Wer die Evolution studiert – die der Lebewesen allgemein oder auch die der menschlichen Gattung im Speziellen – wird eines sicher feststellen: Es ging immer weiter, aber nicht immer zwangsläufig vorwärts.
Da gab es stets auf’s Neue Rückschläge, Stillstände, Renaissancen und Sackgassen. So stellt auch die Gegenwart nicht zwangsläufig in jeder Hinsicht die beste aller Welten dar.
Mein heutiger Zahnarztbesuch hat mich daran erinnert, dass die Methoden der Moderne auf diesem Sektor unbedingt allem je Dagewesenen vorzuziehen sind.
Auch die jederzeitige Verfügbarkeit selbst der entlegensten Musik in hervorragender Qualität zähle ich zu den großartigen Privilegien unserer Zeit. Während ich das schreibe, läuft im Hintergrund die wohl nur Spezialisten bekannte Oper “Farnace” des zu Unrecht von manchem als seicht angesehenen Antonio Vivaldi.
Um in diesen Genuss zu kommen, hätte man einst einer hauchdünnen Schicht gehören müssen, die sich den Besuch im Opernhaus leisten konnte. Und selbst dann wäre anschließend das Erlebnis nicht beliebig wiederholbar gewesen.
Die Evolution quasi im Rückwärtsgang nachvollziehen zu können – durch gezielte Reisen in die Vergangenheit, auch das ist einer der Vorzüge des Hier und Jetzt. So kann man zeitgenössische Automobile als zwar nützlich, aber meist reizlos ansehen und sich stattdessen den wirklich spannenden Entwicklungen aus früherer Zeit widmen.
Die automobile Evolution quasi in umgekehrter Richtung zu betrachten, das hat seinen Charme, selbst wenn man nicht die Gefährte der Gegenwart mit ihren sich jeder Beschreibung entziehenden Formen als Ausgangspunkt nimmt.
So wählen wir als Vergleichsstück heute ein Vorkriegsmodell, das vor bald 100 Jahren gebaut wurde und das uns dennoch am Ende ziemlich modern vorkommen wird, hat man einmal seinen kaum zehn Jahre älteren Vorgänger kennengelernt.
Treue Leser meines Blogs erinnern sich vielleicht an diesen prachtvollen Metallurgique “deux litres” von ca. 1925:

Dieses sportlich anmutende Exemplar des belgischen Traditionsherstellers begeistert mit seinen verschwenderischen Formen. Das nicht gerade kleine und bis zu 120 km/h schnelle Auto ist hier als Zweisitzer karossiert – ein Notsitz mag sich unter der Persenning verbergen.
So etwas war erkennbar ein reines Spaßmobil, und das musste man sich erst einmal leisten können. Wer das nötige Kleingeld für soviel Unvernunft hatte, dürfte daneben auch über ein mehrsitziges Fahrzeug verfügt haben, vielleicht sogar einen Chauffeur.
Im Vergleich zum “2 litres” von Mitte der 1920er Jahre wirkt ein gerade einmal zehn Jahre älterer Metallurgique (Porträt hier) nicht annähernd so rassig – er gehört erkennbar noch einer früheren Entwicklungsstufe an:

Zwar ist dieses Foto erst 1921 entstanden, aber die Gestaltung (einschließlich der Gasscheinwerfer) weist noch klar auf die Zeit direkt vor dem 1. Weltkrieg hin. Die einzige Gemeinsamkeit ist das markentypisch geformte Kühlergehäuse.
Natürlich kann der konventionelle, aber dafür geräumige Tourenwagenaufbau des früheren Exemplars nicht mit den schnittigen Linien des späteren “2 litres” mithalten. Insofern ist der Vergleich ein wenig unfair.
Doch Leser Klaas Dierks hat mir aus seiner Sammlung eine Aufnahme in digitaler Form zur Verfügung gestellt, die gewissermaßen “Waffengleichheit” herstellt.
So gab es von dem Metallurgique aus der Zeit direkt vor dem 1. Weltkrieg ebenfalls einen sportlich anmutenden Zweisitzer, und den schauen wir uns nun an, um die Evolution quasi im Rückwärtsgang nachzuvollziehen:

Auf den ersten Blick wirkt der Wagen vollkommen anders als in der zuvor gezeigten Tourenwagenausführung. Aber vergleichen Sie einmal die Frontpartie bis zum Ansatz der Windschutzscheibe – in allen wesentlichen Details und auch von den Proportionen identisch!
Mag sein, dass der Radstand hier etwas geringer ist, aber entscheidend für die eigenständige Wirkung ist der klar auf zwei Insassen beschränkte Innenraum. Dahinter gibt es keine Notsitze, sondern wohl ein Fach für Gepäck und Werkzeug.
Insofern ist diese Variante noch radikaler auf den alleinstehenden Sportsmann oder bestenfalls das alleinreisende Paar zugeschnitten.
Die Existenz solcher Extravaganzen neben alltäglichen, eher von Notwendigkeiten diktierten Standards ist es, was eine Zivilisation faszinierend macht. Das lässt sich am Automobil besonders eindrucksvoll nachvollziehen.
Insofern stimmt es nachdenklich, wenn gut motorisierte und auf Effekt hin gestaltete Zweisitzer in unseren Tagen Mangelware werden. Beispielsweise stellt Mercedes den schicken SLK (zuletzt SLC) ein, der über 20 Jahre lang so viele Liebhaber fand.
Gern denke ich auch den kompakten Fiat Barchetta zurück, in dem mich meine einstige Nachbarin bisweilen nach Frankfurt zur Arbeit mitnahm. Solche Wagen sind inzwischen kaum noch zu sehen, nur Mazda hält mit dem knackigen MX-5 die Fahne hoch.
Er läutete vor über 30 Jahre die Renaissance des Roadsters ein und seine Geschichte lehrt uns, dass auch die Autogeschichte in Zyklen verläuft – es geht immer weiter, aber nicht immer vorwärts. Manchmal ist Evolution im Rückwärtsgang eben die reizvollere Variante…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.