Die Zwillingsforschung ist ein interessantes Feld – geht sie doch anhand früh getrennter Zwillinge der Frage nach, inwieweit sich deren spätere Persönlichkeit und Entwicklung trotz unterschiedlicher Lebensumstände dennoch gleicht.
Die Ergebnisse fallen ungünstig für diejenigen aus, die für menschliches Fehlverhalten reflexartig die Gesellschaft, den Kapitalismus oder den weißen Mann verantwortlich machen. Denn offenbar ist manches Angeborene viel stärker als jedes Milieu.
Aber auch die Verfechter des absolut freien Willens müssen zur Kenntnis nehmen: Unsere genetische Prägung grenzt den tatsächlichen Spielraum unserer Entschlüsse und unseres Handelns erheblich ein.
Schon meine eigene Amateur”forschung” anhand von Geschwisterpaaren in der eigenen Familie kommt zum Ergebnis: Es gibt ebenso ausgeprägte ererbte Persönlichkeitszüge wie anerzogene sowie – gern übersehen – selbst erarbeitete.
Was hat das mit Vorkriegautos zu tun? Nun, eine ganze Menge. Nehmen wir als Beispiel Charles W. Nash – den Gründer der gleichnamigen US-Marke. Seine Kindheit und Jugend hätten ihn nach üblichen Soziologen-Thesen zu einem Gewohnheits-Kriminellen oder zumindest Landstreicher machen müssen.
Mit sechs Jahre von den Eltern verlassen, dann zu einem Farmer in Obhut gegeben, der ihn schlecht behandelte. Mit zwölf rannte Charles davon, verdingte sich auf einer anderen Farm, lernte das Schreinerhandwerk, arbeitete dann in einem Lebensmittelladen, bei einem Kissenhersteller usw.
Wir überspringen einige berufliche Stationen. 1912 war Nash der Direktor von General Motors, 1916 gründete er seine eigene Automarke. Jemandem mit diesem Lebenshunger und Leistungsethos, mit dieser Laufbahn würde man doch eher jedes Staatsamt anvertrauen als jemandem ohne Berufs- oder Studienabschluss, nicht wahr?
Zurück zur Zwillingsforschung, die sich heute am besonders interessanten Fall von Drillingen abarbeitet.
Gegenstand der Betrachtung sind die drei Varianten des von Hans Ledwinka entwickelten Sechszylinderwagens, mit dem der östereichische Waffenhersteller Steyr 1920 in den Automobilbau einstieg und auf Anhieb erfolgreich war:

Das neu geschaffene Steyr-“Waffenauto”, so eine zeitgenössische Bezeichnung, war äußerlich so markant wie technisch raffiniert.
Dank im Zylinderkopf v-förmig hängenden Ventilen und obenliegender Nockenwelle war der Motor hocheffizient und drehfreudig. Die Leistung von 40 PS reichte für gut 100 km/h Spitze.
Die ausgezeichnete Grundkonstruktion, die sich insbesondere im anspruchsvollen Terrain Österreichs bestens bewährte, wurde vom Steyr Typ II über den Nachfolger Typ V (1924) bis zum Typ VII (1925) beibehalten. Während Fahrwerk und Antrieb in Details verbessert wurden, blieb die Optik bis zur Einführung des Flachkühlers praktisch dieselbe.
So kann die obige Aufnahme sowohl einen Steyr Typ II als auch einen Typ V zeigen. Diese ernüchternde Erkenntnis verdanke ich dem österreichischen Steyr-Kenner Thomas Billicsich. Selbst die dritte Version – der Typ VII – unterscheidet sich äußerlich kaum.
Hier haben wir eine weitere Aufnahme, die einen Steyr mit identischem Aufbau zeigt – nur der runde Wartungsdeckel an der hinteren Blattfederaufnahme fehlt hier. Das mag kleinen Änderungen innerhalb ein und derselben Serie geschuldet sein:

Während auch hier ungewiss bleibt, ob wir einen Steyr Typ II oder V vor uns haben (selbst der Typ VII ist nicht gänzlich ausgeschlossen), kann ich heute zumindest kleine Erfolge auf dem Feld der Drillingsforschung vermelden.
Denn während bei vielen Abbildungen dieser Steyr-Spitzkühlermodelle eine genaue Typansprache kaum möglich erscheint, gibt es doch Ausnahmen. Hier haben wir die erste, dank Leser Matthias Schmidt aus Dresden:

Dieser Steyr-Tourer besitzt eine meines Wissens nur beim frühen Steyr Typ II verbaute Karosssrie.
Sie unterscheidet sich von den sonst zu sehenden sehr schlicht und geradlinig gehaltenen Aufbauten durch die nach hinten ansteigende und leicht nach innen geneigten Schulterlinie. Dies war eine Ausführung, wie sie kurz nach dem 1. Weltkrieg im deutschprachigen Raum in Mode war, aber bald wieder zugunsten rein funktioneller Linienführung verschwand.
Man sieht auf dieser Aufnahme auch eine spezielle Verschlusskappe über der Wartungsöffnung an der vorderen Aufnahme der hinteren Blattfeder, die sich nur bei frühen Exemplaren des Steyr III findet, sofern man der Literatur trauen kann.
Übrigens ist auch die Türgestaltung archaischer als bei den beiden weiter oben gezeigten Exemplaren. Spätere Ausführungen des Steyr Typ II scheinen dann tatsächlich nahezu identische Aufbauten besessen zu haben wie der Typ V, jedenfalls beim Tourer.
Kommen wir nun zum letzten Objekt unserer Drillingsforschung – meines Erachtens ein Steyr des späten Spitzkühlertyps VII mit 50 statt 40 PS bei gleichem Hubraum (3,3 Liter):

Verzeihen Sie zunächst die mäßige Qualität dieser Abbildung. Das Originalfoto ist wesentlich größer, stark verblasst, fleckig und ziemlich unscharf. Mehr ließ sich trotz einiger Korrekturen leider nicht herausholen.
Jetzt könnten Sie ja fragen, woran überhaupt zu erkennen ist, dass dies ebenfalls ein Steyr ist. Solche Spitzkühler-Tourer gab es schließlich auch von einigen anderen Herstellern, beispielsweise Simson aus Suhl (Thüringen).
Nun, es ist die Summe mehrerer Übereinstimmungen, die mein Urteil begründet: die Position der Schublade oder Klappe im Schweller, die Form der Türen, die Gestaltung der Nabenkappen, die Zahl von Radbolzen und -speichen sowie die ansatzweise zu erkennenden hohen Luftschlitze in der hinteren Hälfte der Motorhaube.
Ein Detail weicht aber ab – haben Sie’s bemerkt?
Dieser Stey weist als einziger der bisher gezeigten eindeutig Vorderradbremsen auf – die großen Trommeln sind klar zu erkennen. Das ist – wenn ich die Literatur richtig interpretiere – ein dem Steyr Typ VII ab 1925 vorbehaltenes Merkmal.
Hinweise auf zumindest optional erhältliche Vorderradbremsen beim immerhin bis 1925 gebauten Typ V konnte ich nicht finden. Mich wundert das ein wenig bei einem ganz klar als Reisewagen für den Alpenraum konzipierten Automobil.
Da verbaute man einen Tank im Heck, der – halten Sie sich fest – satte 100 Liter fasste und ergänzte einen Reservetank mit nochmals 60 Litern Volumen vor der Frontscheibe. Das reichte locker, um von Salzburg nach Florenz ohne Tankstopp zu fahren.
Und ausgerechnet für so einen geborenen Alpenbezwinger soll es 1924/25 (Steyr Typ V) keine Vorderradbremsen gegeben haben? Kann ich kaum glauben.
Vielleicht lässt sich dieser Punkt von sachkundiger Seite noch klären. Auch sonst sind ergänzende/korrigierende Hinweise zu den Ergebnissen meiner heutigen Drillingsforschung wie immer willkommen – schöne Fotos solcher Steyr-Wagen aber auch!
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.