Böse Zungen behaupten, dass man in Deutschland mit einer kostenlosen Bratwurst viele Leute zu allem Möglichen bringen kann. Dem Hörensagen nach soll man damit Menschen sogar dazu motiviert haben, sich unerprobte Impfstoffe fragwürdiger Wirkung verabreichen zu lassen.
Dass erscheint mir allerdings so unglaublich, dass ich es mir nicht vorstellen will. Schon für eher wahrscheinlich halte ich es dagegen, dass einst ein Auto aus Belgien für eine Bratwurst nach Nürnberg kam. Ich kann sogar ein Foto als Beleg dafür vorweisen.
Dabei dürfte allerdings weniger der im Ausland legendäre Ruf deutscher “Spezialitäten” der Auslöser gewesen sein. Auch war es gewiss kein Belgier, der für eine Nürnberger Bratwurst den weiten Weg auf sich genommen hat.
Das wäre sogar schon zu einer Zeit abwegig gewesen, als Belgien noch nicht im Zuge zweier deutscher Feldzüge gegen Frankreich gründlich verheert worden war. Wir reisen nämlich heute in die Zeit direkt vor dem 1. Weltkrieg zurück.
Damals scheint das Verhältnis noch unbelastet gewesen zu sein, jedenfalls was den Austausch automobiler Expertise angeht. Die belgische Autoindustrie war ähnlich weit entwickelt und vielschichtig wie die in Frankreich.
Deutsche Konstrukteure arbeiteten damals für belgische Firmen und diese wiederum befruchteten Hersteller hierzulande mit Ideen und Lizenzen. Zu den Autobauern aus Belgien, die in Deutschland eine gewisse Marktposition erlangten, gehörte neben Metallurgique und Minerva die Firma FN aus Herstal – eigentlich ein Waffenhersteller.
Selbst nach dem 1. Weltkrieg fanden FN-Wagen noch Käufer in deutschen Landen (etwa dieser und dieser). Das früheste Beispiel in meiner Fotosammlung ist indessen dieses:

Dass es sich bei diesem Tourer um einen FN handelt, das verrät die Kühlergestaltung mit fünf horizontalen Streben, rundem Markenemblem und großem kronenförmigen Kühlerverschluss (hier nur schemenhaft zu erkennen).
Den Dimensionen nach dürfte es sich um eines der ab 1908 gebauten leichten Modelle gehandelt haben, die für damalige Verhältnisse sehr kompakte Vierzylindermotoren besaßen.
Von 1,4 Liter wuchs der Hubraum bis 1913 auf 1,6 Liter. Die Konstruktion änderte sich in diesem Zeitraum kaum, es blieb bei einem Aufbau aus zwei Blöcken zu je zwei Zylindern.
Allerdings spendierte man der letzten vor dem 1. Weltkrieg entstandenen Ausbaustufe ein Vierganggetriebe und der zuvor hinter der Motorraum befindliche Tank wanderte ins Heck.
Mit so einem Modell 1600 von 1912/13 haben wir es hier aus meiner Sicht zu tun, wobei ich den direkten Vorgängertyp 1560 von 1911 nicht ganz ausschließen würde.
Solche leichten FN-Wagen wurden gern als sportlich aussehende Zweisitzer gekauft, aber Tourer waren ebenfalls erhältlich. Eine Höchstgeschwindigkeit von über 70 km/h wird ihnen ebenso zugeschrieben wie ein relativ elastischer Motor und gut wirkende Bremsen (Quelle).
FN-Automobile wurden international exportiert, noch heute finden sich Exemplare in Großbritannien oder Neuseeland beispielsweise. Es gab sie aber auch in Deutschland, wenngleich hier keiner überlebt zu haben scheint.
So müssen wir uns mit dieser Ansichtskarte aus Nürnberg begnügen, die es mitsamt abgelichtetem FN-Tourer bis in die Gegenwart geschafft hat:

Tatsächlich hatte der FN hier an einer traditionsreichen Bratwurstgaststätte haltgemacht – welche den kuriosen Namen “Bratwurstglöcklein” trug.
Die Örtlichkeit lässt sich bis ins Spätmittelalter zurückverfolgen. Angelehnt war das Häuschen mit der Braterei an die gotische Moritzkapelle. So sah das vielerorts aus, bevor man im 19. Jahrhundert die Kirchenbauten von solchen Anhängseln befreite.
Das Bratwurstglöcklein indessen verschonte man, es galt als erhaltenswertes Traditionslokal. Keine solchen Rücksichten nahmen freilich die Alliierten, die in zahlreichen Bombenangriffen bis 1945 die einzigartig erhaltene Altstadt Nürnbergs vernichteten.
Die durch Sprengbomben zerstörte Moritzkapelle gehörte nicht zu den Bauten, die man nach Kriegsende wiedererrichtete (oft in vereinfachter Form, aber besser als alles, was man andernorts in den 1950/60er Jahren verbrach – Ausnahme: München).
Nun könnte man meinen, dass das Zerstörungswerk in Nürnberg bloß dem entsprach, was beispielsweise in Belgien von deutschen Truppen angerichtet worden war (siehe mein Blog-Eintrag hier). Gewiss, aber das rechtfertigt doch den Massenmord an wehrlosen Zivilisten und die Zerstörung kulturellen Erbes an anderer Stelle nicht, oder?
Verbrechen bleibt Verbrechen – auf allen Seiten. Das nüchtern festzustellen, ist ein Gebot der Redlichkeit – gerade mit dem nötigen historischen Abstand – wenn man in Europa gemeinsam und unbelastet prosperieren möchte, wie das vor dem 1. Weltkrieg immerhin ein paar Jahrzehnte der Fall war.
Daran mahnt dieses so friedlich und beschaulich anmutende Foto eines FN an einem Ort, wie einmal so typisch deutsch war, wie man sich das nur vorstellen kann.
Der Besitzer des Wagens stammte übrigens dem Nummernschild nach zu urteilen selbst aus Nürnberg. Das dürfte erklären, weshalb er ausgerechnet hier seinen FN abgestellt hatte. Vermutlich saß er zum Aufnahmezeitpunkt draußen am Tisch – für’ne Bratwurst…

Nachtrag: Andrew Brand aus Melbourne (Australien) – selbst ein FN-Sammler – schrieb mir, dass es sich um einen FN des Typs 2100 handelt. Die Wagen der Serien 1400, 1500, 1560 und 1600 hatten alle 10-Speichen-Hinterräder. Der in Nürnberg abgelichtete FN hat jedoch 12-Speichen-Hinterräder und man sieht durch die Speichen reichende Bolzen zur Befestigung der Bremstrommel. Nur der Typ 2100 wies dieses Detail auf.
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.