Deutschland vor 100 Jahren: Der 1. Weltkrieg ist kaum ein paar Jahre vorbei und die Wunden, die er geschlagen hat, sind noch frisch.
Der Großteil der Bewohner der neu gegründeten “Weimarer” Republik ist mit dem Überleben ausgelastet, doch unter rund 60 Millionen gibt es natürlich immer genug Betuchte, die das Luxusproblem des Vermögenserhalts beschäftigt.
Nüchternen Zeitgenossen ist klar, dass der deutsche Staat die Kriegskredite nie zurückzahlen kann und mit den Lasten des Versailler “Vertrags” heillos überfordert ist.
Eine Weile kommt man mit immer neuer Schuldenmacherei und ungedeckter Geldschöpfung über die Runden – Anfang der 2020er Jahre macht man es ja genauso – doch wer sich eine gesunde Skepsis gegenüber dem Staat bewahrt hat, kann nicht ernsthaft glauben, dass dies auf Dauer gutgeht.
Was macht man in einer solchen Situation mit einem kleinen Vermögen? Warten, bis es in Kaufkraft gerechnet noch kleiner ist? Nein, man investiert in Sachwerte, von denen man glaubt, dass sie gefragt sein bleiben oder sich nicht künstlich vermehren lassen.
In die letzte Kategorie fallen Edelmetalle und Diamanten, während die erste vor allem Immobilien, Grundstücke, Wald und Ackerland umfasst. Gibt es daneben noch etwas, was wenigstens seinen Nutzen behält und daher auch werthaltig ist?
Zumindest vVor 100 Jahren lautete für viele Vermögende die Antwort: Autos!
Dieses Kalkül erklärt, weshalb deutsche Automobilbauer Anfang der 1920er Jahre einen bemerkenswerten Boom erfuhren. Obwohl die meisten nur leicht überarbeitete Vorkriegsmodelle anboten, gingen speziell Autos der gehobenen Mittelklasse und der Oberklasse weg wie die warmen Semmeln.
Etablierte Hersteller wie Adler, Benz, Brennabor, Opel, NAG, Presto, Protos und Stoewer profitierten von dieser Sonderkonjunktur, welche die Erwartung eines Inflationsschubs, eines Schuldenschnitts und einer Währungsreform wiederspiegelte.
Ein Beispiel dafür ist dieser kolossale Tourenwagen von Adler, der um 1920 entstanden sein dürfte. Sieben Personen fanden darin ohne weiteres Platz:

Doch was tun, wenn einem die Autos dieser Marken schlicht zu teuer waren oder die hohen Unterhaltskosten abschreckten? Was, wenn man stattdessen einen soliden, vielleicht ein wenig extravagant anmutenden Wagen in der kleinen Hubraumklasse bis 1,1 Liter suchte?
Unter den bekannten Herstellern aus deutschen Landen fällt mir kaum einer ein. Selbst der putzige neue AGA-Wagen kam mit 1,4 Litern daher. Der ebenfalls nur als Kleinwagen anzusprechende NSU 5/15 PS wartete mit 1,2 Litern auf.
Lediglich Nischenmanufakturen waren im Deutschland von Anfang der 1920er Jahre im Segment um 1 Liter herum aktiv. Doch ein Ehepaar namens Rudolph wollte sich einst nicht damit abfinden. Sie wünschten sich einen Hauch Extravaganz mit bewährter Technik.
Die beiden erinnerten sich daran, dass es vor dem Krieg im damals noch zum Deutschen Reich gehörigen Elsass eine angesehene Marke gab, deren neues Nachkriegsmodell genau ins Beuteschema passte: Mathis!
Vermutlich werden Sie wie ich zunächst der Ansicht sein, dass dieses sportlich und leicht extravagant wirkende Automobil nie im Leben von einem 1,1 Liter-Motor angetrieben wurde:

Tja, so kann man sich täuschen.
Tatsächlich konnte ich den Wagen anhand des Kühlerprofils zunächst als Mathis identifizieren, dann aufgrund einiger Details als Typ SB mit 1,1 Liter-Vierzylindermotor.
Dieses Modell wurde ab 1919 mit unterschiedlichen Radständen und Aufbauten gefertigt, die Motorisierung mit einem kompakten Aggregat konventioneller Bauart (Seitenventiler) blieb aber stets dieselbe.
Wie kommt es nun, dass ein Wagen mit einem dermaßen kleinen Motor so groß und beinahe repräsentativ erscheint?
Nun, das liegt an einer Reihe von Kunstgriffen. Der erste ist die Montage einer recht niedrigen Frontscheibe, welche den Vorderwagen größer erscheinen lässt.
Dann erzeugt die geringe Höhe und die große Zahl der Luftschlitze den Eindruck einer besonders langen Motorhaube – tatsächlich befand sich kaum etwas dahinter.
Nicht zuletzt machte sich der Fahrer – besagter Herr Rudolph – am rechtsgelegenen Steuer kleiner als er war – oder er war wirklich recht klein.
Für die letztgenannte Annahme spricht, dass die Ehegattin – Frau Rudolph – in dem Mathis eine eher stattliche Erscheinung darstellt:

Sofern die der Kamera etwas mehr zugewandte Frau Rudolph keine Walküre wagnerischen Ausmaßes war, und die Größe der Windschutzscheibe sowie die des freundlichen Herrn Rudolph tatsächlich eine optische Täuschung sind, schrumpft dieser wohlgeratene Tourenwagen plötzlich auf “Normalmaß” zusammen.
Eine solche Bootsheckkarosserie (frz. “bateau”) bot Mathis nur beim Typ SB mit lediglich 2,40 Meter Radstand an – die größeren offenen und geschlossenen Aufbauten waren auf Radständen von 2,60 bis 2,85 Meter verfügbar (Typen SBA und SBL).
Zu einem Kleinwagen der 1,1 Liter-Klasse passen die Scheibenräder mit nur vier Radbolzen, wie sie sich auch am Opel 4 PS-Modell finden, welches ab Mitte der 1920er Jahre in Deutschland diese Hubraumklasse erstmals gesellschaftsfähig machte.
Wo mögen die Rudolphs im Jahr 1923 (sonst ist nichts zu diesem Foto überliefert) mit ihrem schönen Mathis Typ SB “Bateau” unterwegs gewesen sein? Erkennt jemand das wohl spätmittelalterliche Denkmal wieder, das sich direkt hinter Frau Rudolph befindet?

Wie immer sind auch Anmerkungen zu dem Auto willkommen – ich bin schließlich kein Markenexperte und verstehe mich eher als Universalist, der von vielem etwas und von wenig alles weiß…
Meine Quelle in Sachen Mathis-Autos ist übrigens diese hier. Außerdem zum Vergleich hier ein geschlossenes Exemplar des Mathis SB (bzw. SBA und SBL).
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Daß die “große Zeit” der “Amerikanerwagen”, aber auch anderer Auslandsfabrikate von 1924 bis 1935 dauerte, ist vollkommen richtig und durch Ihren Blog bestens belegt und bewiesen ! Daher mein großer Dank an Sie, Herr Schlenger indem Sie durch Ihre Bildpräsentationen die Verbreitung der jeweiligen Marken und Typen im deutschsprachigen Raum so eindrucksvoll belegen ! Ihre Bilder und die Magister/Diplomarbeit von Herrn Polanschütz korrigieren so das Zerrbild, das u.a. diverse “Traumauto”-Publikationen und die Modellautobranche hinterlassen. Die Realität im Straßenverkehr von 1930 heißt Brennabor und nicht Bugatti ! Und auch wenn der “gute Stern” als Marke im Proporz realitätsnah vertreten ist, so sind das der Mercedes 260 Stuttgart 10/50 PS oder der 370 Mannheim 15/75 PS, aber kein SSKL und kein 500K. Was Hollywoodstars zwischen Pebble Beach und Santa Monica fuhren, entsprach nicht dem, was zwischen Straßburg und Stettin unterwegs war. Obwohl das auch 12 Jahre später nur wenige mit 20 bis 60 PS auf 4 Rädern selbstfahrend taten und die meisten gezogen von einer Henschel oder Borsig-Lok mit 1200 PS auf 16 Rädern. Aber wie hier zu sehen, gab es auch das Ehepaar Rudolph, die eben schon vor 100 Jahren, zu Beginn der “Roaring Twenties” ein vollwertiges und schönes eigenes Auto besaßen. Und ob 3- oder Viersitzer, aus der Vogelperspektive betrachtet wüßte man die Frage des Durchstiegs zwischen den Vordersitzlehnen zu beantworten, und auch ob vielleicht die Rücksitzbank erhöht montiert ist.
Bei der anzunehmenden Breite des “Bootes” und der schlanken Heckpartie
dürfte es sich um einen Dreisitzer gehandelt haben . In den Fond konnten sportliche und schrittstarke Damen mit gekonnter Flanke begeben
(war der Rock nicht zu eng) !
Oder hat ein Betrachter angesichts der offensichtlichen Dimensionen die Möglichkeit eines bürgerlich gesittenden Zustiegs entdeckt?
Leider kann ich hier keine Dokumente posten, aber per Mail gibt es gerne die Beweise für meine Aussage.
Die konkrete Regelung ist mir nicht bekannt, aber mir fällt auf, dass Importwagen vor 1924 in meinem einige tausende Bilder von Autos aller möglichen Marken in Deutschland umfassenden Fotobestand die absolute Ausnahme sind. Von Mathis abgesehen, fällt mir nur ein 1923er Chevrolet ein, der im badischen Raum zugelassen war. Auch für den 1919 eingeführten, international sehr erfolgreichen Fiat 501 findet sich vor 1924 kaum Evidenz am deutschen Markt zumindest nach meiner Wahrnehmung.
Von einem deutschen Importverbot für ausländische Kraftfahrzeuge ist mir nichts bekannt, auch nicht in der Zeit der Hyperinflation 1923 und danach. “Deutscher Mann kauf deutsche Wagen, hilf deutsches Leid gemeinsam tragen” das war ein Aufruf jener Zeit, und als die zunächst sogar sehr niedrigen Importzölle stiegen, begann eben die Endmontage angelieferter Baugruppen, aber auch die komplette Produktion hierzulande, wie durch Citroën und Ford begonnen. Von Apperson bis Studebaker reichte die Riege der US-Importeure, wie auch Fiat und Renault während der gesamten 1920er Jahre auf dem deutschen Markt präsent waren. Dies übrigens auch bis ins darauffolgende Jahrzehnt, so steigerte z.B. Chrysler/Plymouth seinen Absatz auf deutschem Boden auch 1930 bis 1935. Der Rückgang bis 1940 ist aber nicht “nur” der Politik anzulasten, sondern der erheblich verbesserten Konkurrenzfähigkeit einheimischer Fahrzeuge.
Aber eigentlich ging es hier um Mathis … und dieser tolle Wagen mit wirtschaftlichem 1,1-Liter-Motor war eben genau das richtige Auto, auch wenn es westlich des Oberrheins entstand !
Danke!
Bis ca. Mitte 1924 war die Einfuhr von Kraftfahrzeigen nach Deutschland generell verboten, nur in Ausnahmefällen wurden vereinzelt Genehmigungen erteilt. Einfuhren aus Italien und Österreich waren kontingentiert erlaubt, aber nur sehr geringe Stückzahlen, und auch nur im Rahmen von Kompensationsgeschäften um Devisen zu sparen.
Allerdings gab es im Versailler Vertrag eine Klausel, nach welcher Einfuhren aus dem vorher deutschen Elsass-Lothringen zollfrei nach Deutschland zugelassen werden mussten, um den dortigen – nun in Frankreich beheimateten – Unternehmen nicht quasi über Nacht ihren Hauptabsatzmarkt zu nehmen. Es gab zwar offiziell Kontigente, aber die waren so hoch, dass sie – zumindest im Kfz-Bereich – nie erreicht wurden. Betroffen von dieser Regel waren Bugatti und eben Mathis.