Noch vor ein, zwei Jahren wäre der Wagen, den wir heute auf diesem Blog für Vorkriegsautos auf alten Fotos zeigen, ein Kandidat für den “Fund des Monats” gewesen.
Doch inzwischen enthält der Fundus des Verfassers genügend Aufnahmen von Exoten, die diesen Status noch weit mehr verdienen.
Das ist nicht zuletzt das Verdienst von Lesern, die ihre oft teuer erworbenen Fotos mit einer Großzügigkeit zur Veröffentlichung freigeben, die man sich von anderen Sammlern wünscht, die ihre Schätze für sich behalten und nichts daraus machen.
So oder so stellt das Auto, das wir anhand einer zeitgenössischen Aufnahme präsentieren, einen besonderen Leckerbissen dar – doch der Reihe nach.
Die Frankfurter Traditionsmarke Adler hatte 1926 in Reaktion auf die Konkurrenz der 6-Zylinderwagen aus den USA den Typ Standard 6 vorgestellt. Mit der Orientierung an amerikanischen Vorbildern bewies Adler den richtigen Instinkt, in technischer wie formaler Hinsicht.
Genau so musste Ende der 1920er Jahre eine repräsentative, doch nicht luxuriöse Limousine aussehen:

Adler Standard 6S; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Ein Flachkühler mit üppiger Verchromung, eine gefällig geschwungene Doppelstoßstange, ein Hinweis auf die Zylinderzahl auf der Scheinwerferstange und weitere Chromakzente an den Rädern – das war perfekter “Amerikaner”-Stil.
Adler bewies zudem mit hydraulischen Vierradbremsen und Ganzstahlkarosserie als erster deutscher Hersteller, dass man die Lektion aus Übersee verstanden hatte.
Nur was die Stückzahlen anging, verharrte Adler beinahe auf Manufakturniveau. Bis 1934 entstanden bloß etwas mehr als 20.000 Exemplare des Adler Standard 6.
Zwar war ein gleichstarker 6-Zylinder-Chevrolet bei vergleichbarer Ausstattung (allerdings nur mit Seilzugbremsen!) erheblich preisgünstiger.
Dennoch entschieden sich noch in den frühen 1930er Jahren etliche deutsche Kunden für den grundsoliden und im Detail fein gestalteten Adler aus heimischer Produktion:
Man wüsste nicht, was an dieser makellos gestalteten und jede Übertreibung meidenden Kühlerpartie zu beanstanden wäre.
Die formale Klarheit aller Elemente ist bestechend, nichts wirkt unentschieden oder einfallslos. So sah ein Wagen der späten 1920er und frühen 30er Jahre aus, der gediegenen Wohlstand, aber keinen Luxus repräsentieren sollte.
Übrigens weisen das hoch oben auf der Kühlermaske angesiedelte, nicht mehr ins Kühlernetz hineinragende Adler-Emblem sowie die senkrechten statt waagerechten Luftschlitze in der Motorhaube auf eine ab 1931 entstandene Version hin.
Die sieben Radbolzen waren der 6-sitzigen Limousine des Standard 6 vorbehalten. Viersitzer besaßen ab 1931 wie der Adler “Favorit” nur noch fünf Radbolzen.
Hier haben wir eine andere Ansicht eines Adler Standard 6 jener Zeit, gerade noch zu erkennen an der Kühlerfigur, dem Adler-Emblem auf der Ersatzradabdeckung und den (auf dem Originalabzug eindeutig) sieben Radbolzen:
Dieses Foto, auf dem der Adler Standard 6 nur eine Nebenrolle spielt, entstand nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten einst am Berliner Dom.
Der genaue Anlass ist dem Verfasser nicht bekannt, doch ist auf dem Originalabzug unübersehbar, wie sich die Zeiten gewandelt hatten, als dieses Foto entstand.
Den wenigsten Bürgern in Berlin – den Fahrer des Adler Standard 6 eingeschlossen – dürfte an dem sonnigen Tag bewusst gewesen sein, was ihnen und Europa unter dem Regime des Hakenkreuzes bevorstand:

Adler Standard 6 am Berliner Dom; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenge
Mit dem Wissen der Nachgeborenen, die in einem fast vollkommen risikofreien Umfeld großgeworden sind, wird man dieser historischen Situation nicht gerecht.
Niemand – das Verhalten der europäischen Großmächte bis 1938 zeigt es – konnte damals wissen, welche Katastrophe für Deutschland und seine Nachbarn sich anbahnte.
Ermöglicht wurden die Exzesse des nationalsozialistischen Regimes nicht zuletzt aufgrund der obrigkeitshörigen Neigung vieler nach Anerkennung gierender Deutscher, die im Motto “dem Führer entgegenarbeiten” ihren fatalen Ausdruck fand.
In der Folge vollzog sich eine Selbstgleichschaltung der Öffentlichkeit, in der Abweichungen von der politischen Korrektheit existenzgefährdend wurden – eine Gefahr auch für eigenständiges Denken in der offenen Gesellschaft von heute.
Nach diesem bei Vorkriegsautos unvermeidlichen Ausflug in die Zeitgeschichte, wenden wir uns dem Thema Offenheit wieder in automobiler Hinsicht zu:

Adler Standard 6 Roadster; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Auf den ersten Blick wirkt dieser Adler beinahe bescheiden. Erstaunlich, was das Fehlen eines mächtigen Limousinenaufbaus ausmachen kann.
Doch die sieben Radbolzen an den Felgen sprechen in Verbindung mit dem Adler-Emblem auf dem Kühler eine eindeutige Sprache: Das muss eine offene Version des “Standard 6” sein.
Dabei verweisen das in das Kühlergitter hineinragende Markenemblem und die horizontalen Luftschlitze auf eine Entstehung vor 1931 hin. Auch die Doppelstoßstange wirkt hier weniger elegant als auf dem ersten Foto.
Nun mag mancher Leser dieses Blogs sich an ein anderes Foto eines offenen Adler “Standard 6” erinnern, das zu den schönsten hier publizierten Aufnahmen gehört:

Adler Standard 6 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
So hinreißend diese Aufnahme auch sein mag, zeigt sie doch einen anderen Aufbau, nämlich ein zweisitziges Cabriolet mit vollwertigem, gefüttertem Verdeck.
Zu erkennen ist das an der seitlichen “Sturmstange”, die auch bei niedergelegtem Verdeck zu sehen gewesen wäre. Außerdem liegt die Türoberkante des Adler, auf der die junge Dame ihren Arm aufgelegt hat, weit höher als auf dem vorhergehenden Foto.
Schauen wir uns die Aufnahme der offenen Version des Adler Standard 6 genauer an:
Hier haben wir eindeutig nur ein leichtes, roadstertypisches Notverdeck, einen tieferen Türausschnitt und eine zweigeteilte Frontscheibe. Auch der Verlauf der seitlichen Zierleiste ist im Bereich der Heckpartie anders.
Der Fall ist klar: Hier haben wir einen Adler des Typs Standard 6 mit Roadster-Aufbau vor uns. Die Stückzahlen sind in der dem Verfasser zugänglichen Literatur nicht genannt, doch können wir von bestenfalls einigen hundert Stück ausgehen.
Von diesem Wagen ist im Netz derzeit (Stand: November 2018) nur ein einziges Exemplar zu finden, das sich einst im Besitz von Clara Coenen befand. In der gedruckten Literatur (Werner Oswald: Adler Automobile, 1. Auflage 1981, S. 48) findet sich ein weiteres Fahrzeug, ebenfalls mit weiblicher Besatzung.
Dass die rare Roadster-Variante aber nicht nur ein Dasein als exklusives Concours-Fahrzeug führte, sondern auch im Alltag eingesetzt wurde, beweist unser Foto.
Eine winterliche Ausfahrt mit offenem Verdeck war damals wie heute eher (Ausnahmen bestätigen die Regel) eine Sache für unerschrockene männliche Automobilisten…
© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.