Anders reisen: Renault-Limousine von 1913/14

Gestern abend bin ich aus Umbrien zurückgekehrt – dem grünen Herzen Italiens, das als einzige Provinz des Landes nirgends ans Meer grenzt. Das mag einer von mehreren Gründen sein, weshalb die Region in Deutschland relativ wenig bekannt ist.

Man begegnet dort einer einzigartigen Mischung aus wilder Natur, Kulturlandschaft und großartigen Kunststätten, die von einem Menschenschlag belebt wird, der sich über die Jahrtausende kaum geändert hat. Eroberer zogen eher durch, als dass sie blieben, sieht man von der langobardischen Episode am Ende der Antike einmal ab.

Zwischen Perugia im Norden und Spoleto im Süden hat sich in 2.500 Jahren nur wenig verändert. Wo schon in vorrömischer Zeit Wein, Weizen oder Oliven angebaut wurden, wird das heute noch getan, auch die Städte stammen durchweg aus jener Epoche und sind oft in den Mauern von einst geblieben.

Am bekanntesten ist wohl der Wallfahrtsort Assisi, an dem der Heilige Franziskus mit unverminderter Inbrunst verehrt wird. Man braucht keineswegs gottgläubig zu sein, um die Faszination zu verstehen, welche dieser Mann und seine Lehren bis heute ausüben.

Die atemberaubende Silhouette von Assisi wird von der Doppelkirche San Francesco beherrscht, welche sich auf einem künstlich geschaffenen Plateau befindet, das weit in die Landschaft vorragt und auf den von Norden kommenden Pilger auch nach der x-ten Begegnung überwältigend wirkt. Zu dergleichen ist die sogenannte Moderne nicht fähig.

So grandios die Schauseite Assisis auch ist, so wollen wir doch heute dem Motto “Anders reisen” huldigen, welches einmal für eine Reihe alternativer Reiseführer stand.

Um anders zu reisen, braucht man eine andere Perspektive, eine auf den ersten Blick ungewohnte – eine, deren Reiz vielleicht spröder, aber dennoch lohnend ist. Schauen Sie, was ich Ihnen dazu aus dem Süden mitgebracht habe:

Assisi, Kirche San Francesco von Nordosten, Juni 2023; Bildrechte: Michael Schlenger

Auch hier sieht man Assisis Kirche San Francesco über dem Felsen thronend, doch nun von der anderen (nordöstlichen) Seite gesehen. Der Eindruck ist ein vollkommen anderer, zumal von der übrigen Stadt nichts zu sehen ist.

Das ist der Gewinn, wenn man anders reist, in diesem Fall auf der Strada Comunale Santa Croce in Richtung Castello di Petrata, und nach wenigen Kilometern innehält.

Anders reisen als auf konventionelle Weise, das konnte man schon immer – sofern man es sich leisten konnte. Vor rund 110 Jahren empfahlen sich dazu dem gut betuchten Automobilisten die Wagen von Renault, die damals zum Besten zählten, doch bei deren Gestaltung eigene Wege beschritten wurden.

Vielleicht erinnern sich manche von Ihnen an das spektakuläre Renault Landaulet, das ich zum Auftakt des Jahres 2023 hier präsentiert hatte.

Heute möchte ich dem Motto “Anders reisen” folgend ein weiteres Exemplar jener Zeit vorstellen. Es hat wiederum eine ganz eigene Anmutung, auch wenn man natürlich die markentypische Motorhaube dort ebenso leicht wiedererkennt wie die Kirche San Francesco in Assisi aus unterschiedlichem Blickwinkel.

Das Vergnügen verdanken wir diesmal Leser Matthias Schmidt aus Dresden, der uns an diesem grandiosen Dokument aus seiner Sammlung teilhaben lässt:

Renault Limousine von 1913/14; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Größer könnte der Kontrast zwischen dem vollkommen konventionellen Limousinenaufbau und dem eigenwilligen Vorderwagen kaum sein.

Dort finden sich vor der Frontscheibe terassenartig abfallend erst der Benzintank mit Einfüllstutzen, dann der Wasserkühler mit ebensolchem Stutzen, schließlich die sehr lange Motorhaube, deren vorn abgerundete Front nur ansatzweise zu sehen ist.

Die Proportionen lassen vermuten, dass sich unter dieser Haube einer der Sechszylindermotoren verbarg, welche Renault kurz vor dem 1. Weltkrieg anbot. Da der Hersteller jedoch auch Anfang der 1920er Jahre an seiner eigene Linie festhielt und der Limousinenaufbau relativ modern wirkt, ist eine spätere Entstehung oder eine Neukarossierung nach dem 1. Weltkrieg nicht auszuschließen.

So oder so ist dies ein faszinierendes Beispiel für das Konzept “Anders reisen”, welches einst ein Renault ermöglichte. Wie im Fall der Baukunst darf man über die Kreationen dieses einst so prestigeträchtigen Herstellers in der Gegenwart getrost hinweggehen.

Aber genau deshalb lesen Sie ja hier mit, nicht wahr? Um anders und unbelastet durch die Zeit zu reisen, als es möglich ist, wenn man sich den oft betrüblichen Beschränkungen des Hier und Jetzt unterwirft.

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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