Familienzuwachs: Porträt des Wanderer Typs W10

Genau zwei Jahre ist es her, dass ich hier anhand historischer Dokumente aus meiner Sammlung die Geschichte der Wanderer-Automobilproduktion vom Typ W1 (1906) bis zum Abschied von der Kleinwagenklasse Mitte der 1920er Jahre skizziert habe.

Dieser Abriss ist nach wie vor aktuell, doch möchte ich heute das Modell W10, mit dem er endete, ausführlicher vorstellen. Mittlerweile liegen mir zeitgenössische Aufnahmen von allen vier Ausbaustufen des ab 1926 gebauten Mittelklassetyps vor.

Der Wanderer W10 war zwar kein sonderlich progressives Fahrzeug, doch für den meist auf der sicheren Seite des Bewährten agierenden Hersteller markierte er in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur, denn er bot erstmals:

  • Vierradbremsen statt nur Vorderrad- und Getriebebremse,
  • Linkslenkung statt der bis 1925 auch im deutschen Raum üblichen Rechtslenkung
  • innen- statt außenliegende Hebel für Schaltung und Handbremse

Damit war er auf der Höhe der Zeit, wenn auch mit einem 1,6 Liter-Vierzylinder mit 30 PS eher zurückhaltend motorisiert, zumindest anfänglich.

Hier haben wir die Ursprungsversion Wanderer W10-I, offiziell als Typ 6/30 PS angeboten:

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Wanderer W10-I von 1926; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Wie schon die früheren Wanderer-Modelle besaß dieser Wagen schüsselförmige Frontscheinwerfer.

Neu waren indessen die Fahrtrichtungsanzeiger auf den Vorderschutzblechen – eine der wenigen Wanderer-Innovationen, die wir später noch besser studieren können.

Ab 1927, rund ein Jahr nach Produktionsbeginn, verbaute Wanderer laut Literatur trommelförmige Scheinwerfer. Man erkennt sie auf diesem bisher unpublizierten Foto von Leser Marcus Bengsch:

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Wanderer W10-1 von 1927; Originalfoto aus Sammlung Marcus Bengsch

Diese schöne Aufnahme lässt gut erkennen, dass Wanderer mit dem W10 in eine neue Dimension vorgestoßen war. Mit 4,25 Meter Gesamtlänge bot der Tourenwagen ein großzügiges Platzangebot und verwöhnte die Passagiere mit Echtlederausstattung.

Weshalb an diesem Wagen die typischen Fahrtrichtungsanzeiger fehlen, ist unklar. Vielleicht gefielen sie dem Besitzer nicht, der stattdessen – wie es scheint – herkömmliche Winker am Holm der Frontscheibe montiert hatte.

Interessanterweise findet man an dem Wanderer auf dem nächsten Foto beide Formen des Fahrtrichtungsanzeigers:

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Wanderer W10-II 8/40 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser Limousinenaufbau war auch beim ursprünglichen Wanderer W10-I erhältlich, doch ein Detail verrät, dass es sich um eine spätere Ausführung handelt.

Die Luftschlitze in der Haube sind zahlreicher und auf zwei separate Felder verteilt, wie man hier gerade noch erkennenkann.

Dieses Merkmal kam Ende 1927 mit Einführung der leistungsgesteigerten Version Wanderer W10-II auf. Das Modell bot nun – wie das Model A von Ford – eine Höchstleistung von 40 PS, wenngleich auch aus nur 2 statt 3,2 Litern Hubraum.

Nicht auszuschließen ist, dass obiges Foto auch einen Wanderer W10-III zeigt, der ein optisch an den stärkeren W10-II angeglichener W10-I mit nach wie vor 30 PS war.  Nebenbei ein Beispiel für die komplizierte Modellgeschichte bei Wanderer.

Laut Literatur ganz sicher ein solcher Wanderer W10-III mit dem weitergebauten 6/30 PS-Aggregat des W10-I ist hier zu sehen:

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Wanderer W10-III Roadster-Cabriolet (Zschau); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese von der Karosseriemanufaktur Zschau gelieferte Ausführung mit aufwendiger Zweifarblackierung habe ich hier bereits vorgestellt, sie gehört aber ganz klar in eine Gesamtschau der W10-Modellfamilie von Wanderer.

Der Wagen weicht wie auch der vorangegangene von den Abbildungen in der Literatur nur hinsichtlich der Scheinwerferform ab. Offenbar waren die konische Form und die trommelförmige Ausführung parallel erhältlich.

Den in der Überschrift angekündigte Familienzuwachs zeigt nun die nächste, bisher noch nicht publizierte Aufnahme:

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Wanderer W10-III, Sport-Zweisitzer; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auf diesem Foto eines Wanderer W10-III mit Berliner Zulassung ist eine weitere Karosserievariante festgehalten – der vom Wanderer-Werk selbst angebotene Sport-Zweisitzer.

Er unterschied sich durch seine weniger aufwendige Gestaltung  und das ungefütterte Verdeck vom luxuriösen Roadster-Cabriolet aus dem Hause Zschau.

Besonders ins Auge fallen hier die typischen Fahrtrichtungsanzeiger auf den Kotflügeln, wiederum in Verbindung mit klassischen Winkern am Fensterholm. Entweder traute man der Neuerung nicht – die nicht blinkte, sondern bei Betätigung dauerhaft leuchtete – oder sie konnte nicht die vorgeschriebenen Winker ersetzen.

Die Stahlspeichenfelgen und die abweichende Gestaltung der Haubenschlitze (wie beim Wanderer W10-I)  weisen darauf hin, dass wir es hier mit einer frühen Form des Wanderer W10-III zu tun haben, der parallel zum stäkeren W10-II angeboten wurde.

Später, als das teurere 8/40 PS-Modell (W10-II) wieder eingestellt worden war, gab es die weitergebauten 6/30 PS-Typen (W10-III) dagegen nur noch mit Scheibenfelgen und auf zwei Felder aufgeteilten Luftschlitzen.

Das ist alles ziemlich kompliziert, aber möglicherweise hilfreich für jemanden, der eine Aufnahme eines Wanderer W10 zwischen 1926 und 1929 bestimmen will und nicht über das famose Buch “Wanderer Automobile” von Erdmann/Westermann (Verlag Delius-Klasing), verfügt, dem ich meine Kenntnisse verdanke.

Zur Entspannung daher ein abschließender Blick auf den letzten Vertreter dieser verzweigten Modellfamilie – den Wanderer W10-IV:

Wanderer_W10-IV_Galerie

Wanderer W10-IV Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Mit dieser bezaubernden Aufnahme des von 1930-32 gebauten Wanderer 6/30 PS (Typ W10-IV) , die ich hier ausführlich besprochen habe, möchte ich den Blick ins Fotoalbum der Familie Wanderer für heute beenden.

Der nächste Ausflug in die Wanderer-Familiengeschichte wird uns wieder mit der Gründergeneration konfrontieren – es hat sich da einiges angesammelt…

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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