Ein Schritt vor, zwei zurück: Wanderer W10-IV

Es ist nicht lange her, dass ich hier die vier Modellgenerationen des Vierzylindertyps W10 der sächsischen Marke Wanderer vorgestellt habe. Die Geschichte dieser Typenfamilie erstreckt sich von 1926 bis 1932 – und ist nicht ganz einfach.

Den letzten Vertreter dieses Typs – den Wanderer W10-IV – hatte ich seinerzeit aus Zeitgründen nur gestreift. Dabei verdient auch er eine nähere Beschäftigung, steht er doch für Fortschritt und Rückschritt bei Wanderer zugleich vor 90 Jahren.

Als Ausgangspunkt habe ich ein Foto seines Vorgängers gewählt, das mir Leser Matthias Schmidt aus Dresden zur Verfügung gestellt hat. Es ist nicht nur von besonderer Qualität, sondern eignet sich hervorragend als Basis, von der aus sich die weitere Entwicklung nachvollziehen lässt, die ich mit „Ein Schritt vor, zwei zurück“ umschreiben möchte:

Wanderer 6/30 PS (Typ W10-III) Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Aus dieser Perspektive lassen sich alle Merkmale studieren, die den Wanderer W10-III mit Motorisierung 6/30 PS ab Herbst 1928 auszeichneten:

zwei Felder mit schmalen vertikalen Luftschlitzen in der Motorhaube,

– Scheinwerfer mit trommelförmigem Gehäuse

– Scheibenräder mit vier Radbolzen

Wie die Vorgängervarianten W10-I bis W10-III besaß der Wagen einen schlichten Kühler mit dem 1926 eingeführten weiß-blauen Markenemblem, dessen Grundform noch aus dem Jahr 1912 stammte.

Auch die Fahrtrichtungsanzeiger auf den Kotflügeln und mittig vor dem Kühler, die bei Betätigung permanent leuchteten (nicht blinkten) behielt Wanderer beim W10-III bei:

So hatte sich übrigens schon der Wanderer W10-II mit der stärkeren Motorisierung 8/40 PS präsentiert, der jedoch nur kurze Zeit hergestellt wurde.

Er wurde nach weniger als zwölf Monaten zugunsten des neuen Sechszylindertyps W11 aufgegeben. Gleichzeitig behielt der W10-III die Rolle als Einstiegsmodell bei, nun aber – wie gesagt – im Erscheinungsbild des eingestellten stärkeren W10-II.

Komplizierte Verwandschaftsverhältnisse wie diese sind typisch für die Autos von Wanderer.

Meines Wissens ist es erst dem Autorenduo Erdmann/Westermann im Standardwerk „Wanderer-Automobile“ (Delius-Klasing) gelungen, die Typengeschichte der Marke voll zu erfassen. Die ältere Literatur zu Wanderer ist mit Vorsicht zu genießen.

Der erwähnte Sechszylindertyp W11 mit Motorisierung 10/50 PS sollte im Herbst 1928 nicht nur dem W10-II mit 40 PS den Garaus machen. Anfang 1929 beschloss man, trotz sich bereits eintrübender Konjunktur auch den W10-III mit 30 PS auslaufen zu lassen und alles auf die Sechszylinderkarte zu setzen.

Fortan sollte also nur noch der größere, aber auch erheblich teurere Wanderer W11 mit Motorisierung 10/50 PS gebaut werden. War die viertürige Limousine beim Vierzylindertyp W10-III für zuletzt 6.550 Reichsmark zu haben, mussten für den gleichen Aufbau beim neu eingeführten Sechszylinder W11 fast 8.000 Mark berappt werden.

Bei diesem happigen Preisaufschlag half auch die deutlich luxuriösere Anmutung des an amerikanischen Vorbildern orientierten Wanderer W11 wenig:

Wanderer W11 10/50 PS Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Sieht man von dem im April 1929 eingeführten neuen Wanderer-Flügelemblem auf dem Kühler ab, könnte diese Limousine auch als einer der „Amerikanerwagen“ durchgehen, die Ende der 1920er Jahre ungeheuer erfolgreich am deutschen Markt waren.

Rasch stellte es sich als kapitaler Fehler heraus, mit den damals kaum zu schlagenden US-Sechszylindermodellen konkurrieren zu wollen. Noch vor dem Kurseinbruch an den Börsen im Oktober 1929 war der Absatz des W11 10/50 PS drastisch zurückgegangen.

In der sich anbahnenden Weltwirtschaftskrise verloren nicht nur weite Teile der Bevölkerung ihre Arbeitsplätze, auch die Vermögenden büßten einen Großteil ihres auf Aktienbeteiligungen beruhenden Wohlstands ein.

Der Markt für teure Kopien amerikanischer Sechszylinder aus deutscher Produktion verflüchtigte sich damit binnen kurzem. Wanderer reagierte auf die existenzbedrohende Lage rasch und durchaus erfolgreich.

So reaktivierte man den eingestellten Vierzylindertyp 6/30 PS und verbaute ihn technisch unverändert im Wanderer W10-IV, der freilich äußerlich erheblich aufgewertet wurde und trotz etwas geringerer Abmessungen so luxuriös wirkte wie der teure Sechszylinder.

Nun erhielten die Käufer das, was man von Anfang hätte anbieten sollen, um sich von den Amerikanern abzuheben: Bezahlbare Vierzylinder – optisch attraktiv verpackt.

Mit dem in großer Eile entwickelten Typ W10-IV mit der vertrauten Motorisierung 6/30 PS bot Wanderer ab Herbst 1930 ein sehr ansprechendes Automobil an. Auf der folgenden Aufnahme von Leser Marcus Bengsch wirkt der Vierzylinderwagen geradezu luxuriös:

Wanderer W10-IV Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Marcus Bengsch

Bei dieser Frontpartie, die nichts mehr mit der des gleichstarken (oder schwachen) Vorgängers W10-III gemeinsam hat, leisteten die Gestalter von Wanderer ganze Arbeit.

Die nunmehr vollverchromte (zuvor vernickelte) Kühlermaske verfügt über senkrechte Lamellen und zwei geprägte Felder oben und unten, in denen sich die Lamellen optisch fortsetzen und so einen höheren Kühler (und damit stärkeren Motor) suggerieren.

Die Abdeckung der Aufnahme für die Starterkurbel (die dank elektrischen Anlassers nur noch im Notfall zum Einsatz kam) ist recht groß geraten und nun ein eigenständiges dekoratives Element – wesentlich ausgeprägter als beim großen Sechszylindertyp W11.

Neu ist auch die Doppelstoßstange nach US-Vorbild. Bei den Vorgängertypen des W10-IV scheinen Stoßstangen werksseitig nicht einmal als aufpreispflichtiges Zubehör verfügbar gewesen zu sein.

Mittlerweile hatte man aber seine Lektion gelernt und bot den Kunden, was sie haben wollten, gleich ab Werk. Vor lauter Chrompracht übersieht man leicht ein weiteres neues Detail, das jetzt rautenförmige Markenemblem auf dem Kühler:

Das noch aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg stammende Wanderer-Emblem, zuletzt in weiß-blauer Ausführung, war einer modernisierten Fassung gewichen, die nun in den sächsischen Landesfarben Weiß und Grün gehalten war.

Es verblasst freilich neben der stilisierten Flügelfigur auf dem Kühlerverschluss, deren Wiedererkennungswert den des Emblems bei weitem übertrifft. Diese meisterlich gestaltete Figur entsprang einem Entwurf des Wanderer-Vertriebschefs von Oertzen, in punkto Vermarktung einer der einfallsreichsten Köpfe in der deutschen Autoindustrie.

Außerdem fällt auf, dass die auf den Kotflügeln angebrachten Fahrtrichtungsanzeiger der Vorgängertypen beim Wanderer W10-IV den gängigen Winkern an den Scheibenpfosten gewichen waren.

Am Wagenende auf der rechten Seite sieht man außerdem eine Sturmstange – untrügliches Zeichen für eine Cabriolet-Ausführung, wie sie vor allem Gläser aus Dresden lieferte. Allerdings sind auch offene Aufbauten anderer Hersteller bekannt.

Das Nummernschild des Wagens verweist auf eine Zulassung im Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion Baden. Erkennt jemand vielleicht den Ort, wo einst diese reizvolle Aufnahme eines Wanderer W10-IV entstand?

Nachtrag: Der Wanderer wurde an der Spitalbastei in Rothenburg ob der Tauber fotografiert.

Festzuhalten bleibt, dass Wanderer mit der neugestalteten Frontpartie des Wanderer W10-IV Anfang der 1930er einen wichtigen Schritt nach vorn machte.

Die Wiederbelebung des Vierzylinders 6/30 PS mag man zwar gegenüber dem Sechszylindertyp 10/50 PS als „zwei Schritte zurück“ interpretieren, doch manchmal sichert einem vorübergehender Verzicht das Überleben.

Analogien zum Geschehen in unseren Tagen sind nicht ganz zufällig. Dazu gehört allerdings auch, dass man rechtzeitig wieder auf den alten Entwicklungspfad zurückkehrt, denn die ausländische Konkurrenz schläft nicht.

Und so stellte auch Wanderer noch während der Phase der wirtschaftlichen Depression die Weichen für eine Rückkehr zur Sechszylinder-Laufkultur – mit gleich zwei Typen (W15 und W17). Die Konstruktionen stammten von Tausendsassa Ferdinand Porsche, der zuvor bei Steyr tätig war und auf das dort gesammelte Knowhow zurückgreifen konnte.

Das ist aber eine andere Geschichte, für die mir noch das historische Bildmaterial fehlt…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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