Erst kürzlich fragte ich an dieser Stelle “Wo geht’s hier zum Sommer?“. Jetzt ist er ohne Zweifel da, auch wenn die angedrohten “Tropennächte” auf die Tropen beschränkt bleiben.
Es ist nach Mitternacht, drinnen ist’s nach vielen Sonnenstunden noch wärmer als draußen. Bis sich das wieder einregelt, macht man alle Fenster auf und legt eine Platte auf. Ja die gibt’s immer noch, genauso wie Kerzen, Violinen oder Olivenöl.
Der Fortschritt ist eine feine Sache, wenn man ihn als Angebot versteht, das sich am Bewährten und Gewohnten zu messen hat. Der Lebenskünstler prüft alles, was die Menschheit irgendwo und irgendwann geschaffen hat und entscheidet, was ihm zusagt.
So gesehen, aber auch nur so gesehen, leben wir in den besten aller Zeiten. Passt uns das neureligiöse Verzichts-Spießertum der Gegenwart nicht, können wir ja nach Belieben in Welten auswandern, in denen das Leben hemmungslos gefeiert wird.
Ich habe keine Idee, was es Mitte der 1920er Jahre zu feiern gab, als diese Aufnahme entstand, aber vielleicht können wir etwas davon lernen::

Was geht hier vor sich? Haben Sie eine Idee?
Mir gefällt jedenfalls dieses automobile Treiben mit geschmückten Wagen, elegant gekleideten Frauen in gewagten Posen (gemessen an modernen Sicherheitsstandards) und hilflos dazwischen herumstehenden düsteren Gestalten.
Vor allem gefällt mir die Besatzung des Tourenwagens im Vordergrund, den ich als Dodge des Modelljahrs 1925/26 ansprechen würde.
Von der Laune der Insassen lässt man sich doch gerne anstecken. Wer würde hier ängstlich die CO2-Emissionen kalkulieren und “sinnlose” Fahrten konstatieren?

Wer weiß etwas zu dem Kennzeichen dieses Fahrzeugs? Wo könnte dieser Korso gut gelaunter Zeitgenossen einst stattgefunden haben?
Ich würde auf ein Land ohne nennenswerte eigene Autoindustrie tippen, eventuell eines in Skandinavien oder in Osteuropa.
So der so gab es etwas zu feiern, als vor bald 100 Jahren jemand auf den Auslöser drückte. Die Probleme jener Zeit waren zweifellos andere, gravierendere als die derzeit propagierten.
Eine warme Sommernacht wäre da nicht als Bedrohung empfunden worden, sondern als willkommener Kontrast zu dem, was in mitteleuropäischen Breiten die Hälfte des Jahres an Wettermisere üblich ist.
Bald ist es ein Uhr nachts, gerade hat es geregnet – war gar nicht “angesagt”.
Die Platte mit Cecilia Bartolis Vivaldi-Album noch einmal umgedreht – in der Hinsicht findet sich immer einen Anlass zu feiern. Morgen beginnt eine neue Arbeitswoche, doch mit so einem schönen Dokument aus alter Zeit hat das Hier und Jetzt ausnahmsweise Vorrang…
Nachtrag: Der Aufnahmeort war laut João Pedro Gazineu die Avenida Rio Branco in Rio de Janeiro (Brasilien). Der “Corso Carnavalesco” war von den 1910er bis in die 1920er Jahre populär. DF auf dem Nummernschild steht für “Distrito Federal”. Also da, wo es echte Tropennächte gibt und das Leben tobt…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Wie sich ergeben hat, war es eine brasilianische Zulassung und der Foto ist beim Karneval in Rio entstanden!
Besten Dank, sehr interessant – darauf wäre ich nicht gekommen. Schauen wir, ob es noch weitere Meinungen gibt. Mir sind diese Kennzeichen jedenfalls völlig fremd.
Guten Tag Herr Schlenger,
ich bin zwar kein Kennzeichen-Spezialist, möchte aber bei diesem Foto Portugal ins Spiel bringen. Der Wagen schräg hinter dem Dodge trägt im Kühler ein Kreuz, wie es auch heute noch als Hoheitsabzeichen portugiesischer Militärflugzeuge dient. Und in dieser Zeit hatten die Kennzeichen in Portugal weiße Schrift auf schwarzem Grund. Ich lasse mich aber gerne anderweitig belehren.
Gruß Joachim Schmidt