Für gewöhnlich bemühe ich mich, bei meinen kleinen Essays über Vorkriegsautos auf alten Fotos möglichst viele Details verständlich zu machen.
Für den Kenner mag das ermüdend sein, aber ich denke dabei auch an Leser, welche die Welt der frühen Automobile gerade erst zu entdecken beginnen und für die manches gestalterische oder technische Element noch rätselhaft ist.
So weiß ich, dass mancher Leser der Faszination von Vorkriegsautos erlegen ist, ohne selbst eines zu besitzen oder auch nur haben zu wollen. Das kann sich natürlich ändern, so leiste ich gern einen Beitrag dazu, das Besondere an diesen Fahrzeugen zu vermitteln.
Dabei stelle ich immer wieder fest, wie vieles noch ungeklärt ist und sich hartnäckig der Identifikation entzieht. Manchmal verbringe ich – statt im Blog zu schreiben – einige nächtliche Stunden damit, solche Rätsel zu knacken.
Gestern beispielsweise konnte ich so auf einem meiner Fotos einen “Mors” aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg dingfest machen – die Aufnahme werde ich gelegentlich hier präsentieren.
An anderen Fällen beiße ich mir nach wie vor die Zähne aus – etwa an diesem gigantischen Wagen, dessen Konterfei mir Leser Klaas Dierks vor längerem zugesandt hat:

Bislang konnte ich nicht herausfinden, was für ein Fabrikat hier als Basis für eine wohl nachträgliche Modifikation diente.
Die Bremstrommeln an den Vorderrädern sprechen in Verbindung mit der Rechtslenkung für eine Entstehung um 1924/25, sofern es sich um ein Fabrikat aus dem deutschen Sprachraum handelt.
Drahtspeichenräder findet man in dieser Größenklasse oft bei österreichischen Herstellern, aber das schließt Marken aus anderen Regionen nicht aus.
Gegen eine Datierung in die zweite Hälfte der 1920er Jahre spricht das weitgehende Fehlen von Glanzteilen – speziell die lackierte Kühlermaske erscheint bei einem dermaßen großzügigen Auto merkwürdig.
Vorschläge zur Identifikation werden gern angenommen – bis dahin befassen wir uns mit einem Automobil derselben Kategorie, zumindest was die Abmessungen angeht.
Immerhin lässt sich hier das Fabrikat klar benennen – es handelt sich um einen Maybach des Typs 22/70 PS (intern: W3), der von 1922 bis 1928 im Angebot war:

Doch selbst dieses eindrucksvolle Fahrzeug mit seinem dank 5,7 Litern Hubraum enorm souveränen 6-Zylindermotor wirft bei näherer Betrachtung mehr Rätsel auf, als dass er Fragen beantwortet.
Dummerweise sah kaum einer dieser Manufakturwagen aus wie der andere – und wäre da nicht das gut erkennbare Maybach-Logo auf der Zentralmutter der Räder, wäre selbst die Ansprache als Wagen der Friedrichshafener Prestigeschmiede nicht ganz trivial.
Bei einer recht langen Bauzeit von sechs Jahren sollte es doch zumindest möglich sein, das abgebildete Exemplar zeitlich etwas näher einzuordnen, aber so einfach ist das gar nicht.
Werfen wir dazu als Erstes einen Blick auf die Frontpartie:

Die durchgehende Reihe hoher Haubenschlitze scheint es beim W3 durchgängig gegeben zu haben, nur beim ersten, noch 1921 vorgestellten Maybach dieses Typs findet sich eine abweichende Gestaltung.
Ebenfalls unverändert blieben nach meinem Eindruck die glattflächig gestalteten Räder. Die Doppelstoßstange nach US-Vorbild würde der Ausführung eher auf eine Entstehung des Wagens ab Mitte der 1920er Jahre schließen lassen.
Oft wurden solche Bauteile aber auch später nachgerüstet, sodass wir dieses Detail nicht überbewerten dürfen.
Ein wirkliches Rätsel wirft die Farbgebung der Scheinwerfer auf. Schwarz sind sie nicht, vergleicht man den Ton mit dem der Räder.
Könnten die Lampengehäuse vernickelt und stark angelaufen gewesen sein? Warum aber sollte man sie im Unterschied zur Kühlermaske unpoliert lassen?
Die leicht schrägstehende und mittig unterteilte, jedoch nicht gepfeilt ausgeführte Frontscheibe lässt sich irgendwo um die Mitte der 1920er Jahre verorten. Ein bei luxuriösen Tourenwagen durchaus nicht seltenes Zubehör war die umklappbare Windschutzscheibe zum Schutz der rückwärtigen Passagiere:

Wer bei der Gelegenheit zumindest sagen, welche Geistesgröße auf dem Denkmal hinter dem Maybach zu sehen ist, möge das kundtun. Ich tippe auf einen Dichter oder Musiker des frühen 19. Jahrhunderts.
Dass der Fahrer hier noch rechts am Lenkrad sitzt, hilft uns auch nicht weiter. Während andere deutsche Hersteller um 1925 auf Linkslenkung umstellten, hielt Maybach selbst beim ab 1926 gebauten noch stärkeren Typ W5 27/120 PS an der Rechtslenkung fest.
Aus lauter Verzweiflung werfen wir noch einen letzten Blick auf den Maybach und zwar auf eine Partie, die normalerweise am wenigsten Aufschluss bei Vorkriegsautos gibt – die Schweller- und Heckpartie:

Hier findet sich statt Antworten auf unsere drängenden Fragen ein weiteres Rätsel: Wozu diente die runde Öffnung in der Schwellerpartie unterhalb der vordere Tür?
Man findet sie auch auf Fotos anderer Wagen dieses Typs und – wie es scheint – ein Pendant auf der anderen Fahrzeugseite. Was für eine Achse oder Welle könnte sich hier befunden haben, die ab und zu nach etwas Schmierung verlangte?
Um die Sache aber zum Schluss noch rätselhafter zu machen, sei folgendes angemerkt: Die eigentümliche, nur halbhohe Verkleidung der dunklen Rahmenpartie und die glänzende Einfassung des hinten hochgezogenen Trittbrettbelags fand ich genau so an einer Limousinenausführung eines anderen Maybach in der Literatur (Harry Niemann, Karl Maybach – seine Motoren und Automobile, Motorbuch-Verlag, 2004, S. 81).
Besagtes Exemplar besitzt dieselbe Stoßstange, ist aber anhand der Kühlerfigur klar als der stärkere Typ 27/120 PS (W5) erkennbar. Entweder die Zuschreibung des Fotos stimmt nicht, oder auch der Maybach auf dem von Jörg Pielmann zur Verfügung gestellten Bild ist gar kein W3, sondern ebenfalls ein W5 aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre.
Sie sehen – heute gibt es mehr Fragen und Rätsel als Antworten – und ich hoffe, dass sich jemand findet, der uns erleuchten kann.
Bis dahin erbauen wir uns im nächsten Blog-Eintrag an einem anderen Kandidaten, dessen Identifikation denkbar klar ist – aber kaum weniger reizvoll…
Nachtrag: Leser Ulrich Landeck aus der Schweiz hat eine Hypothese hinsichtlich des Herstellers der Karosserie beigesteuert. Er sieht erhebliche Ähnlichkeiten zu einem Maybach dieses Typs, der einst von der Firma Christian Auer (Bad Cannstatt) eingekleidet wurde.
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.