Stilvoller Auftritt: Ein De Dion-Bouton von 1913/14

Das Automobil ist für die meisten längst zu einem Alltagsgegenstand geworden, bei dem innere Werte wie Verbrauch, Ladekapazität oder “Entertainment”-Funktionen wichtiger sind als das soziale Signal, das davon ausgeht.

Bis in die 1970er Jahre und etwas darüber hinaus war das anders – da definierte man sich oft auch über den Wagen, den man fuhr – jedenfalls im Westen unseres damals noch geteilten Landes:

Volkswagen für die, denen vor allem an Zuverlässigkeit liegt, Ford wenn man auch von einer simplen Familienkutsche etwas US-Flair erwartete, Fiat für Stilbewusste mit kleinem Portemonnaie, Mercedes und Jaguar für arrivierte Unternehmer und Heiratsschwindler, Alfa und BMW für Draufgänger und Technik-Gourmets, Citroen und Saab für Querköpfe mit kleinem bzw. großem Geldbeutel, Lancia und Volvo für Kreative und sich intellektuell Dünkende, MG und Triumph für Traditionalisten bzw. schraubfreudige Studenten, Lada und Skoda für geizige Förster und rote Studienräte…

Eine angreifbare Zuordnung, gewiss – zumal ich Porsche und Morgan vergessen habe, mit denen ich überwiegend unsympathische Posertypen verbinde.

Bevor ich mir mit solchem Schubladendenken zuviel Feinde mache, ziehe ich mich lieber auf unvermintes Terrain und 100 Jahre zurück – als es diesen Posertypen gab:

De Dion-Bouton Typ EJ4; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese hübsche Aufnahme hat mich lange Zeit beschäftigt. Denn sie vereint Elemente der Welt vor dem 1. Weltkrieg und der Moderne, die mit den 1920er Jahren Einzug hielt – zumindest in der hauchdünnen Oberschicht, die sich in Europa ein Auto leisten konnte.

Geht man nur von den Insassen aus, glaubt man sich in die mondäne Welt des Tennissports der Zwischenkriegszeit zurückversetzt, in der einer der Champions unserer Zeit mangels Manieren bestenfalls Chancen als Balljunge gehabt hätte.

Das junge Paar in dem Tourenwagen würde mit seinem im Freien erworbenen dunklen Teint heute glatt als “People of Colour” durchgehen und könnte sogar einen Beweis für seine Benachteiligung anführen, nämlich das heillos veraltete Automobil:

Während es bei den beiden für gediegene Kleidung und einen modischen Haarschnitt reichte, zeugte ihr fahrbarer Untersatz eindeutig von prekären Verhältnissen.

Petroleumbetriebene Positionsleuchten und außenliegender Tankstutzen vor der Windschutzscheibe, außerdem Gasscheinwerfer, das war um 1920 wirklich von gestern.

So tauchen bereits 1912/13 vermehrt elektrische Positionslichter auf und noch vor dem 1. Weltkrieg waren bei gehobenen Fahrzeugen elektrische Scheinwerfer als Option verfügbar. Gleichzeitig begann der Benzintank ein unauffälliges Dasein im Heck zu führen.

Tatsächlich haben wir es hier mit einem Automobil zu tun, das noch ganz der Tradition verhaftet war. Nur der Windlauf – die ansteigende Blechpartie zwischen Motorhaube und Windschutzscheibe war ein halbwegs modernes Element, das 1909/10 auftauchte.

Was aber ist das für ein “Oldtimer”, mit dem sich das junge Pärchen Anfang der 1920er Jahre hat ablichten lassen? Könnte das ein belgischer Minerva gewesen sein?

Werfen wir zum Vergleich einen Blick auf diesen Minerva von 1912, der einst in Berlin aufgenommen wurde (Bildbericht):

Minerva um 1912; Ausschnitt aus Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Auf den ersten Blick wirkt die Frontpartie mit der Kühlersilhouette folgender Kontur der Motorhaube ganz ähnlich. Doch hier verläuft die obere Einfassung des Kühlernetzes geradetypisch für Minerva und anders als auf dem Foto des fraglichen Wagens.

Wer unter meinen Lesern – mittlerweile über 4.000 pro Monat – nun an einen Lorraine-Dietrich denkt, beweist damit zwar ein hervorragendes Bildgedächtnis, doch auch hier zeigt der Vergleich, dass sich die Frontpartie im Detail unterscheidet.

Als Beispiel mag diese Aufnahme eines mächtigen Lorraine-Dietrich dienen, die ich vor einigen Jahren hier vorgestellt habe:

Lorraine-Dietrich um 1912; originale Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Der Kühlerausschnitt wirkt zwar wie bei dem eingangs gezeigten Wagen, doch folgt die Motorhaube auf ganzer Länge dem Profil des Kühlergehäuses. Zudem ist auf der Kühlerplakette eines Lorraine-Dietrich stets das “Croix de Lorraine” zu erkennen.

Eine Umfrage in einer einschlägigen Facebook-Gruppe lieferte die Lösung. So handelt es sich bei dem Tourer, mit dem vor rund 100 Jahren unser Tennisspieler-Paar unterwegs war, um einen De Dion-Bouton Typ EJ4 von 1913/14.

Dieses Vierzylindermodell mit einem für die damalige Zeit kompakten 1,2 Liter-Motor wies keine großartigen Besonderheiten auf, scheint sich aber wie die meisten Typen der französischen Traditionsmarke gut verkauft zu haben – einige davon existieren noch.

Genau ein solches Fahrzeug haben wir hier:

De Dion-Bouton Typ EJ4 von 1913; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das Foto stammt wahrscheinlich aus dem Jahr 1961 und wurde anlässlich einer Veteranenausfahrt in der Schweiz aufgenommen. Die Insassen haben sich um einen stilvollen Auftritt bemüht, doch kommt das Ergebnis nicht an das Original heran.

Das an Sherlock-Holmes erinnernde Outfit des Fahrers wirkt ein wenig wie eine Persiflage. Doch ist selbst das noch weit besser als das, was man hierzulande bisweilen bei Klassikern dieser Epoche zu sehen bekommt: Bleiches Gebein in kurzen Hosen und Baseballkappe auf dem Kopf bei den Herren, für solche Autos unangemessene “Freizeitkleidung” bei den Begleiterinnen.

Wenn man wissen will, wie man es besser macht, besucht man am besten das jährliche Goodwood-Revival in Südengland – hoffen wir, dass es 2021 wieder stattfinden wird, wenn die in ihrer Undifferenziertheit maßlose Corona-Politik einer realistischen Sicht auf das Dasein und seine im historischen Vergleich überschaubaren Risiken gewichen ist.

Das ist eine der Botschaften der Aufnahmen von einst – oder auch dieser neuzeitlichen vom Goodwood Revival 2017, die daran erinnert, dass die Weltkriegsgeneration wirklich existenziellen Herausforderungen ausgesetzt waren und sich dennoch ihren unerschütterlichen Optimismus bewahrte, dass das Leben weitergehen muss – mit Stil

Goodwood Revival Meeting 2017; Bildrechte: Michael Schlenger

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Rasanz 2015: Automobile der Messingära in Aktion

Zu den wenigen Rallyes für Autos der Messingära – also Wagen bis etwa 1920 – hierzulande gehört die Kronprinz Wilhelm Rasanz am Niederrhein. Initiator ist Marcus Herfort, der mit den Classic Days auf Schloss Dyck Deutschlands wohl schönste Oldtimer-Party ins Leben gerufen hat.

Im Mai 2015 fand die Rasanz zum dritten Mal statt – mit gesteigerter Teilnehmerzahl und Wagen aus mehreren europäischen Ländern. Der Verfasser hatte das Vergnügen, als Gast mit von der Partie zu sein, und ließ sich in einem eindrucksvollen Cadillac 30 von 1912 chauffieren. An dieser Stelle nochmals herzlichen Dank an die Besitzer!

Cadillac_30_von_1912© Cadillac 30 von 1912 bei der Kronprinz Wilhelm Rasanz 2015; Bildrechte: Michael Schlenger

Eins vorab: Wer ein über 100 Jahre altes Auto besitzt und bewegt, muss ein Enthusiast sein. So etwas hat man nicht, weil es gerade chic ist, einen Oldtimer zu fahren, oder weil man auf Spekulationsgewinne aus ist.

Den Freunden der Messingära geht es um die Sache, sie wollen diese urigen und doch leistungsfähigen Gefährte mit all’ ihren Unzulänglichkeiten. Die Besitzer sind durchweg gestandene, sympathische Zeitgenossen. Sie sind so individuell wie ihre Fahrzeuge, verstehen sich aber untereinander blendend.

Die zweitägige Ausfahrt führte von Schloss Krickenbeck aus über meist ruhige Nebenstraßen und war trotz teils widrigen Wetters ein großartiges Erlebnis. Für den Zuschauer sind bereits Ankunft und Ausladen der Fahrzeuge eine spannende Sache – jeder Teilnehmer hat hier seine eigene Transportlösung.

© Impressionen von der Kronprinz Wilhelm Rasanz 2015; Bildrechte: Michael Schlenger

Wer einmal diese Zeugen aus der Frühzeit des Automobils in Aktion erlebt hat, versteht den Sinn solcher Veteranen-Rallyes: Es geht darum, sie der Öffentlichkeit als lebendige Boten aus einer untergegangenen Welt zu präsentieren und ihr Überleben zu sichern. Diese Fahrzeuge dürfen nicht nur in Museen ihr Dasein fristen, sie gehören auf die Straße.

Man vergisst oft, dass vor 100 Jahren die wesentlichen Bauteile des Automobils bereits erfunden waren. Jedoch wurden die Wagen noch in Handarbeit gefertigt, was mit einer Material- und Verarbeitungsqualität einhergeht, die heute unvorstellbar ist.

© Impressionen von der Kronprinz Wilhelm Rasanz 2015; Bildrechte: Michael Schlenger

Der ästhetische Genuss der Fahrzeuge als Produkte von Erfindergeist und Handwerkskunst ist das eine – mit ihnen bei Wind und Wetter fahren ist das andere. Wer einmal Gelegenheit dazu hatte, für den ist die Reise in einem über 100 Jahre alten Automobil ein alle Sinne forderndes Erlebnis.

Vielleicht gerade weil das Wetter bei der Rasanz 2015 nicht perfekt war, dürfte die Veranstaltung den Teilnehmern in Erinnerung bleiben. Denn genau so haben unsere Vorfahren diese Wagen im Alltag erlebt, waren stolz auf das Erreichte und nahmen Härten in Kauf, die in Zeiten klimatisierter Wagen mit Servolenkung und Einparkhilfe inakzeptabel wären.

© Impressionen von der Kronprinz Wilhelm Rasanz 2015; Bildrechte: Michael Schlenger

Die Bilder lassen erkennen, dass dies keine gemütliche Ausfahrt bei Sonnenschein war. Dem Sportsgeist der Teilnehmer tat das keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Das gemeinsam Erlebte, das reizvolle Programm und die ausgezeichnete Organisation durch das Veranstalter-Team wogen alle Unannehmlichkeiten auf.

Es bleibt zu hoffen, dass die Rasanz eine Neuauflage im Jahr 2016 erfährt oder eine ähnliche Veranstaltung am Niederrhein ihre Nachfolge antritt. Wer sich über die Rasanz informieren möchte, kann dies auf der Website “Anno 1907″ tun. Dort gibt es auch Filmmaterial der bisherigen Veranstaltungen.

Für die Freunde der analogen Fotografie hier noch ein paar Impressionen in schwarz-weiß (Kamera: Nikon FM).

© Impressionen von der Kronprinz Wilhelm Rasanz 2015; Bildrechte: Michael Schlenger

Rallye für Veteranen bis Baujahr 1905 in Frankreich

Die Vertreter der automobilen Frühzeit haben in Frankreich bis heute viele Freunde. Tatsächlich haben französische Marken wie De Dion, Panhard und Peugeot die Autoentwicklung bis zum 1. Weltkrieg maßgeblich vorangetrieben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen waren die wesentlichen technischen Elemente des Automobils, wie wir es kennen, damals bereits erfunden.

Gleichzeitig waren die Fahrzeuge der Pionierzeit so individuell wie vermutlich nie wieder danach. Es war eine Zeit atemberaubenden Innovationstempos und eines heute kaum vorstellbaren Wettbewerbs zwischen Erfindern, Ingenieuren und Querköpfen.

DeDion-Bouton_Rasanz_2015

© De Dion-Bouton von 1914 bei der Kronprinz Wilhelm Rasanz 2015; Bildrechte: Michael Schlenger

Automobile aus dieser untergegangenen Welt in Aktion zu erleben, ist stets ein besonderes Erlebnis, gerade weil niemand mehr eine persönliche Erinnerung an über 100 Jahre alte Fahrzeuge hat.

Wer entsprechende Veranstaltungen in Deutschland kennt – wie die Kronprinz Wilhelm Rasanz, stellt immer wieder fest, wie präsent dabei französische Fahrzeuge sind.

Die Erinnerung an die einheimischen Marken aus der Pionierzeit hält in Frankreich seit 1935 der Club “Les Teuf Teuf” hoch. Im Oktober 2015 jährte sich zum 25. Mal die vom Club veranstaltete “Rallye des Ancetres” für Fahrzeuge bis Baujahr 1905.

Ausgangspunkt war das Schloss von Compiègne nördlich von Paris. Von dort aus unternahmen die 42 teilnehmenden Fahrzeugen an zwei Tagen Ausfahrten mit bis zu 80km Länge.

Nur fünf der Fahrzeuge stammten nicht von französischen Herstellern, wobei ein Adler Vis-à-vis von 1901 hervorzuheben ist. Dieser wurde von einem britischen Enthusiasten gesteuert, wie überhaupt etliche englische Fahrer mit von der Partie waren. Aus Deutschland war nur ein Teilnehmer angereist, der einen in Coventry gebauten Swift von 1904 mitbrachte.

Nachfolgend die Liste aller gemeldeten Fahrzeuge mit Angabe des Besitzers.

Rallye_des_Ancetres_Teilnehmerliste_2015

Ein Großteil der Fahrzeuge ist im folgenden Video bei der Einfahrt in den Innenhof von Schloss Compiègne zu sehen. Besagter Adler fährt übrigens bei 1:42 min durch’s Bild:

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