Vor gut 100 Jahren ließ jemand in einem Fotogeschäft in Chartres – der französischen Kleinstadt mit einer der großartigsten gotischen Kathedralen – einen Fotoabzug seines Cabriolets anfertigen.
Das darauf abgebildete Auto sollte eigentlich unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Doch merkwürdigerweise will das nicht so recht gelingen – der Eindruck eines formidablen Automobils will sich einfach nicht einstellen.
Dass das schönste Umfeld bisweilen durch ein Detail „ruiniert“ oder sagen wir besser: relativiert wird, das kenne ich aus eigener Anschauung.
Gegenwärtig befinde ich mich in meiner zweiten Heimat im italienischen Umbrien, wo mir zwar nur ein kurzer Aufenthalt vergönnt ist – mehrwöchige arbeitsfreie Urlaube sind für Freiberufler wie mich utopisch – aber die wenigen Tage im Süden nutze ich intensiv.
Heute fuhr ich zum wiederholten Mal auf meinem alten Rad mit Geländebereifung die Strecke zwischen Collepino und Armenzano – entfernungstechnisch ein Katzensprung, aber die Steigungen dazwischen, teilweise auf Schotter, haben es in sich.
Auch der Zwischenhalt im Bergdorf San Giovanni hat es in sich. Das Örtchen präsentiert sich nach den Reparaturen an das letzte schwere Erdbeben zwar wie aus dem Ei gepellt.
Doch der deutsche Besucher erlebt hier wie so oft, dass speziell die jüngere Geschichte nicht einfach vergehen will:

Ist das nicht ein Idyll? Eine schlichte einschiffige Dorfkirche mit fast 1000 Jahren auf dem Buckel, ein altes Fahrrad von etwa 1980 davor, von mir umgebaut im Vintage Gravelbike-Stil.
Was könnte hier das Bild beeinträchtigen und auf die Stimmung schlagen? Nun, die Tafel auf dem Anbau daneben.
Ich will Ihnen die Details ersparen – auch hier wurden in Reaktion auf meist sinnlose Partisanenaktionen nach der Kapitulation Italiens in der Spätphase des 2. Weltkriegs unschuldige Zivilisten von deutschen Soldaten abgeführt, im schlimmsten Fall gleich erschossen oder in Zwangsarbeiterlager gebracht.
Erstaunlich überhaupt, wozu man damals logistisch noch in der Lage war, wenn es um solche Aktionen ging, während die Fronten zusammenbrachen. Es muss wohl Begeisterung bei den ausführenden „Herrenmenschen“ im Spiel gewesen sein, wenn es gegen die „Spaghettifresser“ ging, eine Vokabel, die auf die barbarischen Urheber zurückfällt.
So, und jetzt stehe ich heute mit meinem alten Radl am Ort des Geschehens, wo vor 90 Jahren deutsche Miitärfahrzeuge vorfuhren und irgendwelche jungen Männer aus San Giovanni einluden und einem ungewissen Schicksal zuführten.
Geschichte, die nicht vergehen will, so war doch das Thema, oder?
Nun erlaube ich mir einen Ortswechsel nach Frankreich, und jetzt gibt es mehr zu sehen als eine karge Steintafel, die an Gefallene und Deportierte aus einem zauberhaften Ort in Mittelitalien erinnert.

Mir ist bewusst, dass sich bei diesem Gefährt keine spontane Begeisterung einstellen will.
Das Cabriolet lässt es doch an französischer Eleganz mangeln, auch wenn es sich anhand des kuriosen Knicks im Kühlergehäuse als Chenard & Walcker identifizieren lässt.
Der Abgleich mit einigen Fotos im Netz brachte mich zu der Einschätzung, dass es sich wohl um ein Modell von ca. 1922 handelt. Leider sind die vielen französischen Marken der zweiten Reihe zumindest online kaum besser dokumentiert als ihre deutschen Pendants.
Doch vielleicht kennt sich ja ein Leser mit den Besonderheiten der Wagen von Chenard & Walcker aus und kann uns mehr über das genaue Modell verraten.
Unterdessen werfen wir nochmals einen Blick auf das Originalfoto, von dem ich bisher nur einen Teil gezeigt habe- hier nun das volle Programm:

Hier sieht man zum einen, dass die Aufnahme in einem Hafen entstanden sein muss, in dem gleich drei eher kleine Passagierdampfer nebeneinander lagen.
Zum anderen kommt man nicht umhin, den einbeinigen Mann zu bemerken, der auf Krücken rechts durchs Bild „läuft“.
Auch wenn es andere Gründe für eine Beinamputation gibt, scheint mir doch hier der wahrscheinlichere Tatbestand der zu sein, dass wir es mit einem Versehrten des 1. Weltkriegs zu tun haben – man sagte einst auch brutaler dazu: einem Krüppel.
So holt einen am Ende bei der Betrachtung einer an sich idyllischen Situation die Geschichte wieder ein – der man nicht entrinnen kann.
Sich mit ihr auseinanderzusetzen und persönliche Schlüsse daraus für’s Hier und Jetzt zu ziehen, auch das ist das Gebot solcher alten Fotos…
Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.



