Dass man nicht mehr ganz jung ist, das registriert man spätestens dann, wenn man bemerkt, dass man sich mehr mit der Vergangenheit als mit der Zukunft beschäftigt.
Ich für meinen Teil war früh schon ganz schön alt, denn mich hat bereits als Jugendlicher die Beschäftigung mit dem Altertum fasziniert – noch bevor die Leidenschaft für historische Mobilität erwachte.
Kein Wunder, wenn man in einem Zipfel des römischen Imperiums großwurde, in dem römische Kastelle, Villen und Straßen in großer Zahl ihre Spuren hinterlassen haben – der hessischen Wetterau.
Den Sommer zwischen Abitur und dem Beginn des Wehrdienstes verbrachte ich 1988 als Hilfskraft auf einer archäologischen Ausgrabung in meiner Geburtsstadt Bad Nauheim. Dieser faszinierenden Erfahrung folgten nach Monaten des Eingrabens als Panzergrenadier “beim Bund” etliche weitere Ausgrabungskampagnen während meiner Semesterferien.
Beeindruckende jungsteinzeitliche Siedlungsreste, raffinierte keltische Siedeanlagen, großzügige römische Gutshöfe und beigabenreiche Friedhöfe sowie erschütternd primitive alamannische Behausungen der Spätantike – das waren bei Wind und Wetter meine Aufenthaltsorte unter Aufsicht der Wetterauer Kreisarchäologie.
Von der dabei erworbenen körperlichen Fitness profitiere ich heute noch, wenn es darum geht, irgendwelches unerfreuliches Nadelgehölz im Garten mit Stumpf und Stiel aus dem Boden zu holen – mit Kreuzhacke, Spaten und Schaufel wie einst.
Und der Sinn für’s Detail, der beim maßstabsgerechten Zeichnen von Bodenverfärbungen, Fundamentresten und Schnitten durch Abfallgruben oder Gräber geschärft wurde, ist mir heute noch beinahe täglich dienlich, wenn ich mich in alte Autofotos versenke.
Die Entdeckerfreude kommt auch dabei keinesfalls zu kurz, und an einem solchen Fund will ich Sie heute teilhaben lassen. Zuvor muss ich an ein attraktives “Frisurmodell” erinnern, das ich vor zweieinhalb Jahren hier präsentiert habe.
An sich ging es dabei um eine Sportversion des NSU 5/25 PS von Mitte der 1920er Jahre, doch für jeden Zeitgenossen, der neben der Autoverrücktheit auch mit dem Sinn für die sonstigen Schönheiten des Daseins ausgestattet ist, war der Star sicher die junge Dame, die uns hier mit intensivem Blick fesselt und den Wagen zum Statisten macht:

Mit dem erwähnten Spürsinn und systematischem Vorgehen des Archäologen war es mir seinerzeit gelungen, diesen auf den ersten Blick etwas beliebig wirkenden Tourenwagen als NSU 5/25 PS zu identifizieren.
Beweisen konnte ich das damals nicht, aber ich war mir meiner Sache so sicher, wie man in einem solchen Fall sein kann. Auch wenn es sich hier nur um die “unfrisierte” Serienversion dieses NSU-Modells handelte, ließ sich thematisch trefflich an der dunklen Lockenpracht der Insassin anknüpfen – sodass wir es auch hier mit einem Frisurmodell zu tun hatten.
Diese hübsche Begegnung war mir längst entfallen, als ich gestern abend die virtuelle Schaufel ansetzte und bislang noch nicht abschließend durchsiebte Hinterlassenschaften vergangener Akivitäten in meinem Mail-Friedhof auf etwaige Trouvaillen durchsuchte.
Dabei stieß ich auf eine Botschaft des Besitzers obigen Fotos – Klaas Dierks – mit der ich mich damals wohl nur oberflächlich befasst hatte. Auf einem weiteren Foto aus seiner Sammlung war nämlich nun ganz eindeutig ein NSU zu sehen, dazu musste man nicht einmal Archäologie studiert oder praktiziert haben:

Ein irres Foto, nicht wahr? Wer würde so etwas fabrizieren?
Da hat man schon so ein Paar filigrane Damenbeine als willkommene Bereicherung des Automotivs “zur Verfügung” und belässt es einfach dabei. Niemand, der bei Sinnen ist, würde so etwas machen, nicht wahr?
Nun, ich muss mich im vorliegenden Fall selbst dieses Frevels bezichtigen. Wie alle Delinquenten habe ich aber selbstverständlich aus edlen Motiven gehandelt.
Denn mir ging es bei meinem verwerflichen Tun darum, meine Leser dazu zu nötigen, sich möglichst auf das Auto zu konzentrieren – wegen eines Details: Sie sehen die beiderseitig auf der Motorhaube angebrachten, merkwürdigen weißen Streifen?
Nun, die lassen sich mit etwas gutem Willen als Nummer 130 lesen – kommt Ihnen das bekannt vor?
Ja, tatsächlich, wir haben ihn wiedergefunden, genau den NSU 5/25 PS, der anno 1926 bei der Württembergischen Zuverlässigkeitsfahrt Platz 2 belegte – so war es nämlich auf der Rückseite des ersten Fotos von alter Hand vermerkt.
Ein überraschender Fund, da schlägt das Herz des Automobil-Archäologen höher. Noch mehr in Wallung gerät es indessen, wenn es feststellt, dass auch das bereits so wunderbar dokumentierte “Frisurmodell” wieder eine Rolle spielt.
Diesmal ist es jedoch eine so prominente, dass man sich nur vorsichtig daran herantasten darf. Nun aber wollen wir es wagen:

Sie sehen: Bei einer unvorbereiteten Konfrontation mit dieser umwerfenden Situation wäre das innere Gleichgewicht bedroht und das durften wir wir nicht riskieren.
Triumphierend hält unsere gertenschlanke (zweite) Siegerin etwas in der Hand, was wie eine Kopfbedeckung aussieht – wohl ein fesches Barett.
Die Herren ziehen vor soviel Anmut ebenso den Hut wie vor dem Mut, solchermaßen auf dem glatten Rund der Kühlerpartie zu balancieren. Allein dort hochzukommen, erfordert erhebliches Geschick – sich dann noch so selbstverständlich zu halten, das verlangt die kraftvolle, nach außen völlig unauffällige Kontrolle einer Ballett-Tänzerin.
Der über die Haube gespannte Stoff mit den Startnummern mag für etwas mehr “Grip” gesorgt haben, aber die dadurch vermittelte Sicherheit war eine trügerische.
Unsere Bewunderung für diese bezaubernde Kühlerfigur wird grenzenlos, wenn wir die Lässigkeit der Pose und den geradezu entrückten Gesichtsausdruck unseres “Frisurmodells” studieren, dessen Locken wie bestellt vom Wind bewegt werden:

Kann man sich einen beglückenderen Abschluss eines Auto-Porträts vorstellen?
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.