Freunde von Vorkriegsautos haben es gut – wofür sie sich begeistern, ist zwar ein “alter Hut” – aber dafür gibt es schier unerschöpfliches Anschauungsmaterial.
Man kann sich in die faszinierende Welt der Manufakturaufbauten der 1920/30er Jahre versenken und dort ein handwerkliches und gestalterisches Können finden, das uns mit industrieller Massenware abgespeisten “modernen” Menschen sprachlos macht.
Man kann aber auch in die Pionierzeit eintauchen, als in unfassbarem Tempo die Grundlagen des Automobils geschaffen wurden.
Vor bald 120 Jahren, im Dezember 1898, unternahm Louis Renault seine ersten Fahrten mit einem selbstkonstruierten Automobil. Gut, so etwas machten damals zahllose Ingenieure und Laien, aber Renault hatte etwas Besonders kreiert.
Sein Wagen war wahrscheinlich der erste, bei dem die Antriebskraft des Motors mit einer Kardanwelle, nicht einer Kette, auf die Hinterachse übertragen wurde.
Damit machte er sich eine Konstruktion zunutze, die in Form der kardanischen Aufhängung schon in der Antike bekannt war und vor 500 Jahren vom italienischen Gelehrten Gerolamo Cardano ausführlich beschrieben wurde.
Nach diesem Exkurs kommen wir zur eigentlichen Sache:

Renault von 1902/03; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Den Wagen auf dieser alten Aufnahme schauen wir uns noch genauer an.
Doch schon der Abzug als solcher hat seinen Reiz – man meint wie durch ein Fenster in eine ferne Vergangenheit zurückzuschauen -und tatsächlich macht das den Zauber alter Fotos aus, wie unvollkommen sie mitunter sein mögen.
Im vorliegenden Fall hat der Zahn der Zeit schon zu nagen begonnen – leider ist ausgerechnet auf der Partie mit dem Auto eine größere Fehlstelle zu beklagen, die sich nur teilweise retuschieren ließ.
Doch von dem frontal fotografierten Wagen – in der automobilen Frühzeit war das eine ungewöhnliche Perspektive – sieht man genug, um ihn als Renault aus der Zeit von 1902/03 ansprechen zu können:
So fremdartig diese Ansicht wirkt, so bewusst ist sie bereits durchgestaltet.
Die Motorhaube wird nach unten breiter und fällt nach vorne schräg ab – wobei die pyramiden- oder eher glockenähnliche Formgebung durch blanke Messingpartien geschickt akzentuiert wird.
Auch die Frontklappe mit den drei Luftschlitzen folgt dieser Linienführung. Das ist ein schönes Beispiel für auf eine individuelle Form abzielende Gestaltung, die man nicht bei allen Automobilen der Pionierzeit findet.
Renault gelang damit sehr früh, seinen Fahrzeugen ein Markengesicht zu geben, das man dem Grundsatz nach erstaunlich lange beibehielt – bis in die 1920er Jahre.
Aus dieser Perspektive sind auch die expressiv schräg nach oben geführten Vorderschutzbleche besonders wirkungsvoll – sie erinnern ein wenig an Flügel.
Was aber lässt sich zu dem genauen Typ sagen? Nun, da wird es schwierig wie bei vielen anderen Automobilen jener Zeit.
Parallel oder kurz aufeinanderfolgende Typen unterschieden sich äußerlich allenfalls durch die Proportionen – was unter der Haube arbeitete, war äußerlich meist nicht ersichtlich.
Im vorliegenden Fall kommt die frontale Perspektive erschwerend hinzu – dazu später. Immerhin lässt sich durch Vergleiche eine Entstehung im Jahr 1902/03 annehmen.
Damals hatte Renault eine Kleinwagenlinie (7 bzw. 8 CV) und eine Mittelklasselinie (14 CV) im Programm. Innerhalb dieser beiden Linien folgten aufgrund des rasanten Fortschritts drei Typen innerhalb eines Jahres (!) aufeinander.
- Der Kleinwagen des Typs M 8 CV von Anfang 1903 besaß noch einen von DeDion zugekauften 1-Zylindermotor mit knapp 950ccm.
- Er wurde nach wenigen Monaten vom Typ R 7 CV abgelöst, der einen von Renault konstruierten 900ccm-Einzylinder besaß.
- Ende 1903 kam dann der nochmals im Detail verbesserte Typ T mit identischer Motorisierung heraus.
Grundsätzlich könnte der Wagen auf unserem Foto einer dieser drei Kleinwagentypen sein. Es könnte sich aber nach vorläufiger Einschätzung ebensogut um einen Renault der Kategorie 14 CV handeln.
- Der erste davon – der Typ H 14 CV – kam 1902 heraus -sein Zweizylinder war der erste von Renault entwickelte Motor.
- Noch 1902 folgte der verbesserte Typ N 14/20 CV, der wiederum 1903 vom Typ S 14/20 CV abgelöst wurde.
Die Typen der beiden Linien unterschieden sich äußerlich in einem markanten Detail, das wir auf unserem Foto nur schemenhaft erkennen können. Die Rede ist von den an beiden Haubenseiten angebrachten vertikalen Kühlelementen.
Die Kleinwagenbaureihe 7 bzw. 8 CV besaß pro Seite neun dieser Elemente. Bei den Mittelklassemodellen 14 CV waren es dagegen 18 pro Seite. Auf dem Foto lassen sie sich leider nicht zählen.
Letztlich ist es auch nicht entscheidend, den genauen Typ ansprechen zu können – was zählt, ist das aufgrund seiner Perspektive seltene Dokument eines der ersten “echten” Renault überhaupt.
Wie so oft machen die einstigen Insassen einen erheblichen Teil des Reizes dieser Aufnahmen aus der Kinderstube des Automobil aus:
Die Dame trägt noch den opulenten Kopfschmuck der Jahrhundertwende – ein feines Tuch verhindert, dass er sich im Fahrtwind selbständig macht, und schützt außerdem die zeittypisch aufwendige Frisur.
Der vergnügt dreinschauende Passagier neben ihr – womöglich der Besitzer – verkörpert perfekt den Typus des “Herrn von Welt” mit gezwirbeltem Schnauzbart, Vatermörderkragen und Melone.
Der ebenfalls freundlich in die Kamera schauende Herr neben dem Renault, trägt einen der atemberaubenden Pelzmäntel, die seinerzeit Ausweis des enthusiatischen Automobilisten waren und gern karikiert wurden.
Vielleicht war er der eigentliche Besitzer und der Fahrer war zum Fotografieren abkommandiert worden. Genaues werden wir nicht mehr erfahren.
Doch auch so ist eine derartige Aufnahme ein Vergnügen für alle, die sich für die Zeit begeistern können, in denen in rasendem Tempo die Grundlage für unsere heutige indiviuelle Mobilität gelegt wurde – eine Errungenschaft, die aktuell von kleinen, aber gut organisierten und einflussreichen “Pressuregroups” mit fragwürdigen Behauptungen zunehmend aggressiv in Frage gestellt wird…
© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.