Zu meinen historischen Interessen gehört neben der Welt der Vorkriegs-Automobile vor allem die römische Epoche. Wenn man wie ich in der hessischen Wetterau aufwuchs, liegt das nahe – die Römer haben hier reiche Spuren hinterlassen.
Zwar währte die Zeit nur kurz, in welcher die fruchtbare Region zwischen dem Main im Süden und dem Gießener Becken im Norden ein kleiner Zipfel des Imperium Romanum war.
Doch in den Wäldern findet man immer noch eindrucksvolle Reste der Grenzbefestigung “Limes” mit ihren Kastellen und Wachtürmen. Auch das römische Straßennetz ist vielerorts noch gut erkennbar und unter den Feldern ruhen die Fundamente hunderter Landgüter mit komfortabler Ausstattung.
An der Ausgrabung einiger davon habe ich einst in meinen Semesterferien teilgenommen. Auch später war ich noch öfters als ehrenamtlicher Grabungshelfer tätig, zuletzt 2016 auf dem Areal dieser “Villa Rustica” bei Gambach in Sichtweite der Münzenburg:

Während die römische Besiedlung in meiner Region schon 260 n.Chr. ein geordnetes Ende fand – die nachrückenden Germanen vegetierten dann in Grubenhäusern und plünderten die römischen Friedhöfe auf der Suche nach Verwertbarem – blieb die Hochkultur Roms andernorts auf deutschem Boden viel länger präsent.
Das gilt vor allem für die römischen Städte enlang der Donau. Dort hielt das Imperium den ständigen Angriffen germanischer Horden noch über 100 Jahre stand. Erst nach dem Jahr 375 brach die Finanzierung der Grenzsicherung zusammen.
Doch selbst danach ist für ein weiteres Jahrhundert ziviles römisches Leben an einem Ort dokumentiert, der für uns heute auch in anderer Hinsicht interessant sein wird – in Passau:

Diese Aufnahme entstand in den 1930er Jahren vom nördlichen Donauufer aus mit Blick den zweitürmigen Dom. Auf der dahinterliegenden Landspitze, an der Donau und Inn zusammenfließen, befand sich das römische Passau (“Batavis”).
Erst gegen 480 nach Christus musste die verbliebene romanisierte Bevölkerung Passaus dem zunehmenden Siedlungsdruck germanischer Völker weichen.
Beschrieben wird das in einem der letzten Schriftdokumente der Spätantike, der Lebensbeschreibung des Heiligen Severin. Er war ein gebildeter Mann der Kirche und zugleich lebenstüchtiger Organisator des spätrömischen Lebens in der Region.
Mit ihm und der Aufgabe Passaus endete nach über 400 Jahren die große Historie der römischen Zivilisation an der Donau, die Barbaren übernahmen das Regiment.
Dazu passt der am Donauufer abgestellte Wagen – denn auch er markiert annähernd das Ende einer langen und bedeutenden Geschichte, und als die letzten Exemplare 1933 entstanden, hatte die germanische Barbarei Deutschland abermals erfasst:

Dieser auffallend flach bauende Wagen mit der markanten Zweifarblackierung war eines der letzten in Serie gebauten Automobile der traditionsreichen Berliner Marke NAG – vielleicht auch das großartigste.
Die Details des Hecks, darunter die farblich kontrastierenden Kanten des angesetzten Koffers, die doppelten Stoßstangen und die Gestaltung des Reserverads finden sich genau so beim Sport-Cabriolet 208, das auf Basis des NAG-Protos 16/80 PS von 1930-33 entstand.
Ich habe bereits mehrere Aufnahmen davon bei früherer Gelegenheit präsentieren können (hier), daher sei an dieser Stelle nur eine davon wiedergegeben:

Doch so wie sich in Passau Ende des 5. Jahrhunderts eine romanisierte Restbevölkerung zäh gegen den Untergang ihrer Zivilisation wehrte, wollte auch NAG Anfang der 1930er Jahre nicht ohne weiteres aufgeben.
Nach dem hinreißenden 16/80 PS Sport-Cabriolet mit seinem 4 Liter großen Sechszylinder wollte man noch einmal seine ganze einstige Größe demonstrieren.
Dazu ließ man Chefkonstrukteur Paul Henze, der früher bei Simson und Steiger brilliert hatte, Deutschlands ersten V8-Motor im unveränderten Chassis des NAG-Protos verbauen.
Äußerlich war der daraus resultierende NAG-Protos 18/100 PS kaum vom Sechszylindertyp 16/80 PS zu unterscheiden. Folgende Aufnahme von letzterem war einst das erste Foto eines Vorkriegsautos überhaupt, das ich erwarb – zu meiner Studentenzeit, als ich meine Freizeit noch überwiegend der antiken Historie widmete:

Wenn man auf dem Original genau hinschaut, kann man auf dem Kühleremblem “NAG Protos” lesen, andernfalls wäre es nicht so leicht gewesen, den Hersteller zu identifizieren.
So tat sich auch Leser Matthias Schmidt schwer mit der Ansprache der grandiosen Limousine auf einem seiner Fotos, mit denen er und einige Sammlerkollegen uns immer wieder Freude und Genuss bereiten.
Denn dort ist das Markenemblem nicht lesbar und die Kühlerform ist nicht so spezifisch, dass einem gleich NAG-Protos als Marke einfallen dürfte. Doch ich erinnerte mich an meinen frühen Fotofund und konnte anhand der identischen Kühlergestaltung den Hersteller rasch ermitteln:

Einen kleinen Unterschied – abgesehen vom Aufbau als sechs- statt nur vierfenstrige Limousine – hatte ich zunächst übersehen.
Daher war ich bis heute der Meinung, dass es sich bei diesem Prachtstück ebenfalls um einen NAG-Protos des Sechszylindertyps 16/80 PS handeln müsse. Dazu passend hatte ich bereits das Passauer Foto der Sportlimousine auf derselben Basis herausgesucht.
Erst bei näherem Hinsehen stellte ich nun fest, dass der NAG-Protos auf dem Abzug von Matthias Schmidt eine “8” auf der Scheinwerferstange trägt. Das war der Hinweis darauf, dass wir es hier tatsächlich mit dem letzten in Serie gebauten NAG-Protos mit erwähntem V8 zu tun haben, der noch ein Jahr länger als der Typ 16/80 PS gebaut wurde.

An sich hätte dieser grandiose Wagen die Präsentation als Fund des Monats verdient, doch will ich heute spendabel sein.
Die diesjährige Vorweihnachtszeit ist für viele von uns durch Sorgen und Zukunftsängste überschattet. So kann ich mir vorstellen, dass in dieser dunklen Zeit manchem jede kleine Freude willkommen ist.
Und ist es nicht ganz wunderbar, was NAG am Ende einer langen und großen Historie der Nachwelt hinterlassen hat?
Analog zu den Menschen im Europa der untergehenden Antike sind wir heute berufen, diesen Teil unseres kulturellen Erbes zu bewahren, am Leben zu erhalten und die Hoffnung auf eine neue Blüte nicht aufzugeben…
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Sehr richtig, damit arbeite ich bisweilen ebenfalls. Eine gute Quelle für solche Sachen ist der Online-Büchermarktplatz ZVAB, an dem praktisch jeder Antiquar im deutschsprachigen Raum teilnimmt. Ändert freilich nichts daran, dass die Automobilhistoriker hierzulande auch wieder einmal tätig werden könnten.
Alles richtig, aber wie gesagt: Alle Hochkulturen haben Angriffskriege geführt und tun dies auch in der Gegenwart. Sie haben i.d.R. die Unterstützung der Bevölkerung dafür, sonst gäbe es das nicht. Das ist leider Teil der “conditio humana”. Mein historischer Punkt war der: Nach den besonderen Grausamkeiten der römischen “Republik” brach mit der Kaiserzeit eine in der europäischen Geschichte singuläre, rund 200-jährige Friedensepoche an. Diese ging in nicht enden wollenden Abwehrkämpfen an den Außengrenzen und infolge innerer Zwistigkeiten zuende – ziemlich aktuell, meine ich. Solche überzeitlichen Bezüge ggf. auch im Kontext der Besprechung alter Autofotos herzustellen, ist ein Merkmal meines Blogs. Daher bin ich auch tolerant, was thematische Abschweifungen angeht, sie müssen bloß geistreich, lehrreich oder unterhaltsam sein.
Möglicherweise noch antiquarisch zu finden: “Autos aus Berlin: PROTOS und NAG” von Hans-Otto Neubauer. ISBN3-17-008130-6
Nun ja, Kriege zu führen ist eine Konstante in der menschlichen Geschichte bis in die Gegenwart (auch die hochentwickelten italienischen Renaissance-Stadtstaaten überzogen einander ständig mit Krieg) – das ist daher nicht der Maßstab. Nebenbei war die Friedensperiode unter römischer Herrschaft in den ersten beiden Jahrhunderten nach Christus die längste in Europa bis heute. Ansonsten sind wir uns einig 🙂
Thank you very much!
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