“Klasse statt Masse” – so pflegen die Gourmets in so ziemlich allen Bereichen zu sagen, in denen es auf Kennertum und Exklusivität ankommt. Und wer unter uns Vorkriegsauto-Enthusiasten würde sich nicht für die meisterhaften Manufakturwagen jener Zeit begeistern?
Als Freund des “sowohl als auch” und unverbesserlicher Kapitalismus-Sympathisant schlägt mein Herz jedoch ebenso für die industrielle Massenproduktion, welche Klasse auch der Masse zugänglich macht – was Snobs stets zuwider war und bis heute ist.
Was ist denn auch so ein kompakter Vierzylinder-Wagen mit nicht einmal 30 PS Leistung, der obendrein reichlich bieder daherkommt?
Nun, das kann ein selbst für recht gut Situierte unerschwingliches Manufakturauto aus deutscher Produktion mit banalster Technik sein – dann wird es heute dennoch gefeiert, weil es so ungeheuer selten ist (und schon zur Entstehungszeit war).
Es kann aber auch einer der von vielen geringgeschätzten US-Großserienwagen sein, die erstmals jedermann – wirklich jedermann – den Besitz eines Automobils ermöglichten.
Neben Ford war es vor allem die Marke Chevrolet, die um die Mitte der 1920er Jahre unbegrenzte Mobilität für die Masse ermöglichte.
Im Modelljahr 1927 knackte der Hersteller erstmals die Marke von 1 Millionen Fahrzeugen – keineswegs kumuliert seit dem ersten “Chevy” von anno 1912, sondern pro Jahr!
Dass aus dieser in Europa völlig unvorstellbaren Masse durchaus Klasse werden konnte, das will ich heute anhand einiger “neuer” alter Fotos zeigen.
Zur Auffrischung der Erinnerung aber erst einmal eine Aufnahme eines dieser 1927er Chevrolets, welche ich schon einmal präsentiert habe:

Bei dieser 4-türigen Limousine sind alle wesentlichen Details zu sehen:
Der Kühler mit dem Markenlogo und der ins Kühlernetz hineinragenden Spitze, die es nur 1927 gab, die Stahlscheibenräder mit sechs Radbolzen, die konisch geformten Scheinwerfergehäuse und die Zierleiste, die von der Motorhaube kommend die gesamte Flanke entlangläuft.
Mit solchermaßen geschärftem Blick können wir uns nun der nächsten Variante über das Thema “Masse mit Klasse” nähern.
Hier finden wir alle erwähnten Details wieder, doch nun in Kombination mit einem nur zweitürigen geschlossenen Aufbau – in den Staaten als “Coach” bezeichnet, während der Viertürer als “Sedan” firmierte:

Auch mit nur zwei Türen waren diese Herrschaften einst mit Klasse unterwegs – denn im Deutschland der 1920er Jahre war selbst ein solcher Chevrolet für die allermeisten Bürger ein unerschwingliches Luxusobjekt.
Klasse finde ich an diesem Exemplar nicht zuletzt, dass wir die Namen der Besitzer kennen, welche vorne sitzen: Am Steuer haben wir Lotte Engler und neben ihr Ehemann Franz. Sie waren die Großeltern von Jochen Kruse, dem wir dieses schöne Dokument verdanken.
Hinten war offenbar reichlich Platz für die Passagiere – amerikanische Serien-“Kleinwagen” waren stets erwachsene Autos, keine mitleiderregenden Minimalmobile, wie sie so viele deutsche Phantasten in den 1920er Jahren ohne Erfolgsaussicht zu bauen versuchten.
Na, haben Sie sich schon ein wenig mit dem Konzept Masse mit Klasse vertraut gemacht?
Dann werden Sie keine Mühe haben, auch den folgenden Wagen als 1927er Chevrolet anzusprechen, obwohl die Chancen aus dieser Perspektive für gewöhnlich schlecht stehen:

Selbst ohne den “Chevrolet”-Schriftzug auf der Reserverradhülle ließe sich dieser Wagen identifizieren. Zwar wies das 1928er Modell noch ähnliche Details auf – doch der kurze Radstand verweist klar auf 1927.
Die beiden Damen, denen wir hier beim Einsteigen zusehen dürfen, sehen nicht so aus, als sei ihnen dieses Massenfabrikat in irgendeiner Weise peinlich – im Gegenteil werden sie gewusst haben, dass ein solcher Wagen im damaligen Deutschland der vermögenden Klasse vorbehalten war. Der Durchschnittsbürger besaß bestenfalls ein Fahrrad.
Doch selbst bei den Privilegierten, welche sich hierzulande einen Chevrolet leisten konnten, den in den Staaten jeder Arbeiter oder Bauer fuhr (wenn er nicht Ford bevorzugte) war zwecks Abgrenzung von der bloßen Masse in Sachen Klasse noch etwas drin.
Schauen Sie sich dazu einmal dieses Exemplar an – das ist doch eine Klasse für sich:

Für den an der Masse geschulten Blick ist der Fall klar: Auch das muss ein 1927er Chevrolet sein, aber einer mit Extra-Klasse!
Selbst die Nieten für den innenliegenden Halter des Vorderkotflügels sind an der richtigen Stelle. Oberhalb der “Gürtellinie” ist dieses Exemplar aus deutschen Landen jedoch eigen.
Ganz offensichtlich handelt es sich um die seltene Ausführung als zweisitziges Coupe mit im Heck befindlichen “Schwiegermuttersitz” – im Amerikanischen als “rumble seat” bezeichnet.
Das wäre es schon fast gewesen – viel mehr muss man über diesen Vertreter des basisdemokratischen Konzepts “Masse mit Klasse” gar nicht wissen.
Eines vielleicht aber doch: Der 1927er Chevy besaß sogar im Zylinderkopf hängende Ventile, ganz entgegen dem Standard, welcher Seitenventile bis in die 1930er Jahre vorsah.
Das und weiteres erfahren wir im folgenden Video, das einen Überlebenden genau dieses Typs zeigt, natürlich in den USA, wo noch tausende dieser prinzipiell für die Ewigkeit gemachten Wagen existieren.
Mit den Chevys und Fords der Vorkriegszeit ist auch heute für jedermann erschwingliche Vorkriegsmobilität möglich, wenn man Sinn für die Klasse eines gut abgestandenen Originals und kein Snob-Problem mit Masse hat…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Besten Dank für die Informationen!
Nicht nur die hängenden Ventile, sondern auch der Querstromkopf zeichnen die Konstruktion als “modern” aus. Die knapp 27 PS aus 2,8 l Hubraum lassen auch mit 4 Personen ein zügiges Fahren zu. Dazu gibt es, bei kompakten Außenmaßen, einen ausreichenden Innenraum und große Fenster.
Wunderbar zu fahren.