Heute war ich wie jede Woche in Bad Nauheim auf der Post – ein Bau von erlesener 70er Jahre-Grausamkeit – und warf einen Blick in mein geschäftliches Postfach.
Wie üblich fand ich dort auch den Großteil der an meine Privatadresse gerichteten Sendungen vor – man ist bei dieser Behörde trotz mehrfacher Intervention nicht imstande, nur entsprechend Adressiertes ins Postfach einzulegen – und alles andere direkt zuzustellen.
Aber gut, man gewöhnt sich auch hier an den Verfall des Niveaus und so fahre ich einmal pro Woche “in die Stadt” – im Sommer mit der E-Vespa, ansonsten mit dem bösen Verbrenner.
Zu meiner Freude fand heute ich im Postfach bereits die Januar-Ausgabe von “The Automobile” vor, meinem in Großbritannien produzierten Lieblings-Altauto-Magazin.
In die Runde gefragt: Liest das außer mir eigentlich jemand hierzulande? Immerhin geht es in der aktuellen Ausgabe um Schätze wie einen französischen Stromlinienwagen von Dubonnet, Sonderkarosserien von Sodomka aus Tschechien und einen britischen Invicta.
Gibt es eine vergleichbare Publikation auf dem Kontinent? Rhetorische Frage, Antwort: nein. Unter anderem deshalb habe ich 2015 diesen Blog begonnen, weil es ein Witz ist, was im Mutterland des Autos zu Vorkriegswagen gedruckt (und online) publiziert wird.
Hier bekommen die alten Kisten und die tausenden von Marken, die an der Erfolgsgeschichte des Automobils mitgewirkt haben, zumindest annähernd die Bühne, die sie verdienen.
Das ist aber nur virtuell in so einem Blog mit alten Bildern und ein bisserl Text, mag jetzt einer sagen. Warten Sie’s ab, heute sind sie mitten drin im Geschehen, statt nur im Netz dabei!
Um ans Ziel zu gelangen, lassen wir uns zunächst von diesen feinen Damen zu einer Fahrt zurück in die Zeit vor dem 1. Weltkrieg entführen: “Aimeriez-vous nous accompagner? – Mögen Sie uns begleiten?” fragen sie:

Wer würde da “Non merci, mesdames, nous préférons le train” – “Nein danke, die Damen, wir nehmen lieber die Bahn” antworten?
Also vertrauen wir uns den beiden an und lassen uns in ihrem Delaunay-Belleville kutschieren, so einen Wagen nennen sie ihr eigen.
Das soll uns aber nur ganz am Rande interessieren, und schon beim nächsten Händler dieser Marke lassen wir uns unter dem Vorwand, selbst so ein leistungsfähiges 6-Zylinder-Gefährt mit seidenweichem Gang erwerben zu wollen, absetzen.
Dort empfängt uns der Leiter der örtlichen Niederlassung, Robert Bellanger. Mit ihm haben wir nämlich heute eine Verabredung. Monsieur Bellanger hat in seinem Unternehmerdasein schon einige Firmen vertreten, darunter Westinghouse aus den USA.
1912, vor 110 Jahren, beschließt er, etwas Neues auf die Beine zu stellen. Mit seinen Brüdern gründet er die Société Automobiles Bellanger Frères mit Sitz in Neuilly sur Seine bei Paris.
Dort lässt er hochwertige Automobile mit Daimler-Motoren nach Knight-Patent fertigen. Diese ventillosen, hülsengesteuerten Aggregate galten als Nonplusultra des geräuschlosen Laufs, waren allerdings auch anspruchsvoll, was Wartung und Ölverbrauch betrifft.
Ein noch vor dem 1. Weltkrieg entstandenes Exemplar konnte ich vor einigen Jahren meiner Sammlung einverleiben – in Form dieses im Original stark mitgenommenen Abzugs:

Die Gasscheinwerfer und die Gestaltung der Vorderkotflügel deuten auf ein Vorkriegsmodell hin – wobei die Motorisierung offenbleiben muss. Die frühen Bellanger-Wagen waren mit Hubräumen von 2 bis über 6 LItern Hubraum erhältlich und scheinen sich – von den Dimensionen abgesehen – äußerlich kaum unterschieden zu haben.
Aus irgendwelchen Gründen – entweder weil sie sonst nicht absetzbar waren oder weil sie als besonders zuverlässig galten – kamen vor allem die kleinvolumigen Wagen der Marke in Paris als Taxis zum Einsatz.
Wir stürzen uns furchtlos in Getümmel der Großstadt – auf den Boulevard des Poissonières mitten in Paris – und schauen, ob wir eines Exemplars davon ansichtig werden. Tatsächlich, ganz vorne links fährt doch tatsächlich ein Bellanger Landaluet durchs Bild:

Das komplette Foto mit eingehender Besprechung der atemberaubenden Szenerie finden Sie übrigens in meinem Blog hier.
Nun mag man das alles unbefriedigend ansehen, denn wer – außer mir – sagt denn, dass diese Mobile mit ihrem auffallend abgerundetem Kühler wirklich Wagen der Marke Bellanger waren – schließlich ist der Schriftzug auf dem rautenförmigen Emblem nicht lesbar.
Auch zeitgenössische Reklamen sind diesbezüglich nicht immer aussagefähig. Die folgende beispielsweise zeigt einen Bellanger des ab 1919 gebauten Typs 15/17 HP nur aus der Seitenansicht wieder, noch dazu reichlich stilisiert:

Bellanger ging nach dem 1. Weltkrieg dazu über, statt der Hülsenschiebermotoren nach “Knight”-Patent zugekaufte Aggregate konventioneller Bauart (Seitenventiler) von Briscoe zu verbauen.
Dieses US-Unternehmen verfügte damals in direkter Nachbarschaft zu Bellanger über eine Fabrikation in Paris, so mag die Kooperation zustandegekommen sein.
Wie es scheint, stellten die 17 HP-Motoren mit vier Zylindern und 3,2 Litern Hubraum damals den Standardantrieb der Bellanger-Wagen dar. Nicht ganz klar ist, ob Briscoe auch die parallel erhältlichen Motoren mit Spezifikation 24/30 PS (4,2 Liter) und 35/50 PS (6,3 Liter) zulieferte, manche Quellen sprechen hier von Eigenentwicklungen.
Jedenfalls dominieren die zeitgenössischen Reklamen für das 17 PS-Modell A1, hier eine aus dem Jahr 1920:

Alles, was in dieser Annonce an Meriten des Wagens aufgezählt wurde, war kurz nach dem 1. Weltkrieg vollkommen konventionell, zumindest ab der Mittelklasse.
Der auffallende Akzent auf der gehobenen Ausstattung im Innenraum mag widerspiegeln, dass man wusste, dass das Auto im Wettbewerb sonst keinerlei Vorteile aufwies.
Wohl gelang es der Marke noch eine Zeitlang vom alten Nimbus als luxuriöser Hersteller zu zehren, doch im Lauf der 1920er Jahre war der Stern klar am Sinken, zumal man keine Anstrengungen unternahm, mit den zeitgenössischen Entwicklungen mitzuhalten.
Um 1925 scheint Bellanger keine Rolle mehr gespielt zu haben, wenngleich man 1928 einen kurzen und erfolglosen Versuch unternahm, Wagen der ebenfalls in die Jahre gekommenen Marke DeDion als Bellanger zu vermarkten.
Spätestens Anfang der 1930er Jahre hört man nichts mehr von Bellanger, das Werk in Neuilly-sur-Seine war inzwischen von Peugeot gekauft und dann von Rosengart übernommen worden.
Und wir? Wollten wir nicht mittendrin in dieser Geschichte sein, statt nur dabei? Richtig, und genau dieses Erlebnis kann ich Ihnen zum Schluss bieten.
Denn hier geht es mitten in die 1920er Jahre, direkt ins Publikum bei einer sonst nicht näher bekannten Veranstaltung – und was kommt uns da entgegen?

“Das ist ein Bellanger!” wird jetzt auch der ausrufen, der vor einer halben Stunde noch nie von dieser französischen Marke gehört hat.
Genau so ist es, hier lernt man quasi in Echtzeit dazu – ich übrigens auch – während man diese alten Fotos Revue passieren lässt, gemeinsam mit Gleichgesinnten recherchiert und sich mehr oder weniger fundierte Gedanken dazu macht.
Und so gelangt man am Ende auch zu einem klaren Bild, was das Markenemblem von Bellanger Frères angeht. Mitten drin sein im Geschehen, statt nur als Zaungast dabei, das ist die Voraussetzung für solche Einblicke!

Bei der Gelegenheit erlaube ich mir ein persönliches Gedenken an den britischen Automobilhistoriker Michael Worthington-Williams, der mir 2016 anhand meines weiter oben gezeigten Fotos eines Bellanger-Tourenwagens um 1913 die Augen für diese Marke öffnete.
Er ist 2022 von uns gegangen und hinterlässt nicht nur bei mir eine schmerzhafte Lücke – RIP.
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.