Überwiegend fällt die Wirklichkeit nicht so aus, wie man sich das wünscht – eine Grundkonstante des Daseins und Basis des Geschäftsmodells von Trittbrettfahrern aller Art – Glaubensstifter, Heiratsschwindler und Visagisten.
Doch bisweilen übertrifft auch die Wirklichkeit die Welt der Wünsche, nämlich dann, wenn sich etwas ereignet, was man nicht für möglich gehalten hat. Das von Ludwig Erhard initiierte deutsche “Wirtschaftswunder” der 1950/60er Jahre war so etwas.
Da wir in unseren Tagen von Vergleichbarem mangels qualifiziertem Regierungspersonal nur träumen können, müssen wir uns damit begnügen, dass uns im Privaten ab und zu etwas begegnet, das über unsere Vorstellungen und Erwartungen hinausgeht.
Ich weiß nicht, ob das bei dem Automobil der Fall ist, das ich Ihnen heute präsentieren möchte. Jedenfalls regt es dazu an, über Wunsch und Wirklichkeit zu sinnieren.
Man kann dieses rund 110 Jahre alte Dokument aber auch einfach so auf sich wirken lassen und sich seine ganz eigenen Gedanken darüber machen:

Fremd wie ein Geschöpf aus einer fantastischen Urzeit schaut uns dieser Wagen an, und doch würde jeder dieses Fahrzeug sofort als Automobil ansprechen. So furchtbar viel hat sich nämlich an dieser genialen Erfindung nicht geändert.
Ja, aber inzwischen gibt es doch auch Elektroautos und die sehen schon anders aus, mag jetzt einer denken. Gewiss, das taten die Elektroautos aber damals auch.
Der Hersteller dieses Tourenwagens – NAG aus Berlin – hatte sogar selbst welche im Programm. Sie verkauften sich eine Weile recht gut, und das obwohl deren wohlhabende Käufer nicht einen Teil des Preises von ihren Mitbürgern zwangserstattet bekamen.
Einen solches NAG-Elektroauto stelle ich gelegentlich hier vor und ich darf schon jetzt sagen, dass ich mich darin verliebt habe – was mir beim Batteriewagenangebot unserer Tage bislang unmöglich erscheint (nicht nur wegen der aberwitzigen Kosten).
Wie gesagt, die altehrwürdige Berliner NAG war der Schöpfer des oben gezeigten recht großzügig dimensionierten Fahrzeugs. Zwar sind die Autos der seit 1903 mit Eigenkonstruktionen sehr erfolgreichen Marke an dem Rundkühler leicht zu erkennen.
Doch der genaue Typ ist meist nur anhand von Größenvergleichen einzugrenzen. Im vorliegenden Fall würde ich schon einmal das Einstiegsmodell N2 6/12 PS “Puck” ausschließen – es war im Vergleich wesentlich kompakter:

Zudem scheint der NAG auf meinem eingangs gezeigten Foto über eine etwas modernere Karosserie zu verfügen.
So besitzt sie bereits über einen “Windlauf”, also eine zur Frontscheibe bzw. zum Fahrerabteil hin ansteigende Blechkappe am hinteren Ende der Motorhaube.
Ab 1910 taucht dieses Element bei deutschen Serienautos auf, vorher fand es sich nur bei speziell für Sporteinsätze vorgesehene Wagen.
Genau dieses Detail wird uns noch einmal beschäftigen. Wir werfen erst einmal einen näheren Blick auf die Vorderpartie des aus idealer Perspektive fotografierten NAG:

An sich ist hier alles so, wie man es bei einem NAG aus der Zeit ab etwa 1905 erwarten würde. Ins Auge sticht jedoch die Plakette vorne am Kühlwassereinfüllstutzen.
Sie ist mir schon einmal begegnet, doch ist mir entfallen, auf welche Vereinigung sie hinweist – hier sind wieder sachkundige Leser gefragt.
Eventuell handelt es sich um einen Club von Sportsleuten, die bei Beginn des 1. Weltkriegs ihre Automobile dem Heer zur Verfügung stellten. Darauf deutet das auf dem Windlauf aufgemalte Kürzel und das Fehlen eines zivilen Kennzeichens hin.
Jetzt sind wir dem Punkt angelangt, an dem wir uns zwischen Wunsch und Wirklichkeit entscheiden müssen.
Schauen Sie sich doch einmal die Kühlerpartie direkt unterhalb des Einfüllstutzens an. Bilde ich es mir ein oder ist da tatsächlich “B2” zu lesen gefolgt von einer nicht zu entziffernden Kombination aus Ziffern, die durch einen Schrägstrich getrennt sind?
Mag sein, dass mir mein Gehirn einen Streich spielt und der Wunsch in meinem Kopf etwas Wirklichkeit werden lässt, was es gar nicht gibt. Dabei mag eine Rolle spielen, dass es andere Fotos von im 1. Weltkrieg auf deutscher Seite eingesetzter PKW gibt, bei denen auf dem Kühler die offizielle Typbezeichnung aufgemalt war – warum auch immer.
Nun gab es von NAG ab 1907 einen Typ “B2” mit (je nach Baujahr) variierenden Leistungsbezeichnungen: 40-45 PS, 31/50 PS, 29/55 PS, 26/45 PS. In jedem Fall handelte es sich dabei um einen großvolumigen Vierzylinder mit anfänglich 8, später 6,7 Litern.
Auch bei den Angaben zur Bauzeit geht es durcheinander (frühe NAG-Wagen sind wie bei vielen deutschen Autos üblich schlecht dokumentiert). Teilweise wird ein Bauzeitende von 1908 angegeben, teilweise aber auch 1909/10.
Denkbar ist nun Folgendes: Wir haben es entweder mit einem älteren NAG “B2” zu tun, der 1910 einen modernen Aufbau mit “Windlauf” erhielt – was öfters vorkam. Oder es handelt sich um ein Exemplar des ganz späten Typs B2a von 1910.
Vielleicht irre ich mich aber auch völlig und wir sehen hier doch einen der kleineren NAG, also einen N2 6/12PS “Puck” oder einen frühen Vertreter seines Nachfolgers K2 6/18 PS.
Letztlich ist es aber auch gar nicht so wichtig, denn Aufnahmen solcher NAG-PKW im Kriegseinsatz sind keineswegs ungewöhnlich. NAG lieferte daneben vor allem Lastkraftwagen an das deutsche Militär, aber das ist eine andere Geschichte.
Mich interessiert am Ende Ihr Urteil, was die von mir wahrgenommene Beschriftung des Kühlers angeht – Wunsch oder Wirklichkeit bzw. Typvermerk oder Straßenschmutz?
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Guten Tag Herr Schlenger,
es handelt sich um eine Plakette vom “Automobil-Club für Tirol und Vorarlberg” aus Innsbruck.
Zur Beschriftung “B2” eine ganz gewagte These: könnte es sein, dass NAG seine Kühler für die Produktion intern entsprechend der Modellreihe immer so oder ähnlich gekennzeichnet hat? Wir haben das nur bisher nie gesehen, da ja auf allen bekannten Fotos das NAG-Firmenemblem darüber angebracht wurde.
Mit freundlichen Grüßen
Jörg Lindner
Naja, Rundkühler waren nur in Deutschland die Ausnahme (MAF wäre noch zu erwähnen). Bei den französischen und belgischen Herstellern dagegen gab es locker über 20 Fabrikate, die so etwas hatten. International waren es mehr als 50 Hersteller. Vor Jahren wurde mal eine entsprechende Liste bei http://www.prewarcar.com erstellt.
NAG ist neben Spyker in den Niederlanden eine der wenigen Hersteller mit rundem Kühler. Das sieht toll aus, die hochglanz-polierten Messing-Runde um den Kühler. Messing läuft an, das machte viel Polierarbeit. Aber angelaufen konnte man gut Schrift hineinritzen.
Hallo,
der Wagen wird von einem kuk Soldaten gefahren, wohl ein Österreicher.
Schöne Grüße,
KD