Eigentlich wollte ich heute das Ende der Skisaison ausrufen – denn ich habe das passende Foto dazu! Doch dann werfe ich einen kurzen Blick nach draußen: Da tanzen doch tatsächlich ein paar Schneeflocken durch die Luft!
Verflixt, jetzt muss ich schnell das Motto wechseln. Denn die Erfahrung zeigt, dass in meiner Heimatregion – der hessischen Wetterau – die Winter zwar meist milde sind, doch kann es bis in den April hinein immer noch Rückschläge mit Frost und Schneefall geben.
Da mir eine Prognose vor dem Hintergrund riskant erscheint, ich aber den Frühling kaum erwarten kann, will ich ihm zumindest auf diesem Wege mitteilen, dass er von mir aus lieber früher als später kommen kann.
Und als passende Geste dazu packen wir nun die Skier wieder ein und machen den Wagen klar für die Heimfahrt in der Hoffnung, dass uns der Frühling mutig auf dem Fuße folgt.
Natürlich sind wir in einem Tourenwagen der Vorkriegszeit unterwegs, es gibt ja kaum eine stilvollere Form der Fortbewegung, und gleich steigen alle in das Auto. Aber wo tut man eigentlich die Skier hin, wenn dieses vollbesetzt und das Dach offen ist?
Nun, da wusste man sich zu helfen, denn statt eines Dachgepäckträgers hatte man einst wohlgeformte Kotflügel, welche geradezu ideal für die Aufgabe geeignet waren:

Man sieht: für diese Herrschaften war der Winter definitiv vorbei – kalt war es wohl noch, aber Schnee ist nirgends mehr zu sehen.
Also kann es heimgehen, was in diesem Fall die Fahrt nach Bozen in Südtirol bedeutet, wenn ich das Nummernschild richtig interpretiere.
“Ein eleganter Amerikanerwagen ist das ja!”, mag man jetzt denken. Zugegeben: Auf den ersten Blick ähnelt das Auto einem US-Fabrikat von Mitte/Ende der 1920er Jahre. Vor allem die Gestaltung der Stoßstange würde dazu passen.
Doch dann bemerkt man, wie ungewöhnlich flach dieser Tourenwagen baut. Denkt man sich die aufgesteckten Seitenscheiben – eine leichte Konstruktion aus Zelluloid und Kunstleder auf Holzrahmen – ist die Seitenlinie nur etwa hüfthoch.
Dennoch handelt es sich nicht gerade um einen kleinen Wagen – wie ist das möglich? Tja, dazu bedarf es einer Sache, die man jenseits des Atlantiks, aber auch nördlich der Alpen oft schmerzlich vermisst – italienisches Stilempfinden.
Nicht nur Lancia bekam beim legendären Lambda das Kunststück hin, einen großzügig bemessenen und gut motorisierten Wagen unerhört niedrig zu bauen. Auch der Hersteller unseres heutigen Skitransporters beherrschte diese Kunst.
Dabei handelt es sich um eine Firma, die Automobile eher nebenher baute – den traditionsreichen Waffenhersteller Ansaldo aus Turin. Wagen der Marke werden Sie vereinzelt auch in meinem Blog finden, doch bislang kaum einen dieser Klasse:

Wenn ich richtig liege, haben wir hier ein Exemplar des Sechszylindertyps 6B in der Ausführung von 1927/28 vor uns, dessen 2,2 Liter Motor mit obenliegender Nockenwelle über 50 PS leistete, was locker für über 100 km/h Spitze reichte.
Die Italiener hatten im Norden die dafür geeigneten Schnellstraßen dafür, lange bevor in Deutschland großspurig Autobahnen für die Volksgenossen gebaut wurden, die sich in der weit überwiegenden Mehrheit überhaupt kein Auto leisten konnten…
Nun haben wir noch zwei, drei Tage, bevor der Urlaub zuende ist – was läge da näher, noch rasch einen Abstecher an den Comer See zu machen und bei der Gelegenheit besagte “Autostrada dei Laghi” auszuprobieren, die seit 1925 von dort nach Mailand führt?
Die schnurgeraden Abschnitte nach Mailand nehmen wir mit Dauervollgas – darauf war der Ansaldo ausgelegt. Die Marke genoss auch deshalb einen hervorragenden Ruf.
Wir haben aber noch einen Grund zur Eile, denn abends haben wir Opernkarten für die Mailänder Scala! Vorher wirft man sich im Hotel in Schale, dann geht es im Ansaldo direkt vor’s Opernhaus:

Gerade will unsere Gesellschaft ein Erinnerungsfoto mit dem Wagen vor der prächtigen Fassade machen, da geschieht, was geschehen muss. Ein deutscher Tourist – nach Teutonenart nachlässig gekleidet – stellt sich frech ins Bild und lässt sich dort ablichten.
Dabei steht er so hölzern da, als habe er einen Karabiner geschultert, dabei hält er sich bloß an seinem Kameragurt fest, der Arme.
Man sieht, wie die Umstehenden – nach Mailänder Art stadtfein zurechtgemacht und durchweg “bella figura” machend – erstaunt bis fassungslos der Szene beiwohnen. Der Herr neben der dunklen Limousine greift sich sogar an den Kopf:

So ist leider Blick auf den Ansaldo ruiniert, dabei haben wir uns sogar die Mühe gemacht, die Skier abzumontieren, um ja nicht unangenehm aufzufallen.
Die ganz Schlauen unter Ihnen werden natürlich bemerkt haben, dass es sich nicht um exakt dasselbe Auto handelt und ich mir die kleine Story bloß ausgedacht habe. “Se non e vero e almeno ben trovato”, pflegt man in Italien dann zu sagen – wenn die Geschichte schon nicht wahr ist, ist sie doch wenigstens gut erfunden (hoffe ich).
Jetzt kann es sein, dass einer in Sachen Vorkriegsautos keinen Spaß versteht und darauf drängt, für diesen Verstoß gegen die historische Genauigkeit entschädigt zu werden.
Auch solche strengen Gemüter sind bestechlich, meine ich. Auch sie werden schwach, wenn man ihnen nur das richtige Material direkt vor die Nase hält. Und alle übrigen werden es ohnehin genießen, was ich zum Abschluss aus dem Hut zaubere.
Der elegante Stil des Ansaldo 6B der späten 1920er Jahre ließ sich nämlich in unwiderstehliche Weise noch auf die Spitze treiben.
Das unternahm die Karosseriebaufirma Bertone, wie folgendes Foto belegt, das ich auf der Facebook-Präsenz der italienischen Oldtimer-Zeitschrift “Ruote Classiche” fand:

Noch enger auf den Leib schneidern ließ sich das Blechkleid sicher nicht bei diesem Ansaldo 6B von 1928.
Dem stolz daneben posierenden Herrn – wohl der Besitzer – reicht das Auto gerade bis zur Hüfte wie bei dem eingangs präsentierten Exemplar. Doch hat es Bertone geschafft, hier auch den Vorderwagen genauso niedrig zu halten – ein Meisterstück!
Mit so einem Ansaldo jubelnd dem Frühling entgegenzufahren, der sich in den nächsten Wochen von Italien aus nach Norden vorarbeitet – davon wenigstens zu träumen, ist alles, was uns Nachgeborenen vergönnt ist.
Draußen wirbeln immer noch ein paar Flocken – vielleicht sollte ich demnächst auch wieder einen meiner therapeutischen Aufenthalte im gesegneten Land südlich der Berge antreten…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.