Es gibt viele Gründe, mit den Verhältnissen der Gegenwart zu hadern – speziell wenn man noch Zeiten kennt, in denen unser Gemeinwesen wohlorganisiert und leistungsfähig war, Eigenverantwortung den Vorrang hatte und der Sozialstaat auf Notlagen konzentriert war.
An der Misere einer ausufernden und freiheitsraubenden, dabei zunehmend inkompetenten Bürokratie kann der Einzelne zwar nichts ändern, dennoch pflege ich zu sagen, dass jeder von uns ein klein wenig mitverantwortlich für den Zustand unserer Welt ist.
Dazu gehört es, seinen Mitmenschen in der Öffentlichkeit freundlich zu begegnen und ihnen so wenig zur Last zu fallen wie irgend möglich. Dazu gehört für mich auch das äußerliche Erscheinungsbild.
Rücksicht auf seine Mitmenschen zu nehmen heißt demnach, ihnen keine Anblicke zuzumuten, die ihnen peinlich sein können. Unrasiert vor die Tür zu gehen, mit für den Sport reservierter Funktionsbekleidung oder mit bleichem behaartem Gebein, das muss nicht sein.
Früher war nur wenig besser, aber die Etikette in Sachen Bekleidung war es. Das galt keineswegs nur für besondere Gelegenheiten wie Theaterbesuch, Hochzeiten oder sonstige Festivitäten.
Dass Stil auch im Alltag, gerade im Kleinen, das Miteinander erträglicher, ja erfreulicher gestaltet, davon erzählen unzählige Bilder der Vorkriegszeit.
Heute will ich dies anhand eines alten Bekannten illustrieren, der nicht für die Welt der vermeintlich Schönen und Reichen steht, sondern ein bürgerlich-solider Kleinwagen war – der Hanomag 3/16 PS in der Ausführung als hübsches Zweisitzer-Cabriolet:

Von dem 1929 eingeführten Wagen – dem ersten vollwertigen Auto des Maschinenbaufirma aus Hannover – haben sich zahlreiche Fotos erhalten. Dabei ist mir aufgefallen, dass darauf fast immer ausgesprochen stilbewusste Zeitgenossen posieren.
Manche davon orientierten sich an Vorbildern aus dem Kino, die damals durchweg noch erfreuliche Anblicke und keine abgewrackten Gestalten waren.
Das folgende Paar könnte als deutsche Version von Bonnie & Clyde durchgehen (auch wenn der Film mit der Traumbesetzung aus Warren Beatty und Faye Dunaway später entstand):

Daneben war es durchaus erlaubt, sich ein wenig lasziv zu geben – auch dafür gaben die Filmstars jener Zeit auf der Leinwand und in Gesellschaftsmagazinen die Vorbilder ab.
In jedem Fall orientierte man sich in solchen Situationen “nach oben” – auf die Idee, sich nach Art von Straßenarbeitern und Seeleuten, oder gar Pennern und Prostituierten zu kleiden, wäre kaum jemand gekommen.
Ein wenig verrucht, mit etwas Schlafzimmerblick oder den Füßen auf der Sitzfläche (wenn es die eigene war) durfte es freilich schon sein – unsere Altvorderen waren nicht verklemmt:

Seien Sie ehrlich meine Herren: Diesen hübschen Kleinwagen mit seiner adretten Insassin hätten Sie doch jedem dicken Benz mit ebensolcher Fabrikantengattin vorgezogen, oder?
Unabhängig von den Qualitäten der Beifahrerin war der Hanomag 3/16 PS als 2-Sitzer-Cabriolet aus meiner Sicht der schönste deutsche Kleinwagen, bis die noch attraktiver gestalteten DKW-Frontwagen herauskamen.
In dieser Hinsicht lag auch die zeitgenössische Werbung ausnahmsweise richtig:

Auch die Figur der abgebildeten jungen Dame entsprach der Wahrheit, denn nach meinem Eindruck findet man nur schlanke Frauenzimmer in und neben dem Hanomag 3/16 PS Cabriolet.
Der Kontrast zu den vom Tortenessen aufgegangenen und früh gealterterten Matronen, die einem schlecht gelaunt dreinschauend allzuoft auf Fotos deutlich größerer deutscher Wagen begegnen, ist auffallend und immer wieder erfreulich:

Heute würde der unschuldige kleine Hanomag vermutlich der Diskriminierung bezichtigt, war er doch nur Menschen mit schlanker Figur zugänglich und schätzte auch mit Blick auf die schmale Motorleistung überzählige Pfunde gar nicht.
Dafür hatte er eine verzeihliche Schwäche für gut aussehende Damen mit mädchenhafter Figur und Sinn für Stil auch im Kleinen. Das können wir gleich anhand zweier neu aufgetauchter Originalfotos nachvollziehen.
Zugegeben: Auf der ersten Aufnahme sieht man von den Insassen noch nicht viel. Doch dafür können wir hier einige auffallende Abweichungen im Stil des Wagens selbst studieren:

Die Scheibenräder besitzen auf einmal Radkappen und vorne ist eine Doppelstoßstange nach amerikanischem Vorbild angebracht. Außerdem sind die trommelförmigen Scheinwerfern schüsselförmigen gewichen.
Das könnte man noch unter optionalem Zubehör verbuchen, doch eine Sache hat sich auch karosserieseitig geändert: Der Windschutzscheibenrahmen folgt jetzt an der Unterseite der Wölbung des Windlaufs.
Zusammengenommen deuten diese Details auf eine modellgepflegte Variante des bis 1931 gebauten Hanomag 3/16 PS hin. Denkbar ist aber auch, dass wir es hier mit dem etwas stärkeren Typ 3/17 PS zu tun haben, welcher 1931/32 gebaut wurde.
Eindeutig sagen lässt sich das mangels Bildmaterials leider nicht, es sei denn ein Leser kann hier mit klar identifizierten Vergleichsexemplaren weiterhelfen.
Übrigens trägt dieses Foto auf der Rückseite den Vermerk 6/32 PS. Dieser dürfte aus der Erinnerung des einstigen Besitzers resultieren, ist aber mit Sicherheit falsch. Denn diese Motoriserung war die des Mitteklassemodells Hanomag “Rekord” ab 1933.
Wie dem auch sei, heute zählt ohnehin nur der Stil im Kleinen und in dieser Hinsicht kann ich zum Schluss mit dem ultimativen Beweisfoto aufwarten.
Das Paar im eben gezeigten Wagen hat uns nämlich auch den Gefallen getan, neben dem Auto zu posieren:

Ist das nicht ein erfreulicher Anblick? Soviel Eleganz im Kleinformat war einst möglich.
Dabei war die gewinnend lächelnde Dame in perfekter Pose selbst nicht die Größte. Gerade einmal 1,60m dürfte sie gemessen haben, legt man die Dimensionen des Hanomag zugrunde. Mit guter Figur und perfektem Stil macht sie das allemal wett.
Wie gesagt: Auch wir kleinen Leute sind mitverantwortlich für den Zustand der Welt – jeden Tag. Also bitteschön: Wenn Sie das nächste Mal vor die Tür gehen, beherzigen Sie das Diktum des Modegenies, Fotografen und fanatischen Sammlers Karl Lagerfeld:
“Wer in der Öffentlichkeit einen Jogginganzug trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren”. Zumindest das soll uns nicht passieren, mag auch sonst alles zuschanden gehen…
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.