Früher war alles besser, da sind wir uns doch sicher einig – jedenfalls, was Automobile betrifft. Vor allem war früher alles einfacher, und das will ich heute beweisen.
Nehmen wir an, Sie wollten vor 100 Jahren Chauffeur werden. Dann mussten Sie zwar eine anspruchsvolle Schulung absolvieren, welche – das garantiere ich – kein moderner Gaspedalritter unvorbereitet bestehen würde.
Aber wenn es am Ende um etwas so Banales wie einen Sehtest ging, dann machte man kurzen Prozess und legte dem Kandidaten schlicht ein verwackeltes Foto vor wie dieses:

“So, werter Herr Blechschmidt, bisher haben Sie sich ja wacker geschlagen. Ihre Chancen auf eine Anstellung als Chauffeur bei Frau von Hochmuth stehen recht gut.
Als letztes – nur eine Routinesache – wollen wir in Erfahrung bringen, wie es um Ihren scharfen Blick im Straßenverkehr bestellt ist.
Es kann nämlich sein, dass Ihre Brötchengeberin, einer plötzlichen Laune folgend ausruft: “Bruno, mein Bester, sagen Sie geschwind: Was war das für ein Tourer mit den frechen Damen an Bord, dem wir im Grunewald ausweichen mussten?“
Sie sehen, dass hier Ihre Geistesgegenwart und ein sicheres Auge gefragt sind. Also?”
An dieser Stelle darf man nichts ins Schwitzen geraten, auch wenn es im Hochsommer wie heute nie dagewesene 28 Grad Celsius hat. Stattdessen gilt es kühlen Kopf zu bewahren und die Linien des flott bewegten Wagens zu studieren:

“Auf den ersten Blick meint der Laie hier einen Benz mit Spitzkühler vor sich zu haben”, entgegnen Sie wissend.
“Doch zwei Dinge verraten dem Kenner auf dem Felde des zeitgenössischen Automobils, dass uns hier etwas Rareres, gar Raffinierteres begegnet ist.
Erstens finden sich bei Benz-Wagen nicht dergleichen breite und weit nach oben reichende Luftschlitze in der Haube.
Zweitens ist anzuführen, dass die Form des Spitzkühlers keineswegs der Konvention bei solchen aus dem Hause Benz entspricht. Vielmehr ist festzuhalten, dass der Ausschnitt des Kühlergrills vollkommen rechteckig ist.”
Als Eleve im Prüfungsstress liegen Sie damit richtig. Zum Vergleich betrachten wir hier einen typischen Benz mit Spitzkühler der frühen 1920er Jahre:

“Ausgezeichnet beobachtet haben Sie das, Herr Blechschmidt. Man könnte noch anmerken, dass auch die vorn spitz auslaufenden Kotflügel eher selten bei dem Mannheimer Fabrikat zu finden sind.
Gleichwohl kann ich Ihnen die abschließende Frage nicht ersparen: Wenn wir es schon nicht mit einem Benz zu tun haben, was ist es dann, was uns da begegnet ist – nun?”
An dieser Stelle mögen sich kurzzeitig einige Schweißperlen auf der Stirn manifestieren und der Puls geht etwas hoch. Doch wie in jeder Prüfungssituation setzt der Druck die entscheidenden Kräfte frei, die erforderlich sind, um am Ende zu bestehen.
Sie erinnern sich an eine Begebenheit vor ein paar Jahren. Da trafen Sie irgendwo auf dem Lande einen Tourer mit genau dieser Gestaltung von Kühler und Motorhaube. Sie waren bloß mit dem Zweirad unterwegs, dennoch gab der Chauffeur gerne Auskunft:
“Ja, das fragen mich viele Leute, was das für ein Wagen ist. Ich will es Ihnen sagen.
Im Örtchen Burgrieden in Württemberg gibt es eine feine Automobilfabrik, die ein Herr Steiger aus der Schweiz nach dem Kriege geschaffen hat. Dort baut man in Manufaktur diese Wagen, welche sich durch Ventiltrieb über obenliegende Nockenwelle auszeichnen.
Vermutlich ist Ihnen bekannt, dass solche Konstruktionen einen besonders präzisen Gaswechsel ermöglichen und überdies erhöhte Drehzahlen vertragen.”
Natürlich wissen Sie das als Enthusiast, auch wenn Sie vielleicht nur mit einer Einzylinder-DKW unterwegs sind. Doch diese Begegnung weckte in Ihnen den Wunsch, eines Tages selbst einen Wagen zu chauffieren.
So mag es gekommen sein, dass Sie nun die Prüfung zum professionellen Fahrer absolvieren, deren Bestehen Ihnen Zugang zu höchsten Kreisen und ein weit besseres Gehalt ermöglicht, als es ein Arbeiter oder einfacher Angestellter sonst bezog.
Und so können Sie am Ende die Frage des Prüfers souverän beantworten:
“Nach meinem Dafürhalten haben wir es mit einem Tourenwagen der Marke Steiger aus Burgrieden zu tun, nur die genaue Motorisierung muss offenbleiben. In Frage kommen der Typ 10/50 PS, aber auch ein frühes Exemplar der stärkeren Version 11/55 PS.”
So verhält es sich und genauer werden wir es auch heute nach rund 100 Jahren kaum mehr bestimmen können.
Damit wäre dieser unkonventionelle, aber zuverlässige Sehtest bestanden und Sie können sich künftig weiteren Herausforderungen in Sachen Vorkriegswagen stellen…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.