Eine Frau will nach oben: Renault um 1911

Vielleicht haben Sie schon einmal von “gläsernern Decken” gehört – eingebildeten (und daher unsichtbaren) Hindernissen, welche Frauen im 21. Jh. in unseren Gefilden davon abhalten, in hohe und gut bezahlte Positionen zu gelangen.

Böse Zungen behaupten, dass diese These bereits durch auffallend oft qualifikationsloses Politpersonal widerlegt wird. Aber dass wäre ja unvorstellbar, da doch schon bei einfachen Jobs hohe Anforderungen zu erfüllen sind, oder?

Bleiben wir bei den Verhältnissen in der freien Wirtschaft bzw. dem, was davon übrig ist. Niemand, wirklich niemand, der alle Sinne beisammen hat und es will, wird durch irgendwen oder irgendetwas davon abgehalten, Top-Qualifikationen in gefragten Berufsfeldern zu erlangen und einen Karriereweg bis in die obersten Etagen zu absolvieren.

Die Damen, welche dennoch anderes behaupten und sich von bösen Männern in patriarchalisch geführten Firmen kleingehalten sehen, können ja schlicht ihren eigenen Laden aufmachen und dort endlich Geschlechtergerechtigkeit praktizieren. Sicher wären dann die Chefetagen in der Autoindustrie oder der IT-Branche ganz anders besetzt, oder?

Damit wir uns recht verstehen: Tatsächlich meinte der Gesetzgeber hierzulande früher, mit absurden Vorschriften Frauen schon den Einstieg ins Berufsleben möglichst schwerzumachen. So mussten bis in die Nachkriegszeit verheiratete Frauen in Deutschland vor Aufnahme einer Berufstätigkeit eine Genehmigung des Ehemanns vorlegen.

Dass sich ein übergriffiger Staat in die persönliche Wahlfreiheit einmischt, ist also wahrlich nichts Neues – immerhin sind wenigstens diese Hürden später restlos abgebaut worden.

Zu Beginn meiner Berufstätigkeit im Finanzsektor zu Beginn der 1990er Jahre waren jedenfalls ehrgeizigen und fähigen Frauen längst keine Grenzen außer denen gesetzt, die sich selbst auferlegten.

Geht man weiter in die Vergangenheit zurück, waren die Verhältnisse grundlegend andere.

Bis zum 1. Weltkrieg war der Haushalt noch die Domäne der Weiblichkeit, weil irgendjemand diesen anspruchsvollen Job machen musste und die Männer dafür die körperlich noch fordernderen und oft hochriskanten übrigen Tätigkeiten übernahmen.

So äußerten viele Damen damals zwar den berechtigten Wunsch, ebenfalls das Wahlrecht zu erhalten – doch dass sie auch Zugang zu den “privilegierten” Männer-Arbeitsplätzen auf Segelschiffen oder Lokomotiven, im Bergbau oder in Stahlwerken, im Baugewerbe oder Chemiefabriken wünschten, ist nicht überliefert.

Man sieht: Nicht jede Ungleichverteilung in einer Gesellschaft war und ist zwanghaft als Ergebnis boshafter “Diskriminierung” zu werten.

Wie konnte aber eine Frau trotz aller Zwänge kurz nach der Jahrhundertwende nach oben gelangen? Nun, der einfachste Weg bestand darin, eine gute Partie zu machen.

Eine gute Partie auf’s Land erforderte nicht gleich den Gang zum Traualtar, sondern ließ sich damals bei den oberen Zehntausend bereits mit dem Automobil absovieren:

Renault Chauffeurlimousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Die Damen kommen einem hier nicht sonderlich durch das Patriarchat beeinträchtigt vor, auch wenn sie sicher keinen Franc zum Haushaltseinkommen beitrugen – von einer eventuell opulenten Mitgift abgesehen.

Gut gefällt mir hier zweierlei: Zum einen die galante Geste des Herrn mit Zylinder, zum anderen die lässige und durchaus selbstbewusste Haltung des Herrn über die Zylinder, welche sich unter der Haube dieses Wagens verbargen:

Dieser junge Mann war “nur” der Chauffeur der Familie, aber zugleich hochgeschätzt für sein Können, weshalb er hier wie selbstverständlich mitposiert.

Betrieb und Wartung eines solchen frühen Automobils erforderten große Kompetenz und äußerste Disziplin – gute Umgangsformen waren weitere Voraussetzungen, bei deren Vorliegen ein weit über dem Durchschnitt abhängig Beschäftigter liegendes Salär winkte.

Was aber war das für ein Fahrzeug, dessen Aufbau man als Chauffeur-Limousine oder auch Außenlenker bezeichnen würde?

Den einzigen Hinweis liefert die eigentümliche Gestaltung der Motorhaube, welche erkennen lässt, dass dieser Wagen keinen Kühler an der Front, sondern hinter dem Antriebsaggregat besaß.

Diese Anordnung und die daraus resultierende Formgebung war Anfang des 20. Jh typisch für Renault-Wagen, wurde aber auch zeitweilig von etlichen anderen Herstellern übernommen – darunter der weitgehend vergessenen deutschen Marke Komnick.

Ein Detail lässt mich annehmen, dass wir es tatsächlich mit einem Renault zu tun haben. Dazu werfen Sie bitte noch einmal einen Blick auf die Radnabe auf dem vorherigen Foto und prägen sich deren Gestaltung ein.

Nicht immer, aber oft war diese Partie markentypisch ausgeführt – im Idealfall war der Herstellername auf der Nabenkappe eingeprägt. Das ist hier zwar nicht der Fall, doch der Vergleich mit dem Renault auf folgendem Foto macht die Sache klarer:

Renault Landaulet um 1911; Bildquelle: “Renault – L’Empire de Billancourt”, J. Borgé und N. Viasnoff, 1977, S. 94

Diese Aufnahme stammt aus dem Standardwerk von Borgé/Viasnoff zu Renault-Automobilen – nicht mehr ganz taufrisch, aber etwas Besseres liegt mir nicht vor.

Der dort abgebildete Renault – mit Aufbau als Landaulet – weist nicht nur dieselbe Gestaltung von Haube und Rädern auf, sondern besitzt auch bereits eine Art “Schwellerblech” bzw. einen ledernen Schutz zwischen Trittbrett und Chassisrahmen.

Das findet man erst bei Renaults ab etwa 1910/11, was einen ungefähren Datierungshinweis liefert. Die frühen Wagen der Marke sind nicht leicht nach Entstehungszeitpunkt und Motorisierung zu unterscheiden.

Uns interessiert heute ohnehin etwas anderes: Wie kam damals eine Dame der feinen Gesellschaft entgegen allen Hindernissen leichtfüßig nach oben?

Das verrät uns ein kleines Detail auf folgendem Bildausschnitt:

Welches Detail ich meine, das wird spätestens bei Betrachtung der zweiten Aufnahme desselben Renaults klar, die mich bereits seit längerem fasziniert.

Der Abzug ist im Original von hervorragender Qualität – ich habe ihn bloß etwas zu grob aufgelöst eingescannt. Jedenfalls ist es ein beeindruckendes Dokument, auf dem uns zumindest eine Person bereits bekannt – der sympathisch wirkende Chauffeur.

Daneben finden sich zwei hervorragend gekleidete Herren, die hier auf vorzügliche Weise posieren und sich zu inszenieren wussten.

In den Schatten gestellt werden sie indessen von einer imposanten Dame, welche es hier tatsächlich nach oben geschafft hat, was angesichts ihrer Kleidung gewiss einiges Geschick und vielleicht etwas Förderung durch einen ihr zugetanen Herren erforderte:

Renault Chauffeurlimousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Na, was meinen Sie? Dieses Frauenzimmer wirkt nicht gerade wie ein Mauerblümchen, das unbeachtet am Wegesrande sein bescheidenes Dasein fristet.

Nein, diese Dame strahlt eine enorme Selbstsicherheit aus, die auf eine herausgehobene gesellschaftliche Position schließen lässt. Vielleicht war sie eine vermögende Witwe, welche in Wahrheit die Sponsorin dieses Ausflugs und Besitzerin des Wagens war.

Auf jeden Fall macht sie nicht den Eindruck, dass sie den beiden Herren in irgendeiner Form untergeordnet gewesen wäre – was hätte sie wohl zu den angeblichen Hindernissen gesagt, die ihre Geschlechtsgenossinen über 100 Jahre später auf dem Weg nach oben aufhalten?

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

4 Gedanken zu „Eine Frau will nach oben: Renault um 1911

  1. Übrigens: Das 2019 gezeigte Foto des K- Wagens mit der Zulassungs- Nr. ID- 105 ist auf
    DÜCK, Paul, Kaufmann eingetragen.
    ID – 104 und ID – 106 jeweils auf
    KOMNICK, F. , Fabrikbesitzer !

  2. Ja, ein gelebtes Stück Völkerfreundschaft ….
    Das ging bei meiner spontanen Teilnahme an der Lignitzer Verteranenrally 2004 als erster “wessi” so weit, daß mir eingedeckt der polnischen Fahrt- Unterlagen eine nette Studentin als Begleiterin in der DKW setzte. Auf Englisch hat das dann gut geklappt und sogar
    Zu einem Platz bei der Siegerehrung gereicht !

  3. Wieder ein schönes persönliches Puzzlestück, danke!

  4. Der Querverweis auf den Blog zu
    den Komnick- Wagen aus Elbing veranlasst mich, anzumerken, daß ich, der Komnick immerhin aus dem Literaturstudium kannte, mein kleines Traktoren Büchlein mitnahm, als wir 2009 zur Westpreussen – Rally des polnischen CAAR- Clubs aufbrachen, die das Städtchen Elblag an der Nogat als Standqurtier für eine Woche anlief. Beim Abschlußabend richtete ich einige Erinnerungs-worte zu Komnick an die Gemeinde und stieß auf große Verwunderung
    und natürlich großes Interesse,
    als ich “zum Beweis” das Büchlein herumgehen ließ.
    Unser Fremdenführer brachte nach Rücksprache dann die Nachricht, daß es sich um die nach dem Kriege als Omnibus- Reparaturwerk genutzten Fabrik- hallen gehandelt haben musste.
    Nach der Preis- Verleihung überreichte mir eine nette junge Teilnehmerin mit der Bemerkung, daß mein Beitrag nicht vergessen worden sei einen schönen Bildband ” Polen – Land beidseits der Weichsel”.
    Die Komnick- Werke, die nach dem Weltkrieg nur noch Traktoren sowie LKW produzierten, wurden dann in den Dreißiger Jahren der Büssing – NAG AG angegliedert.

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