Heute las ich einen Artikel über die altehrwürdigen “Bundesjugendspiele”, welche schon zu meiner Grundschulzeit in den 1970er Jahren abgehalten wurden. Darin hieß es, dass man die Ergebnisse der Teilnehmer beim Laufen, Springen, Werfen usw. nicht mehr genau festhalte, denn “Kinder können nichts mit diesen absoluten Zahlen anfangen”.
Das glaube ich in Zeiten des “Schreibens nach Gehör” und anderer Experimente an den wehrlosen Grundschülern sogar. Exaktes Rechnen und Vergleichen kann ja auch zu unschönen Erkenntnissen führen – davor muss die Jugend unbedingt geschützt werden.
Nun gehöre ich jedoch einer Generation an, die noch Schlimmes erlitten hat, was den Umgang mit Zahlen betrifft – ich musste sogar einen Beruf daraus machen: erst als Kaufmann, dann als Volkswirt (mit dem gefürchteten großen Statistikschein…).
Von daher kann ich nichts dafür, wenn ich heute den braven Sechszylindertyp 6/30 PS von NSU aus dem Jahr 1928 einem unbarmherzigen Vergleich mit dem 1927 eingeführten Adler Standard 6 unterziehe.
Wie kann ich nur so grausam sein – der NSU hat doch von vornherein keine Chance, oder? Nun, dass ich ihn gegen der Adler antreten lassen, das hat er sich selbst zuzuschreiben, denn rein äußerlich tat er ganz schön groß:

Mit über vier Metern Gesamtlänge und geräumiger Sechsfenster-Karosserie will dieser Wagen offenbar hoch hinaus. Dazu passend hat ihm NSU einst den ersten selbstkonstruierten Sechszylindermotor verpasst.
Ende der 1920er Jahre war ein Sechszylinder die Voraussetzung dafür, einigermaßen mit der erdrückenden Konkurrenz der preiswerten und gut ausgestatteten US-Importmodelle mithalten zu können, auf die zeitweise rund ein Drittel des deutschen Markts entfiel.
Nun mögen Sie denken, dass NSU mit diesem bieder anmutenden und schwach motorisierten Gefährt von vornherein chancenlos war. Dabei war die Tourenwagenversion durchaus gelungen, nicht wahr?

In der Tat kommt hier der von italienischen Modellen inspirierte Kühler mit klassischer Silhouette gut zur Geltung – so aufgenommen, wirkt das Gefährt beinahe sportlich.
Allerdings war der gerade einmal 1,6 Liter messende Motor mit seinen 30 PS Spitzenleistung zwar kultiviert, aber wenig durchzugsstark. 80 km/h waren damit maximal drin – genug für die Landstraße, aber für gebirgiges Terrain war der kompakte Antrieb nicht ideal.
Dennoch meinte man bei NSU, dem Chassis auch einen großen geschlossenen Aufbau verpassen zu müssen – und zwar genau denselben, den die Berliner Karosseriefabrik Ambi-Budd unter anderem an die Adler-Werke in Frankfurt am Main lieferte.
Prägen Sie sich bitte die Details des Aufbaus des NSU ein – speziell die Anordnung der seitlichen Zierleisten und Türscharniere:

Bei der Gelegenheit sei auch auf die kleinen Radkappen mit den nur vier Bolzen verwiesen, wie man das sonst eher an Kleinwagen fand.
Jetzt unternehmen wir einen großen Sprung, obwohl sich an Radstand und Wagenlänge kaum etwas tut – dafür aber unter der Haube und vor allem in stilistischer Hinsicht.
Dazu wenden wir uns einer “neuen” Aufnahme eines alten Bekannten zu – des Adler “Standard 6” aus Frankfurt am Main.
Wir hatten diesen Wagen bereits einige Male zu Gast – wie auch sein Vierzylinder-Pendant “Favorit” – beide gehörten zu den meistverkauften deutschen Mittelklassewagen ihrer Zeit.
Nun aber zum “Standard 6” – hier anhand eines Fotos von Leser Matthias Schmidt (Dresden):

Obwohl dieser Wagen praktisch dieselben Abmessungen hat wie der NSU und mit identischem Limousinenaufbau von Ambi-Budd daherkam, spielte er in einer anderen Liga.
Das betrifft zum einen die weit raffiniertere, an US-Vorbildern orientierte Kühler- und Haubenpartie. Allein die Kühlerfigur und die Scheinwerferstange mit einer “6” in einer Raute machen mächtig etwas her. Die Gestaltung der Räder verweist ebenfalls auf die gehobene Klasse des Wagens.
Die eigentliche Stärke lag jedoch im Verborgenen. Hinter den Rädern arbeiteten unauffällig vier hydraulische Bremsen – die ersten an einem deutschen Serienwagen. Und unter der Motorhaube fand sich ein Sechszylinder, der mit 2,5 Litern Hubraum und 45 PS das Mehr an Elastzität und Spitzenleistung bot, welches man beim NSU vermisste.
Der kleine Sechszylinder aus Heilbronn mit den äußerlich großen Ambitionen krankte zudem an einer veralteten Kühlung (Thermo-Siphon-Prinzip) und anderen Malaisen, welche erst die Ingenieure von Fiat behoben, nachdem die Turiner die Autofabrikation von NSU 1929 übernommen hatten.
So musste sich der NSU-Sechszylinder dem Adler letztlich klar nach Punkten geschlagen geben – aber auch gestalterisch war er kaum konkurrenzfähig. Nur beim Preis von 6.600 Mark (für die Limousine) hatte er die Nase vorn (Adler: 7.700 Mark).
Allerdings waren dies ohnehin Sphären, in die sich damals kein Durchschnittsverdiener verirrte. Nur wenige Betuchte konnten sich in Deutschland überhaupt ein Automobil leisten – meist reichte es bei Otto-Normalverbraucher nur für ein Fahrrad.
Von daher irritiert es ein wenig, dass NSU sich so gar keine Mühe gab, wenigstens mit etwas Zierrat um die anspruchsvolle Kundschaft zu buhlen.
Aber so ist das im Leben – am Ende kann nicht jeder Sieger sein. Womit wir wieder zurück bei den eingangs erwähnten Bundesjugendspielen wären. Ich weiß es noch genau: Neun Jahre alt war ich im Jahr 1978 und erhielt eine Urkunde, auf der stand: “Zweiter Sieger”.
Dieser offenkundige Unfug hat mich damals so irritiert, dass ich den Moment bis heute in Erinnerung behalten habe. Der fatale Feldzug gegen das Leistungsethos hierzulande hat tatsächlich schon viel früher begonnen, als man es gemeinhin denkt…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.