Die Geschichte deutscher Vorkriegswagen ist alles andere als ein abgeschlossenes Kapitel. Eigentlichh sollte man meinen, dass inzwischen längst alle bedeutenden Hersteller eine umfassende Würdigung in der gedruckten Literatur oder im Netz erfahren haben.
Weit gefehlt – die Lücken sind eklatant, und das sogar bei einst international renommierten Makren wie Adler aus Frankfurt am Main. Warum niemand die Herausforderung annimmt, verstehe ich nicht, zumal das Bild bei ausländischen Fabrikaten ganz anders aussieht.
Zudem erweist sich bei näherer Betrachtung, dass angebliche Nischenhersteller einst doch eine weit größere Präsenz entfalteten als gedacht. Die Automobile aus dem Bielefelder Dürkopp-Konzern sind so ein Fall.
Zwar lief die kurz vor 1900 begonnene Wagenproduktion eher nebenher, doch scheinen die Stückzahlen nach dem 1. Weltkrieg doch ein achtbares Niveau erreicht zu haben.
Anders kann ich mir es nicht erklären, dass mir inzwischen jede Menge zeitgenössischer Fotos dieser Autos mit dem markanten Spitzkühler aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre vorliegen, nicht zuletzt dank befreundeter Sammler.
Dieses Exemplar kennen regelmäßige Blog-Leser sicher schon:

Diese reizvolle und technisch hervorragende Aufnahme aus dem Fundus von Leser Klaas Dierks soll uns heute als Referenz dienen, wenn wir uns anhand eines weiteren Exemplars desselben Typs der “Magie des Augenblicks” widmen, welche diesen Zeugen innewohnt.
Sehr wahrscheinlich haben wir es mit dem häufig anzutreffenden Vierzylindertyp P8 8/24 PS zu tun, welcher ab 1919 gebaut wurde, bis er 1924 vom Nachfolger P8A 8/32 PS abgelöst wurde, der nicht nur deutlich stärker war, sondern nun auch Vorderradbremsen besaß.
Während der recht langen Produktionsdauer müssen sich einige Änderungen auch optischer Natur ergeben haben – so kann prinzipiell jeder auf solchen alten Fotos festgehaltener Augenblick wertvolle Hinweise liefern.
Halten wir zunächst einige Besonderheiten des oben gezeigten Dürkopp fest: Der Kühler ist in Wagenfarbe lackiert, die Motorhaube weist sieben seitliche Luftschlitze auf und die Gestaltung der Frontscheibe folgt noch Vorbildern aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg.
Ich würde diesen Dürkopp daher als eher frühen Vertreter des Typs P8 8/24 PS ansehen. Die späteren Versionen (hier evtl. schon mit Spezifikation P8A 8/32 PS) wirken weit moderner:

Auf dieser Aufnahme aus meiner Sammlung bemerkt man vor allem die neu gestalteten schmalen Luftschlitze, die andere Ausführung der Frontscheibe und die äußerst schlichte Ausführung des oberen Karosserieabschlusses, der beinahe unfertig wirkt.
Es liegt nahe, dass es in punkto Gestaltung etwas zwischen diesen beiden Dürkopp-Wagen mit dem 2,1 Liter-Vierzylinder gegeben haben muss. Doch dafür bedarf es der Magie des Augenblicks, in dem einst jemand etwas Derartiges fotografisch festgehalten hat.
Vor kurzem meinte Fortuna es dann gut mit mir dieser Hinsicht. Als ihr Sendbote fungierte Dr. Siegfried Roth aus Rüsselsheim, der mir ein Foto aus Familienbesitz in digitaler Form zusandte, von dem er wusste, dass es einst bei einem Ausflug in den Taunus entstand.
Er hatte auch bereits bemerkt, dass meine Dürkopp-Galerie bislang kein solches Modell enthielt und so bin ich ihm doppelt dankbar.
Und jetzt genießen Sie eine weitere Dürkopp-Spitzenaufnahme aus Idealperspektive in perfekter Belichtung und hervorragender Schärfe:

Großartig, nicht wahr? Fast meint man, der Situation selbst beizuwohnen, es fehlt bloß die Farbe darin.
Tja, das ist die Magie des Augenblicks – festgehalten von Könnerhand, sorgsam aufbewahrt über fast 100 Jahre und in unseren Tagen wieder ans Licht gebracht. Beinahe vergnügungssteuerpflichtig sind solche Sachen, und ich hoffe, Sie wissen es zu schätzen, dass hier kostenlos (für Sie) dergleichen Ausnahmefunde präsentiert werden.
Was ist nun so außergewöhnlich an diesem Dürkopp? Den Proportionen der Frontpartie nach zu urteilen, haben wir es wieder mit einem Vertreter des Vierzylindertyps P8 8/24 PS zu tun.
Aber: Eine solche leicht schrägstehende und leicht gepfeilte Windschutzscheibe habe ich noch nie an einem Dürkopp gesehen.
Kurioserweise finden sich die nur vier Luftschlitze ausgerechnet an deutlich früheren Exemplaren, wie sie in meinem Originalprospekt von Dürkopp von Anfang der 1920er Jahre abgebildet sind, hier aber noch mit der erwähnten archaisch anmutenden Frontscheibe:

Was ist davon zu halten? Ich meine, dass wir es auf dem Foto, das uns Dr. Roth zur Verfügung gestellt hat, mit einem Dürkopp P8 zu tun haben, der ein Zwischenstadium repräsentiert.
Die am Heck stark nach innen gezogene Karosserie ist typisch für die frühen 20er Jahre, während die sportlicher gestaltete Windschutzscheibe eine Neuerung darstellen könnte, die auf eine schrittweise Weiterentwicklung während der Produktion hindeutet.
Auch die Blechabdeckung der vorderen Rahmenausleger findet sich so nicht bei frühen Exemplaren. Dergleichen Anpassungen ließen sich bei der reinen Manufakturproduktion natürlich leicht vornehmen, welche bei Dürkopp praktiziert wurde.
So sind wir hier wahrscheinlich Zeuge eines Augenblicks in der Evolution des Typs P8 8/24 PS auf dem Weg hin zu seinem Nachfolger P8A 8/32 PS.
Doch die im Titel erwähnte Magie des Augenblicks zeigt sich in einem ganz anderen Detail. Wer meinen Blog schon länger verfolgt, der weiß, dass mich die menschliche Komponente mindestens ebenso fasziniert wie der automobile Aspekt.
Und seien Sie ehrlich: Was könnte uns Menschen mehr fesseln als dieser Augenblick?

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Gute Idee, Herr Schmidt! Durchaus möglich, aber wir finden diese äußert schlichte Gestaltung ab etwa Mitte der 1920er Jahre bei vielen deutschen Tourenwagen – wohl eher Ausdruck des funktionellen Zeitgeists, wie er sich auch in der Architektur breitmachte. Dennoch könnten Sie in dem konkreten Fall recht haben, genau wird sich das wohl nicht klären lassen. Beste Grüße, M. Schlenger
Guten Tag Herr Schlenger,
nur so eine Idee: Könnte es sein, dass der obere Karosserieabschluss des Dürkopp PSA 8/32 deshalb so schlicht gehalten ist, weil es dazu einen Limousinenaufsatz gab? Die Windschutzscheibe lies sich wohl auch recht einfach abbauen.
Besten Dank, Herr Weigold! In der Tat sollte der P8A 8/32 PS über Vorderradbremse verfügen, tut es hier aber nicht. Mag sein, dass es sich um ein Zwischenstadium handelt. So wie sich bereits Vorderradbremsen an Typen finden, die “eigentlich” noch keine haben sollten, kann es auch bei einem überarbeiteten Typ noch eine Weile Elemente des Vorgängers gegeben haben (wie mein Landrover Serie III aus den allerersten Produktionswochen). Letztlich wissen wir aber noch zuwenig über diese Dürkopp-Modelle. Ein guter Hinweis betrifft auch die Scheibenformen – da gab es natürlich ebenfalls Varianten, aber es fällt auf, dass dies der erste Dürkopp überhaupt mit einer solchen gepfeilten Scheibe ist, während diese bei zeitgenössischen Konkurrenten (Opel, Stoewer) weit öfter vorkam bzw. sogar teilweise Standard war. Noch zur Buchproduktion: Publiziert wird immer für den Markt und unter Marktbedingungen (wie auch sonst?). Die sorgfältigen Werke deutscher Autoren der Vergangenheit spiegeln schlicht einen anderen Anspruch und eine andere Interessenlage hierzulande wider. Am englisch- und französischsprachigen Markt wird munter in hervorragender Qualität zu Vorkriegsmarken weiterpubliziert – an den stets zu beachtenden rationalen Wirtschaftlichkeitserwägungen liegt es also nicht, eher am allgemeinen Desinteresse und mangelnden Qualitätsbewusstsein, das unser Land auch in anderen Bereichen immer weiter zurückfallen lässt (Stichworte: Digitalisierung, Schienenverkehr, Energierversorgung, Bildungsstandards…). Zum Glück gibt es aber auch in D’land immer noch einige Enthusiasten, die zu Nischenthemen im Selbstverlag publizieren, um auch einmal etwas Positives zu sagen.
Trotz der wiedermal beeindruckenden Qualität der gezeigten Photographien, so möchte ich sie mal nennen – in ehrendem Angedenken der Könner am Auslöser – ein paar Anmerkungen zum heutigen Thema.
Es fällt auf:
Der Widerspruch der im Text eingeführten Vierradbremse beim Typ 8/32 PS und die eindeutige “Bremslosigkeit” des als deutlich moderner gezeigten Wagens als Typ 8/ 32 auf Bild 2.
Die in tiefem Ernst vor der Linse verharrende Reisegesellschaft im letzten Wagen (ob hier noch die kategorisch Aufforderung
“stillgehalten” ursächlich für die
Erstarrung der Gesichtszüge war?) Auf Bild 1 zeigte man sich deutlich entspannter !
Zu der Windschutz- “Kalamität”:
Wer schon mal die umfangreichen Ausrüstungs- und Zubehörkataloge jener Tage durchstudiert hat (in meinem Fall war es ein Exemplar aus 1913) weiß, daß auch die verschiedensten Windschutz- Scheiben damals in dieser Kategorie geführt wurden.
Sie waren mithin Gegenstand der Verkaufsgespräche mit der hochmögenden Kundschaft und stellten gleichzeitig ein Betätigungsfeld für die Erfinder und “Verbesserer” jener Tage dar.
Spätestens seit Erfindung der gepfeilten “Sportschribe” spielten neben der stabileren Dreipunkt- Befestigung des Scheibenrahmens auch modische Aspekte eine Rolle!
Noch ein Wort zur wiederholt
beklagten mangelnden Aufarbeitung der deutschen Auto- Historie:
Wie auch unserem doch so kapitalismus- affinen Blogwart bekannt sein dürfte ist der heutige Buchmarkt wohl mehr denn je von den zum Geschäftsprinzip erhobenen
Wirtschaftlichkeitserwägungen
abhängig. Dies führt logischerweise zum Bildband
” Die tausend schönsten Klassiker” im Vierfarben- Tiefdruck.
Eine seriöse enzyklopädische Aufarbeitung der “Geschichte des Automobils” bzw. einzelner Fachgebiete oder Firmen- / Markengeschichten jedoch bedeutet (zwangsläufig) jahrzehntelanges Engagement
und akribische Forschertätigkeit des/ der Autors/en !
Auch der Verzicht auf die kostenintensive Tätigkeit des Lektors in diesem Marktsegment sorgt heute für oberflächliche von oft wenig kompetenten Autoren zusammengehauene Machwerke. Gerade die führenden Verlage der Motorpresse gehen hier mit schlechtem Beispiel wacker voran….