“Wieder einmal ein Graham-Paige, naja…” mögen verwöhnte Leser meines Blogs nun denken. Dabei sollten sie sich ihrer Privilegien bewusst sein, wenn ihnen dieser kurzlebige US-Hersteller überhaupt bekannt ist.
Tatsächlich wird man einem Graham-Paige in deutschen Landen heute nur sehr selten begegnen – sei es in natura, sei es in irgendeinem der gängigen “Oldtimer”magazine. Aber bei mir spielen US-Fabrikate die Rolle, die ihnen zukommt – eine sehr prominente.
So häufig wie sie im Deutschland der 1920/30er Jahre anzutreffen waren, so häufig werden sie auch hier anhand zeitgenössischer Fotos besprochen, möglichst mit deutscher Zulassung.
Man lernt dabei schnell dazu, doch vor Hochmut sei gewarnt, denn die Welt der US-Vorkriegswagen hat einschüchternde Dimensionen. Egal, wieviel man meint zu wissen, immer wieder stößt man auf Situationen, in denen Demut angezeigt ist:

Auf dieser köstlichen Aufnahme, die uns Leser Klaas Dierks zur Verfügung gestellt hat, ist die Rollenverteilung klar ersichtlich: Wer sich mit diesem Auto auskennt, verdient Respekt, und zum illustren Kreis der Kenner zu gehören, dafür muss man dankbar sein.
“Wo wir sind, ist oben”, das ist die Botschaft der Besitzer und des Wagens, der sich auf den ersten Blick als Graham-Paige zu erkennen gibt. Ohne den entsprechenden Schriftzug auf dem Kühlergrill wäre das kein so klarer Fall, denn das Auto könnte sonst als verkleinerter Cadillac des Modelljahrs 1929 durchgehen.
Dabei hatte die erst 1928 gegründete Marke Graham-Paige mit der Cadillac-Mutter General Motor herzlich wenig zu tun – die namengebenden Graham-Brüder kamen aus dem Nutzfahrzeuggeschäft, das sie 1926 an Dodge verkauft hatten.
Doch kam man Ende der 1920er Jahre am GM-Styling schwer vorbei, wenn man auf den Massenmarkt abzielte. Und so folgen Kühlergestaltung und die Anordnung der Luftschlitze in den hinteren zwei Dritteln der Motorhaube dem Vorbild von Cadillac:

Selbst solche schlichten Scheibenräder waren beim Cadillac ebenfalls verfügbar.
Eine Besonderheit des Graham-Paige von 1929 war der “Kamm” oben auf den Scheinwerfergehäusen, der die Gestaltung des Kühlerdeckels aufnahm. Auch die Doppelstoßstange des Wagens ist etwas anders ausgeführt als beim zeitgleichen Cadillac.
Wie man es bei Graham-Paige fertigbrachte, im selben Modelljahr die wichtigsten Erkennungsmerkmale des Cadillac zu kopieren, wirft Fragen auf. Möglicherweise zirkulierten frühzeitig Zeichnungen von Prototypen in einer Branche, in der man sich infolge von Kooperationen und häufigem Arbeitgeberwechsel gut kannte.
Ansonsten stellt uns dieser Graham-Paige vor keine besonderen Herausforderungen. Das Nummernschild sagt alles über die Zulassung – in der Handels- und Hansestadt Hamburg waren US-Fabrikate kaum weniger gängig als in Berlin.
Apropos Berlin: Dort war einst genau solch ein Graham-Paige des Modelljahrs 1929 unterwegs, den ich bereits vor längerem (hier) vorgestellt habe:

Die Identifikation dieses Wagens hatte mich seinerzeit viel Zeit gekostet – mit dem Wissen von heute wäre das dagegen ein Kinderspiel. Hier kann man auch die gegenüber den mächtigen Cadillacs moderateren Proportionen nachvollziehen.
Noch etwas ist aufschlussreich: Man erkennt nämlich, dass das Auto Kurbelscheiben und ein niederlegbares Verdeck besitzt. Dennoch ist es kein Cabriolet, denn dann dürfte es keine feststehenden Türpfosten haben, von denen eine sichtbar ist.
Genau dasselbe Detail findet sich an dem Graham-Paige aus Hamburg:

Einen solchen Aufbau mit Cabriolet-Verdeck und feststehenden Türsäulen bezeichnete man damals als Sedan-Cabriolet – Vorläufer der später in Deutschland so beliebten Cabriolimousine.
Doch solches Detailwissen ist es noch nicht, was einen so demütig stimmen sollte wie den Hund, der hier “Männchen” gegenüber seiner Herrin macht. So etwas weiß man einfach, spätestens dann, wenn man einige Jahre diesen Blog verfolgt hat.
Doch erst heute grub ich ein weiteres Detail zu Graham-Paige aus, das bestimmt nicht jedem geläufig ist, egal wie lange man sich schon dem alten Blech widmet.
Stets auf der Suche nach Wortspielen und Sprachbildern für den Einstieg in den jüngsten Blog-Eintrag sinnierte ich darüber, was sich der Rolle des prächtigen Hundes abgewinnen ließe, der sich hier scheinbar vollkommen in die Hierarchie einfügt.
Dabei kam mir der Gedanke, dass wir es hier in zweifacher Hinsicht mit einem treuen Diener des Menschen zu tun haben – einem vierbeinigen und einem vierrädrigen. Dann sagte mir mein Sprachgefühl, dass so etwas im Namen des Wagens anklingt.
Tatsächlich passt der Namensbestandteil “Paige” genau dazu. Denn dieser geht auf die spätlateinische Bezeichnung “pagius” für einen jungen Diener zurück, die im Mittelalter auf Umwegen ins Englische Einzug hielt. Jetzt weiß man nebenbei auch, woher der “Page” im Deutschen kommt, auch wenn der es nicht in einen Autonamen geschafft hat.
Doch ist es nicht meine Schuld, wenn Sie bei “Graham-Paige” jetzt immer an den Hochstapler Felix Krull denken, der seine Karriere ebenfalls als Page begann…
© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.