Wer meint, zu historischen Kraftfahrzeugen sei längst alles gesagt und bekannt, muss sich immer wieder eines Besseren belehren lassen. Was in der einschlägigen Literatur und den oft daraus abgeleiteten Artikeln im Netz zu lesen ist, stellt nur einen Ausschnitt und eine Momentaufnahme dar.
Verlässt man sich beispielsweise auf die Standardwerke zu Automobilen aus dem deutschen Sprachraum, wird man bei österreichischen Herstellern neben Steyr nur noch Gräf & Stift genannt finden. Dem Verfasser kam diese angebliche Markenarmut in der Alpenrepublik schon immer merkwürdig vor.
Begnadete Konstrukteure hat die einst mächtige K.u.K.-Monarchie ja einige hervorgebracht – die bekanntesten sind Ferdinand Porsche und der Tatra-Entwickler Hans Ledwinka. Doch muss es in der Metropole Wien auch etliche Fahrzeughersteller gegeben haben, die bloß in Vergessenheit geraten sind – ähnlich wie einstige Marken aus Berlin (NAG usw.).
Ein Beispiel dafür ist auf folgendem Originalfoto der 1920er Jahre zu sehen:
© W.A.F. Tourenwagen der 1920er Jahre; Fotoquelle: Sammlung Michael Schlenger
Der Verfasser besitzt diese Aufnahme schon einige Zeit und hat etliche Versuche zur Identifizierung des abgebildeten Tourenwagens unternommen. Erst der Erwerb des nur antiquarisch erhältlichen “Georgano” (The New Encyclopedia of Motorcars: 1885 to the Present) ermöglichte eine Zuschreibung.
Der Georgano ist das Standardwerk zu allen (!) Automarken der Welt im englischen Sprachraum. Dort finden sich auch Abbildungen zu Wagen deutschsprachiger Hersteller, die die einheimische Literatur vermissen lässt. Beim Durchblättern der Publikation stieß der Verfasser auf die Abbildung eines ganz ähnlichen Wagens unter dem Eintrag W.A.F. Dabei handelt es sich um die Wiener Automobil-Fabrik, die nur von 1911 bis 1925 bestand.
W.A.F.-Wagen waren Qualitätsautomobile wie auch die Produkte der einheimischen Konkurrenten Steyr und Gräf & Stift. Man orientierte sich stilistisch an englischen Oberklassewagen, wie folgende Vergrößerung der Frontpartie erkennen lässt:
Hinter dem Schutzgitter würde man einen Rolls-Royce-Kühler vermuten, wenn nicht die kompakteren Ausmaße des Wagens dagegensprächen. Nach dem 1. Weltkrieg, als man nur LKW für die K.u.K.-Armee baute, produzierte W.A.F. einige Vier-, Sechs- und Achtzylindermodelle, die großzügig motorisiert waren.
Wagen von W.A.F. genossen einen ausgezeichneten Ruf, wurden aber wie so oft in keinen wirtschaftlich lohnenden Stückzahlen produziert. Daher ging diese Qualitätsmarke schon Mitte der 1920er Jahre wieder unter.
Wenn nicht alles täuscht, ist unser Foto eines der wenigen, die einen W.A.F-Tourenwagen der 1920er Jahre zeigen. Mangels Vergleichsmaterial lässt sich nicht eindeutig sagen, ob es sich um ein 11/35 PS (4-Zylinder) oder 21/45 PS (6-Zylinder)-Modell handelt. Beide waren für damalige Verhältnisse gut motorisiert.
Werfen wir zum Abschluss noch einen Blick auf die Insassen des Wagens:
Die ernst dreinschauenden Herren sind Offiziere oder Unteroffiziere der deutschen Reichswehr der 1920er Jahre, wie an den typischen Schirmmützen zu erkennen ist. Die beiden vorne Sitzenden tragen Schutzbrillen, wie sie bei Piloten und Motorradfahrern jener Zeit verbreitet waren. Der Passagier links vorne trägt eine Armbanduhr, die nach dem 1. Weltkrieg die Taschenuhr abgelöst hatte.
Dem Alter nach zu schätzen dürften diese Soldaten bereits den 1. Weltkrieg mitgemacht haben. Die zuvor modischen opulenten Schnauzbärte waren inzwischen glatter Rasur oder schmalen Schnurrbärten gewichen.
Wie diese Gesellschaft an den mutmaßlichen W.A.F-Wagen gelangt war, lässt sich nicht mehr klären. Das Nummernschild mit der Ziffern-Buchstabenkombination “IE” verweist jedenfalls auf eine Zulassung des Autos in der Provinz Brandenburg.
Wenn die Identifikation des Tourenwagens als Produkt der Wiener Automobil-Fabrik zutrifft, dürfte es sich um das Privatfahrzeug eines der Insassen gehandelt haben. Der Besitzer wäre dann zweifellos ein Gourmet in dieser Hinsicht gewesen, denn W.A.F.-Wagen waren stets etwas Besonderes. Und so verhält es sich erst recht heute.