, zu dem auch der Einsatz solcher Wagen im 2. Weltkrieg gehörte – hier eine Aufnahme aus Polen aus der Anfangsphase des Kriegs:

“Auf der Fahrt nach Warschau” so steht auf der Rückseite des Abzugs. Ganz links haben wir einen jungen Polen, der sich irgendwie mit den deutschen Besatzern arrangiert hatte.
Vor dem Wanderer in der Ausführung als Cabriolet – ein Wanderer W22 von anno 1934 – sehen wir von links nach rechts: einen Offizier (erkennbar an den silbernen Schulterstücken und der Ausführung des Koppelschlosses), dann einen Kradmelder mit Gasmaskenbüchse vor der Brust, neben ihm zwei Infanteristen und ganz rechts einen älteren Unteroffizier, der sich seinen Orden wohl als junger Mann im 1. Weltkrieg erworben hatte.
Diese Aufnahme ist trotz vordergründig friedlicher Situation beklemmend. Wir wissen, was die deutsche Kriegsführung und die Verfolgung jüdischer Bürger in Polen angerichtet haben.
Dennoch verdient der einzelne Kriegsteilnehmer, der im Regelfall Wehrpflichtiger ohne eine echte Wahl war, in Abwesenheit eindeutiger Anzeichen erst einmal die Vermutung, dass er sich ehrenhaft und menschlich verhalten hat, soweit das im Krieg möglich ist.
Das ändert nichts am Befund, dass die empörenden Verbrechen auf deutscher Seite von irgendjemandem begangen worden sind – und die Banalität des Bösen (nach Hannah Arendt) will es, dass man es dem Menschen nicht ansieht, wozu er fähig ist.
Der Doppelgesichtigkeit jener Zeit gilt es sich ohne falsche Scheu und Einseitigkeit des Urteils zu stellen, auch wenn man sich auf den ersten Blick nur mit den damaligen zivilen Automobilen befasst, die zehntausendfach selbst Kriegsteilnehmer wurden.
Nach dem Inferno galt es, die Not der Wiederaufbaujahre zu überwinden. Die Vorkriegsautos, die zuvor an der Front unter Bedingungen zum Einsatz gekommen waren, für die sie nicht konstruiert worden waren, stifteten nun jahrelang einen nicht zu überschätzenden Nutzen.
Das galt auch für die eleganten Sechszylindermodelle W21/22 von Wanderer, die sich wie ihre Besitzer auf gänzlich neue Bedingungen einstellen mussten:

Hier sehen wir einen Wanderer W21 von 1934 am Ende seiner Karriere. Umgebaut zum Pritschenwagen in der frühen Nachkriegszeit hat er von seiner Ausstrahlung nichts eingebüßt.
Die Besitzer dieses Autos, das im Raum Angermünde im sowjetisch besetzten Ostdeutschland zugelassen war, wussten genau, was sie an ihrem wackeren Wanderer hatten und ließen die nächste Generation (wieder mit Hund) davor posieren.
Dieser Wagen war in jeder Hinsicht besser als alles, was die von sozialistischer Planwirtschaft strangulierte Autoindustrie der DDR in den nächsten 40 Jahren zustandebekommen sollte.
So wurden solche Autos im Alltag gefahren, solange es noch Verschleißteile gab, bis in die 1960er Jahre hinein, teilweise noch länger wie in den “Bruderländern” des Warschauer Pakts.
Erst am Ende dieser Karriere war den überlebenden Vorkriegsfahrzeugen ein weiteres Dasein als Liebhaberfahrzeug vergönnt. Für manche – speziell im Westen – endete das Autoleben jedoch bereits weit früher.
So will ich diesen Abriss mit einem besonderen Dokument beschließen. Es stammt aus Österreich von jemandem, der nicht namentlich genannt werden will und 2020 in einem See das hier entdeckt hat:

Ich konnte das Autowrack auf dem Seegrund als sechsfenstrige Wanderer-Limousine des Typs W22 identifizieren. Sie wurde anfänglich von Hornig, später vom Horch-Werk in Zwickau gefertigt. Der W21 war dagegen nur mit vier Fenstern erhältlich.
Auch so konnte die Karriere dieser Sechszylinder-Wanderer enden – und wir gönnen ihm in der Gewissheit, dass die einstigen Insassen seinem Schicksal entronnen sind, am Ende der Karriere die ewige Ruhe in der kühlen Tiefe…

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Guter Hinweis, danke! Mein Peugeot 202 wurde ebenfalls bereits ab Werk als Pritschenwagen geliefert.