Kutsche oder Kunstwerk? Benz Kettenwagen um 1905

Es ist wieder einmal an der Zeit, in die wirkliche Frühzeit des Automobils einzutauchen. Je bizarrer mir das aktuelle Zeitgeschehen vorkommt, desto wohltuender ist das.

Genügt es dazu, die Zeitmaschine auf “110 Jahre retour” einzustellen? Schauen wir einmal, was wir dann in Sachen Automobil geboten bekommen:

Benz 10/30 oder 16/40 PS Chauffeurlimousine, um 1913; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser Benz wurde im Juni 1914 in Itzehoe aufgenommen und dürfte kaum früher als 1913 entstanden sein – dafür sprechen die elektrischen Parkleuchten im “Windlauf” vor der Windschutzscheibe.

Das Fahrzeug entspricht bereits ziemlich genau dem, was man sich unter einem Auto vorstellt, nicht wahr? Gewiss, die noch freistehenden Kotflügel sind eine Spezialität der Vorkriegszeit, aber kurioserweise heißen sie immer noch so.

Ansonsten ist alles dort, wo man es erwartet, sieht man einmal von der Rechtslenkung ab. Der hohe Aufbau bietet genau den Komfort beim Ein- und Aussteigen, der heute wieder geschätzt wird – die Autobesitzer werden ja nicht jünger.

Kutsche oder Kunstwerk?” – Diese Frage stellt sich hier offenbar nicht. Also kehren wir in die Gegenwart zurück und justieren unsere Zeitmaschine noch einmal neu. Diesmal stellen wir sie auf “125 Jahre retour” und schauen, was passiert:

Benz-Reklame von 1898; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Verflixt, nur 15 Jahre Unterschied und wir scheinen im Kutschenzeitalter gelandet zu sein – allerdings ohne Pferde, dafür mit Benzinmotor nach Patent von Carl Benz anno 1898.

Wie kann es in so kurzer Zeit einen solchen Entwicklungssprung gegeben haben? Auf die Gegenwart übertragen wäre das so, als habe Tesla anno 2008 gerade einmal ein elektrisches Golf-Car gebaut. Tatsächlich wurde damals bereits das Model S entworfen, welches nach 15 Jahren immer noch gebaut wird. Soviel zum Thema Fortschritt heutzutage.

Irgendetwas muss damals radikal anders gewesen sein. Zum einen arbeiteten einst tausende Erfinder und Unternehmer auf eigene Faust an der Weiterentwicklung des Benziners, zum anderen redeten ihnen keine Politiker hinein.

Wenn es damals schon den EU-Bürokratenadel gegeben hätte, würden wir immer noch mit der Pferdekutsche fahren und Autos gäbe es bestenfalls für Funktionäre. Eine erschreckende Vision, man stelle sich das Gleiche für Kühlschränke oder Telefone vor.

Unsere Altvorderen haben auch viel Mist gebaut, aber sie wussten zumindest, was Sie besser dem Markt überlassen (so ziemlich alles, außer Militär und Bildungswesen).

Also geben wir uns zuversichtlich, stellen unsere Zeitmaschine nochmals neu ein – diesmal auf das Jahr 1905 – genau in die Mitte des bisher betrachten Zeitraums, et voilá!

Benz Kettenwagen um 1905; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Ist das nicht eine faszinierende Schöpfung? Die hintere Hälfte noch Kutsche, die vordere schon erkennbar Automobil, wenn auch noch wie angesetzt wirkend.

Diese Kreation irritiert und fasziniert – genau das macht ein gelungenes Kunstwerk aus. Es befördert uns aus dem Alltag heraus und lässt uns auf eine Entdeckungsreise durch die Assoziationen gehen, die sich bei seinem Anblick einstellen.

Die Heckpartie transportiert uns zurück ins 19. Jh. und noch weiter in die Vergangenheit:

Lediglich die Luftreifen, die Bremstrommel und der Kettenantrieb (zwischen Rad und Trittbrett sichtbar) deuten auf die technische Neuzeit hin.

Alles übrige, einschließlich der Blattfedern an der Hinterachse, ist über Jahrhunderte gewachsene Tradition.

Die Formen und Verzierungen des Passagierabteils sind ebenfalls Ergebnis über Generationen gepflegten kunsthandwerklichen Könnens.

Ob der vertikale Streifendekor eine Zutat des Jugendstils ist, also der zum Entstehungszeitpunkt des Wagens vorherrschenden gestalterischen Richtung, sei dahingestellt.

Jedenfalls haben wir es hier mit einem Element zu tun, das noch dem Kutschenzeitalter zuzuordnen ist. Wo aber bleibt die Kunst bei alledem?

Nun, die besteht aus meiner Sicht in der spannenden Kombination mit dem Maschinenzeitalter, das sich am Vorderwagen durchgesetzt hat:

Hier überwiegt noch das Diktat der funktionellen Gestaltung. Die gelungene ästhetische Verbindung zwischen Motorraum und Passagierraum lag zum Entstehungszeitpunkt noch in der Zukunft – etwa drei Jahre, schätzungsweise.

Wie komme ich auf eine so genaue Einordnung?

Nun, dieser prächtige Chauffeurwagen – ein “Außenlenker” hätte man einst gesagt – lässt sich anhand der Gestaltung der Luftschlitze in der Motorhaube und der Form des Kastens über dem vorderen Kettenritzel als Benz aus der Zeit zwischen 1905 und 1908 identifizieren.

Vergleichsfotos gibt es in der Literatur beklagenswert wenige – es ist verstörend, dass es kein inhaltlich erschöpfendes und umfassend bebildertes Standardwerk zu frühen Benz-Autos gibt.

Doch in den immer noch unersetzlichen alten Schinken von Heinrich v. Fersen und Halwart Schrader zu deutschen Vorkriegsautos bis 1920 finden sich passende Prospektabbildungen von Benz-Kettenwagen jener Zeit.

Wer es genauer weiß, möge uns das über die Kommentarfunktion kundtun. Was den Typ angeht, will ich mich selbst nicht festlegen, eigentlich ist es auch egal.

Denn was nach so langer Zeit bleibt, ist der Eindruck, dass man bei den ganz frühen Automobilen kaum sagen kann, ob es sich um eine motorisierte Kutsche, ein expressives Kunstwerk oder beides handelte.

Wir kehren zur reinen Bewunderung dieser Zeugen zurück und belassen es bei der Feststellung, dass diese phänomenalen Schöpfungen menschlichen Erfindungsgeists und Schönheitssinns am Anfang einer Entwicklung standen, die eine Bewegungsfreiheit für jedermann ermöglichte, welche es in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hat.

Wir müssten verrückt sein, uns das wieder nehmen zu lassen…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

3 Gedanken zu „Kutsche oder Kunstwerk? Benz Kettenwagen um 1905

  1. Einen herzlichen Dank an Michael Schlenger für einen wieder sehr gelungenen Beitrag und einen neidlosen Glückwunsch an den Sammlerkollegen Matthias Schmidt für das tolle Foto!
    KD

  2. Alles richtig, natürlich!

  3. Nun ja, da haben Sie leider einen Zwischenschritt übersprungen: als man vom Auf-und-ab der Kutsche abging, mit Trägern und Bodenplatte radikal begradigte, Achsen drunter schraubte und das dann “Chassis” nannte. Da war wenig Platz, der 1-2-Zyl-Motor und 2 Sitze und dann war alles voll. Deshalb die Tonneau-Karosse mit dem hinteren Mitteleinstieg, mit den ersten 4-Zyl-Reihenmotoren baute man “Nasenbären”, wo der Motor nach vorn herausragte (De Dion).
    Dann wagte man es, den Radstand radikal zu verlängern, das Ganze niedriger zu legen und gelangte zu der Zwischenlösung wie z.B. des Benz-Kettenwagens, wo Kutsche und Technik “aneinandergeklebt” erscheinen.
    Aber man war auf dem richtigen Weg !

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