Zu den harmlosen menschlichen Macken gehört für mich der Markentick.
Während meiner Schulzeit stand den Trägern von Lacoste-Hemd und Levis-Jeans die Fraktion derer gegenüber, die sich von solchem Fetischismus frei wähnten – dabei aber nicht bemerkten, dass sie mit ihrem alternativen Look ebenso stereotyp daherkamen.
Die Uniform aus BW-Parka, Palästinensertuch und Doc-Martens-Stiefeln bei den Jungs und Mädels der Nicaragua-Front entlockte mir damals manche spöttische Bemerkung. Bei kontroversen Themen flogen verbal die Fetzen, Klassenkameraden blieben wir dennoch.
Die in den letzten Jahren wiederbelebten mittelalterlichen Kategorien von Verfehlung und Verdammnis gab es damals nicht – überhaupt war die ultraliberale Bundesrepublik der 1980er Jahre für mich in jeder Hinsicht das beste Deutschland, das es je gab.
Zu den Markenprodukten, die ich damals für mich entdeckte, gehörten beispielsweise “Diesel”-Jeans. Die waren nicht so sexy geschnitten wie andere, weckten aber die Assoziation von Werkstattleben und Schrauberei an Zwei- und Vierrädern.
Sie sehen: Ich fühlte mich schon früh zur satanischen Welt der fossilen Kraftstoffe hingezogen, als es nur für eine 50er Vespa, später eine 500er Yamaha (die legendäre SR) und einen 1200er VW reichte.
Als der wackere Käfer bei Kilometerstand 220.000 das Zeitliche segnete, war der Zeitpunkt für eine neue Markenleidenschaft gekommen: ich wurde MG-Fetischist!
Das Kürzel steht für die gut aussehenden/klingenden und bezahlbaren Sportwagen der gleichnamigen englischen Marke – in meinem Fall ein MGB GT.
Das MG-Oktagon ist zudem ein Beispiel für ein Markenemblem, das es an Einfachheit und Wiedererkennungswert mit denen von Mercedes und BMW aufnehmen kann. So abwegig es erscheint, sind wir damit fast schon bei der Vorkriegsmarke, um die es heute geht:

Hier weist das Markenlogo nur sechs statt acht Ecken auf, ist aber ebenso markant und ein Leitmotiv für jeden Markenfetischisten in Sachen “Essex”!
Dieser Hersteller klingt zwar britisch, war aber eine Tochtergesellschaft der amerikanischen Marke Hudson. Man wollte damit auf den europäischen Markt zugeschnittene Fahrzeuge anbieten.
Dass Essex in Großbritannien nicht gerade den Ruf genießt, zu den reizvollsten Regionen zu zählen (für weniger verwöhnte Festlandsbewohner lohnt dennoch ein Besuch), entging den US-Markenstrategen.
Aber mit dem Auto trafen sie ins Schwarze. Es gibt nur wenige amerikanische Marken, die einem in den 1920er Jahren dermaßen oft auch in deutschen Landen begegnen.
Um das zu erkennen, bedarf es schon eines gewissen Markenfetischismus. Dazu werfen wir nochmals einen Blick auf einen 1928er Essex, wie wir ihn oben schon kennengelernt haben:

Erkennen Sie die marken- und modelljahrtypischen Elemente?
Wieder weist der Kühler senkrechte Lamellen auf und trägt das sechseckige Essex-Logo, wieder besitzt die Doppelstoßstange dasselbe Emblem und wieder sind die Parkleuchten auf einer Zierleiste hinter der Motorhaube angebracht, die sich so nur beim 1928er Essex findet. Bei der Gelegenheit seien auch die optisch zweigeteilten Kotflügel und die von der Wölbung des Wagenkörpers abweichende Krümmung der Frontscheibe erwähnt.
Mit entsprechend geschärftem Markenfokus lässt sich auf einmal selbst ein schlecht wiedergegebener Wagen wie dieser auf Anhieb korrekt ansprechen:

Na, was meinen Sie? Ein 1928er Essex natürlich. Das habe ich aber auch erst dieses Wochenende herausgefunden, als ich mich näher mit dieser Ausführung beschäftigt habe.
Hat man einmal den Bogen heraus, finden sich entsprechende Fahrzeuge allerorten. Gewohnheitsmäßig kaufe ich möglichst billige Fotos von Vorkriegswagen an, die nicht auf den ersten Blick erkennen lassen, was darauf zu sehen ist.
Manches schöne Zeugnis würde sonst im Ausschuss landen, wenn man nicht die Brille des Markenfetischisten auf der Nase hätte. So wäre es doch wirklich ein Verlust, wenn eine so schöne Szene für alle Zeiten in Vergessenheit geräte:

Normalerweise wäre ein Foto wie dieses ein hoffnungsloser Fall, da mag sich die junge Dame noch so intensiv die Lektüre der Wegbeschreibung zum Ziel vertieft geben.
Nur die Gestaltung des Halters der Parkleuchten hinter der Motorhaube verrät, dass auch diese Limousine ein weiterer in Deutschland zugelassener Essex des Modelljahrs 1928 war.
“Ach, diese Ami-Limousinen sehen doch irgendwie alle gleich aus”, mag jetzt ein von meinen langatmigen Ausführungen ermüdeter Leser seufzen. “Bleiben Sie noch einen Moment wach!”, möchte ich ihnen entgegenrufen.
“Speziell die Herren interessieren sich doch bestimmt für Geschäftsangelegenheiten, nicht wahr? Wäre da nicht ein Essex in der Ausführung als Business Coupé reizvoll?”
“Mmh, schon. Aber das war doch auch bloß Massenware”, mögen Sie jetzt denken. Stimmt, doch selbst das schnödeste US-Fabrikat wird durch eine schöne Frau geadelt. Und das will man sich doch wirklich nicht entgehen lassen:

Versuchen Sie es ruhig: So oft Sie den Blick auf die Essex-typischen Elemente zu fokussieren versuchen, so oft holt sie der Sex-Appeal dieses Fotomodells wieder ein.
Sie müssen deshalb kein schlechtes Gewissen haben – wir sind schließlich eine Art Selbsthilfegruppe nicht nur in Sachen altes Blech auf antiken Fotos. Wir wollen ja auch unseren Altvorderen begegnen und ihren Stil studieren, der in den besten Fällen solcher wunderbaren Zeugnisse der Symbiose von Mensch und Maschine ermöglicht.
Ich könnte an dieser Stelle abbrechen und ich bin sicher, die meisten von Ihnen wären glücklich damit. Doch ich kann noch einen draufsetzen, nicht nur was das menschliche Element angeht, sondern auch das eigentliche Thema des Markenticks.
Denn ohne Markenfetischismus und den damit einhergehenden Sinn für Symbolik wäre es nicht einfach gewesen herauszufinden, was das für ein Auto war, das auf diesem Foto zu sehen ist, welches mir Andreas Friedmann zur näheren Bestimmung zugesandt hat:

Natürlich ist das auch ohne Kenntnis des als Staffage dienenden Wagens ein wunderbares Dokument – inszeniert zwar, doch zugleich spontan und hinreißend charmant.
Eine der jungen Damen auf der Stoßstange des Autos war vermutlich die Großmutter der Frau von Andreas Friedmann, ganz sicher ist das nicht.
Auch über den Aufnahmeort gibt es nur Mutmaßungen – vielleicht erkennt ein Leser die Situation mit der Fabrikanlage vor dem Hintergrund eines Hügelrückens. Leider lässt sich zum Kennzeichen nur sagen, dass es auf eine Zulassung im Raum Brandenburg verweist.
Den Wagen konnte ich anhand des mittig auf der Stoßstange angebrachten Essex-Markenemblems als einen weiteren “Super Six” von 1928 identifizieren.
Rätselhaft bleibt indessen die Kühlerfigur – eventuell besteht laut Andreas Friedmann ein Zusammenhang mit der Baufirma von Heinrich Meyer aus Arzberg. War das vielleicht ein privates Markenzeichen?

Jetzt sind Sie an der Reihe, liebe Leser, das ist ein klarer Fall für Leute mit Markentick! Und noch etwas: Hat vielleicht irgendein Markenfetischist in Deutschland einen dieser einst so verbreiteten 1928er Essex-Wagen in die Gegenwart gerettet?
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.