Wem der Titel meiner heutigen Bildergeschichte ein wenig abenteuerlich erscheint – “Durch’s wilde Kurdistan” von Karl May lässt grüßen – liegt ganz richtig.
Denn was ich heute präsentiere, ist das Dokument eines geradezu unglaublichen Abenteuers, doch im Unterschied zu Karl May musste ich nichts dazudichten.
Die besten Geschichten schreibt ohnehin das Leben, vor allem wenn man Fortuna walten lässt. Was mir der Zufall diesmal zugespielt hat, daran will ich Sie gern teilhaben lassen.
Kürzlich erwarb ich wieder einmal einen Stapel alter Autofotos für einen überschaubaren Betrag – der eigentliche Preis für solche Schnäppchen ist der, dass man erst einmal nicht genau weiß, was sich auf den meist verblichenenen oder unscharfen Bildern verbirgt.
Bei der ersten Durchsicht blieb mein Blick kurz an diesem vergilbten Abzug hängen – naja, dachte ich, vermutlich ein schwer identifizierbares frühes Mobil irgendwo in Südeuropa:

Eigentlich wollte ich mich erst später damit beschäftigen, doch die Silhouette der Stadt im Hintergrund interessierte mich aus irgendeinem Grund.
Also tat ich, was ich auch sonst in solchen Fällen tue – ohne dass Sie das mitbekommen: Ich stellte die Bilddatei auf “Schwarzweiß” um, erhöhte den Kontrast, entfernte einige störende Flecken und Kratzer.
Und auf einmal sah das Ganze schon vielversprechender aus:

Zwar kann man von dem Wagen noch nicht allzuviel erkennen, doch immerhin ist jetzt zu ahnen, dass er ein deutsches Kennzeichen trägt.
Noch war mir nicht bewusst, wo der Wagen aufgenommen worden war, doch war schon an dieser Stelle klar – da waren deutsche Reisende vor 1910 irgendwo im Süden unterwegs!
Da mir dieser Drang prinzipiell sympathisch ist, zumal er heute ohne die meist rein destruktiven Eroberungsgelüste unserer germanischen Vorfahren daherkommt, war ich elektrisiert. Was war das für ein Wagen und wo war er unterwegs?
Also schaute ich genauer hin und plötzlich sah ich den runden Kühlerausschnitt und (wenn ich mich nicht irre) die Kennung “IA” für Berlin – das muss ein NAG sein!

Der Wagen besitzt zwar einen Tourenwagenaufbau für vier bis fünf Personen – anfangs noch als Doppel-Phaeton bezeichnet – dennoch sind seine Abmessungen sehr kompakt.
Im Programm der Berliner NAG gab es aber neben den beeindruckenden mittleren und großen Typen, die damals zur deutschen Spitzenklasse gehörten, tatsächlich auch ein solches Kleinauto – den NAG “Puck”.
Dieser 1908 eingeführte Wagen ist auf der folgenden Originalreklame zu sehen:

Der Vorteil des Drucks liegt darin, dass er den Blick für’s Wesentliche schärft, auch wenn die zugrundeliegenden Zeichnungen selten in allen Details präzise waren.
NAG-typisch war bis zum Ende des 1. Weltkriegs der runde Kühlerausschnitt – er ist also weder baujahrs- noch modellspezifisch, erlaubt aber in der vorliegenden Form schon einmal die Ansprache der Marke.
Einprägen sollte man sich die Ausführung der Vorderkotflügel – eher dünn, nach hinten breiter werdend und nahezu rechtwinklig an das Trittbrett anschließend. Auch die weit auskragenden, nur wenig gebogenen vorderen Rahmenausleger kann man sich merken.
Dann wäre da noch die kurze Motorhaube und der im Vergleich zum Lenkrad sehr kompakte Vorderwagen, was für ein kleines Modell spricht.
Haben Sie noch alles parat? Dann schauen wir jetzt, so ein NAG “Puck” in der Realität aussah:

Erkennen Sie die Übereinstimmungen, auch wenn allerlei Accessories und die Insassen natürlich für ein anderes Gesamtbild sorgen?
Jetzt stellen Sie sich nur noch vor, dass auf der Fahrerseite zwei Reservereifen in einer gemeinsamen Hülle mitgeführt wurden und außerdem auf dem Trittbrett der Beifahrerseite ein Gepäckkoffer angebracht war – denn einen Kofferraum gab es damals ja noch nicht.
Mit diesen Extras versehen war nämlich der NAG “Puck” auf meinem Foto:

Sind Sie einverstanden mit der Identifikation dieses Wagens als NAG “Puck”?
Ich unterstelle, dass ich hier richtig liege. Nun kann es an die noch spannendere Frage gehen, wo dieser NAG unterwegs war, als er auf Fotoplatte verewigt wurde.
Die Antwort fällt sensationell aus, wenn man bedenkt, dass der NAG “Puck” einen 1,6 Liter-Vierzylindermotor besaß, der gerade einmal 12 PS Spitzenleistung abwarf.
Tatsächlich ist dieser Wagen einst über die Alpen nach Italien gefahren, was an sich schon ein Abenteuer der besonderen Art war. Doch haben es die Insassen nicht dabei bewenden lassen, die Großstädte Oberitaliens Turin, Mailand und Bologna zu besuchen.
Nein, liebe Leser, diesen Leuten stand der Sinn nach etwas anderem.
Wir kennen die genaue Route nicht, doch vermutlich sind sie über Florenz weiter südlich in die Toscana vorgestoßen, sind dann am Trasimenischen See vorbei nach Osten abgedreht in Richtung Perugia, der Hauptstadt der angrenzenden Region Umbrien.
Von dort muss es dann durch das mittlere Tibertal weiter nach Süden gegangen sein – vielleicht war Rom das Ziel. Ein Halt auf dem langen Weg dorthin ist dokumentiert, nämlich auf dem Foto, das ich heute vorgestellt habe.
Darauf fiel mir links am Rand etwas auf, das wie eine Vision der venezianischen Kirche Santa Maria della Salute im flimmernden Licht am Horizont zu schweben schien:

Als ich das sah, war ich mit einem Mal 30 Jahre jünger! Damals fuhr ich zum ersten Mal nach Umbrien. Ich war Student und hatte in den Semesterferien eine hübsche Summe verdient.
Eine Woche war ich mit Bahn und Bus in der Valle Umbra zwischen Spoleto und Assisi unterwegs; eine Woche lang gönnte ich mir einen Mietwagen (Ford Escort) für die entlegeneren Höhepunkte dieser für mich schönsten Region Italiens.
Den Namen der mir so bekannt vorkommenden Kirche hatte ich nach dieser langen Zeit natürlich nicht mehr parat – Santa Maria della Consolazione heißt sie.
Doch eines wusste ich plötzlich wieder: Das ist in Todi!

Kurios, dass diese Aufnahme an fast derselben Stelle entstand wie einst das Foto mit dem NAG “Puck”, nämlich an der südlich stadtauswärts führenden SS79Bis “Via Angelo Cortesi” kurz vor der scharf nach Osten drehenden Kurve.
Wie so oft in Umbrien hat sich das Stadtbild in mehr als 100 Jahren kaum verändert. Es wird mit hierzulande kaum vorstellbarem Stolz gepflegt und mit authentischen Baumaterialien und -techniken bis ins Detail erhalten.
Wie bei allen umbrischen Hügelstädten haben wir es mit Siedlungen zu tun, die seit mindestens 2.500 Jahren existieren und schon Stadtcharakter hatten, lange bevor die Römer Italien unter ihre Herrschaft brachten.
Diese noch heute erlebbare kulturelle Kontinuität, welche auch die Nutzung der Landschaft umfasst, ist phänomenal und auch in Italien in dieser Breite wohl einzigartig.
In Deutschland sagt Umbrien dennoch bis heute nur wenigen etwas, allenfalls von der Pilgerstadt Assisi hat man schon einmal gehört. Doch anstatt ebendort durch die Valle Umbra zu fahren, entschieden sich die Insassen des NAG “Puck” einst, dem westlich davon gelegenen Tibertal nach Süden zu folgen.
Dabei kamen Sie an Todi vorbei und waren offenbar gebannt von dem Stadtbild, obwohl es in Umbrien noch weit grandiosere gibt. Diese Leute müssen jedenfalls Kenner des Besonderen und mit einem Hang zum Abenteuer ausgestattet gewesen sein.
Mit 12 PS von Berlin nach Todi – allein das waren schon 1.500 Kilometer auf oft nur mäßig befestigten Straßen. So etwas machte man auch dann nicht nebenher, wenn man sehr gut situiert war, wie dies bei allen frühen Automobilisten zwangsläufig der Fall war.
So gehört heute meine Sympathie wieder einmal den Pionieren des Autowanderns im Süden. Und weil mir gerade der Sinn danach steht, werde ich es ihnen für ein gute Woche nachtun – mit mehr als 12 PS, aber derselben Leidenschaft und natürlich: in Umbrien!
Nach meiner Rückkehr geht es weiter im Blog, es gibt ja so viel zu erzählen. Sollte Ihnen unterdessen langweilig werden, unternehmen Sie doch mal einen Spaziergang durch Todi…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Sehr interessant mal wieder,
was unser Blogwart da aus der Frühzeit der Autotouristik ausgegraben – besser vielleicht: eruieren hat! Die heutigen Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung sind schon faszinierend, aber das ‐ analoge – Bild(-band)- Archiv gehört natürlich auch dazu ! Leider ist es richtig, daß nach wie vor die verfügbaren Typen‐ Bücher teilweise nur qualitativ sehr bescheidene Fotos zeigen, die auch bei Neuauflagen großteils nicht durch bessere ersetzt werden.
Hier machen es sich die Autoren und Verlage doch oft recht einfach!
Ich selbst habe einen ” Fall” aus einem unserer Familien- Alben erst in neuerer Zeit mit Hilfe der Internet-Recherche lösen können: der vielleicht Vierjährige
Dieter neben einem unbekannten Wagen bzw. vor dessen unidentifizierbarer vorderer Seitenpartie…. Erst der späte Fund bei Durchsicht nicht eingeordnetr Fotos brachte des Rätsels Lösung. Die Aufnahme zeigte bei genauem Hinsehen – in der Ferne der gegenüber liegenden Seite eines größeren Platzes das offenbar von mir damals entdeckte Auto:
Die Suche im Net. ergab: einen
LANCIA der frühen Nachkriegszeit mit einer Graber- Kabrio- Karosse !
Der Blick fürs Besondere muß einem gegeben sein – man kann ihn nicht lernen!
Das schöne Touristenfoto aus Umbrien erinnert mich an unsere
5-wöchige Urlaubsfahrt in einem
zum Wohnmobil umfunktionierten Opel Blitz- Krankenwagen von Ulm bis Südspitze Sizilien im Spätjahr 1988. Wir kamen über Wien – Venedig , vorbei an San Marino quer durch die Berge Umbriens nach einer Visite beim hl. Franz
an den Trasimenischen See und
nahmen in der Ferne im herbstlichen Dunst überm See eine Erscheinung wahr.
Der Blick durch den Sucher des tele- bewehrten Apparates zeigte uns einen italienischen “Flugpionier” bei der Arbeit:
Er hatte ein Schlauchboot und einen Motordrachen zu einerArt Flugboot kombiniert und kurbelte damit anhaltend und
mit einem Mordsspektakel über der Ruhe des von Badegäste längst verlassenen Sees !