Fund des Monats: Diatto Tipo 10 Sport-Zweisitzer

Nanu, wird vielleicht der eine oder andere denken: Normalerweise kommt der „Fund des Monats“ doch erst kurz vor knapp gegen Mitternacht am Monatsultimo.

Gut beobachtet, und tatsächlich lasse ich mir gerne soviel Zeit dafür, wie es irgend geht. Wenn ich diesmal früher als gewohnt den Monatssieger ausrufe, hat das einen praktischen Grund, welcher ausgezeichnet zu der Marke Diatto passt, wie man am Ende sehen wird.

Die Geschichte dieses heute weitgehend vergessenen, doch alles andere als unbedeutenden italienischen Herstellers lässt sich so liebevoll umständlich erzählen, wie es das Standardwerk zu italienischen Nischenfabrikaten „Le piccole grandi marche automobilistiche italiane“ von Augusto Costantino aus dem Jahr 1983 tut.

Dort geht es drei Seiten lang erst einmal um die Vorläuferfirma von Guglielmo Diatto, der ab 1835 in Turin eine Fabrikation von Wagenrädern aufzog. Wir Menschen des 21. Jh. haben leider nicht mehr die Zeit wie vor 40 Jahren, daher springen wir gleich ins Jahr 1905.

In diesem Jahr gründeten nämlich die Enkel von Signore Diatto am selben Ort eine Automobilfabrik. Dazu schlossen sie einen Vertrag mit der französischen Firma Clement-Bayard, welcher ihnen die Fabrikation von Wagen nach Clement-Lizenz erlaubte.

Die neuen Diatto-Clement Wagen bewährten sich auf Anhieb in Sportveranstaltungen wie etwa dem Rennen von Mailand nach San Remo 1906 (Klassensieg) oder der extrem anspruchvollen Fahrt von St. Petersburg nach Moskau im Jahr 1908 (6. Platz).

So ließe sich das bis zum 1. Weltkrieg fortsetzen, doch die zahlreichen sportlichen Meriten von Diatto zu feiern, will ich kompetenteren Zeitgenossen überlassen. Mir geht es heute nur um eines, nämlich die Identifikation dieses sportlichen Zweisitzers aus dem Hause Diatto:

Diatto, vermutlich Tipo 10; historischer Originalabzug aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme entstand im Jahr 1923, so ist es auf dem Abzug selbst vermerkt. Nun wird man sich fragen, wer damals noch mit Karbidgas-Scheinwerfern herumfuhr.

Schließlich gab es doch bereits ab 1913/14 optional elektrische Beleuchtung, welche sich nach dem 1. Weltkrieg auf breiter Front durchsetzte.

Ich weiß allerdings von meiner eigenen französischen Voiturette von 1921 (Marke EHP), dass Kleinwagen damals bisweilen noch standardmäßig mit gasbetriebenen Scheinwerfern ausgeliefert wurden.

Die Freunde von Vorkriegsfahrrädern wissen, dass diese Technologie bis in die 1930er Jahre verbreitet blieb, sie erfüllte ihren Zweck, war bloß nicht ganz so pflegeleicht und unkompliziert wie elektrische Beleuchtung.

Daher würde ich auch hier aus dem Vorhandensein von Gasscheinwerfern nicht zwingend schließen, dass dieser kompakte Zweisitzer noch vor dem 1. Weltkrieg entstanden war.

Tatsächlich entspricht die Kühler- und Haubenpartie genau derjenigen des erst 1922 eingeführten Diatto Tipo 20:

Für eine Entstehung Anfang der 1920er Jahre spricht übrigens auchdas Fehlen außenliegender Schalt- und Bremshebel.

Das sehr kompakte Format dieses auf’s Wesentliche reduzierten Zweisitzers lässt mich an den Tipo 10 denken, welchen Diatto 1919 als Einstiegsmodell auf den Markt brachte. Mit seinem 1 Liter messenden Vierzylinder sollte er wohl Fiats Typ 501 Konkurrenz machen.

Gegen die Großserienstrategie von Fiat war Diatto natürlich chancenlos, aber wer sich in dieser Hubraumklasse etwas Besonderes gönnen wollte, war mit dem kleinen Diatto gut bedient – speziell, wenn man ihm eine knackige Sonderkarosserie angedeihen ließ.

Dieser Aufbau erscheint jedenfalls wie ein perfekt sitzender Maßanzug geschneidert:

Die Verfechter der Bauhaus-Ideologie werden hier vermutlich das Fehlen sturer Geraden und radikal rechter Winkel vermissen – aber bitte: Hier stimmt doch einfach alles, reine Funktionalität, wo man hinschaut.

Gleichzeitig ist dieses Nebeneinander praktischen Erfordernissen gehorchender Linien ein Vergnügen für das Auge, welches nun einmal von Natur organische Formen gewohnt ist.

Man hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Rahmen zu kaschieren oder das Trittbrett länger als erforderlich auszuführen.

Stellen Sie heute einem Enthusiasten ein abgerocktes Vorkriegschassis mit Motor, Kühler und Haube auf den Hof und sagen Sie ihm, er möge daraus einen sportlichen Special schaffen – dann kommt immer noch ziemlich genau so etwas heraus.

Manche Dinge sind Grundtatbestände des Daseins und ändern sich nie – das ist gut so. Das gilt auch für eine Sache, die ich unterschlagen habe. Diatto erreichte 1906 auf der siebenstündigen Fahrt Lugano-San Gottardo die ersten beiden Plätze.

Diese Strecke -bloß in umgekehrter Richtung – werde ich morgen absolvieren auf dem Weg in meine zweite Heimat südlich der Alpen.

Wenn ich zurück bin, geht es weiter im Blog und ich kann meinen Lesern – bald 10.000 pro Monat – versprechen: Es gibt unpubliziertes, abwechslungsreiches Vorkriegsmaterial ohne Ende…

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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