Sich an Vorbildern orientieren ist an sich nichts Schlechtes – über Jahrtausende erfolgte die Weitergabe von Können genau dadurch, dass man sich das Erreichen der Meisterschaft im jeweiligen Metier zum Ziel machte.
Erst dann hatte man das Handwerkszeug, um womöglich selbst ein Niveau zu erreichen, das wiederum Vorbildcharakter erlangt. Bleibt es bei einer bloßen Kopie des Vorbilds bzw. gelingt sie nur oberflächlich, ist kein bleibender Eindruck zu erwarten.
Genau das ist als Fazit der Sechszylinder-Offensive zu ziehen, welche Opel ab 1927 mit den Modellen 90 bzw. 100 unternahm und dabei versuchte, sich ein Luxuswagen-Image zu geben.
Diese durchaus beeindruckend dimensionierten Wagen waren der Gegenstand meines vorherigen Blog-Eintrags. Hier nochmals das Fahrzeug, um das es dabei ging:

So spektakulär diese großen Opels daherkamen, so fragwürdig ist die Art und Weise, mit der die Rüsselsheimer versuchten, sich ein Image als Luxuswagenhersteller zu geben, indem man sich dreist bei der Gestaltung des amerikanischen Packard bediente.
Damals baute Packard enorm großzügige Wagen, deren Ansehen vor allem mit dem bärenstarken Achtzylinder verknüpft war, der aus 6,3 Litern Hubraum mehr als 100 PS Spitzenleistung schöpfte.
Diese Autos erreichten gut 130 km/h Höchstgeschwindigkeit, auch wenn das in der Praxis keine Rolle spielte – wichtiger war die mühelos und schaltarm verfügbare Leistung bei voller Besetzung auf langen Strecken und in gebirgigen Regionen. Dafür waren solche Hubräume und Leistungen gedacht.
Freilich bewegte sich Packard damit auch in den Vereinigten Staaten im Luxussegment und setzte dementsprechend nur knapp 4.500 Exemplare seiner 1927er 8-Zylinderwagen ab.
Neben diesen Riesen mit bis zu 3,60 Meter Radstand bot Packard auch einen “kleineren” 6-Zylinder mit 4,7 Litern Hubraum an, dessen Höchstleistung sich auf 80 PS beschränkte.
Diesen mit etwas weniger als 3,40 Meter Radstand deutlich kürzeren Packard “Six” (seit 1925 im Programm) scheint Opel sehr genau studiert zu haben, als es an die Entwicklung eines großen Sechszylinders für das Jahr 1927 ging.
Hier haben wir einen solchen “kleinen” Packard – anhand eines Fotos aus Sammlung von Leser Klaas Dierks:

Meine Güte, mögen Sie jetzt denken, wie soll man denn hier erkennen, dass das kein Opel ist? Genau das war der Effekt, auf den die Rüsselsheimer in ihrer Verzweiflung setzten.
Auf den ersten Blick sehen die beiden Wagen wie Zwillinge aus, nicht wahr?
Doch wer ein Faible für US-Vorkriegsautos besitzt oder vielleicht eine solche Schwäche durch die Lektüre meines Blogs entwickelt hat, wird an den Nabenkappen erkennen, dass das zweite Auto ein Packard sein muss.
Diese traute sich Opel dann doch nicht zu kopieren, wenngleich man den Kühler fast 1:1 übernommen hatte (auch für die kleinen und mittleren Modelle übrigens).
Auf folgendem Foto eines in der Schweiz zugelassenen Packard kann man recht gut die Kombination aus markentypischem Kühlergehäuse und Nabengestaltung erkennen:

Hier sieht man auch zwei weitere Unterschiede zur “Opel-Kopie”:
Erstens sind die trommelförmigen Scheinwerfer hier komplett vernickelt und nicht lediglich in Wagenfarbe lackiert. Und zweitens? Nun, vergleichen Sie einmal die Dachlinie der Wagen.
Diese ist beim Opel recht simpel gehalten, nämlich fast waagerecht. Beim Packard dagegen hat man die alte Einsicht beherzigt, dass für das menschliche Auge nichts langweiliger ist als die Gerade.
So ist die Dachlinie deutlich gewölbt, was bei der Länge des Wagens dem Aufbau die nötige Spannung verleiht. Und noch etwas: Der Packard weist eine “Taille” auf, die Karosserie wird also nach unten hin schlanker, was an der hinteren Tür am stärksten ausgeprägt ist.
Vergleichen Sie das einmal mit der entsprechenden Partie beim Opel. Sehen Sie den Unterschied? Genau solche vermeintlichen Kleinigkeiten entscheiden darüber, ob man es mit einer soliden Schülerarbeit (Opel) oder einem souveränem Meisterstück zu tun hat.
Packard konnte es daher egal sein, wenn im fernen Deutschland ein aus US-Sicht unbedeutender Nischenhersteller versuchte, vom eigenen Nimbus zu profitieren.
Im Modelljahr 1927 brachte Packard insgesamt fast 30.000 Exemplare seiner luxuriösen Acht-und Sechszylinder an den Mann – das dürfte einem Gutteil der gesamten PKW-Produktion im durch die Hyperinflation verarmten Deutschland entsprochen haben.
Dabei war Packard nach US-Maßstäben selbst eine exotische Premiummarke, deren Stückzahlen gemessen an Wagen für Durchschnittsbürger verschwindend gering waren.
Opels großes Vorbild war also selbst nur eine Nischenerscheinung und genau das war das Schicksal der daran orientierten großen Rüsselsheimer Sechszylinderwagen. Wer so etwas wollte hierzulande, der kaufte lieber gleich einen “Amerikaner-Wagen”…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Das war ja eines der Probleme die deutsche hersteller oft in die Pleite führten: Kleinwagen konnte man ohne rationalisierung nicht günstig genug herstellen, der Gewinn schrumpfte gegen oder unter Null. An großen, repräsentativen Autos wurde mehr verdient, daher stürzen sich alle in dieses Segment unter Verkennung des sehr begrenzen Kundenkreises. Das ergab gar viele Insolvenzen, für Normung, Rationalisierung usw. hatte man kein Geld. Wanderer,Horch, Audi überlebten knapp dank der Banken, Selve, Apollo z.B waren weg. Nicht grade einfach damals für Manager.