Als ich 2015 damit begann, in diesem Blog die Welt der Vorkriegsautos im deutschen Sprachraum anhand zeitgenössischer Fotografien wiederauferstehen zu lassen, hatte ich keine Vorstellung davon, auf welche Entdeckungsreise ich aufgebrochen war.
Am überraschendsten für mich war die Präsenz von Autos amerikanischer Hersteller in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren. Keines der gängigen “Oldtimer”-Magazine und auch keine einschlägige Veranstaltung hierzulande spiegelt das annähernd wider.
Dabei reden wir nicht nur von Fahrzeugen bekannter Fabrikate wie Chevrolet, Ford, Nash oder Packard. Auf Tritt und Schritt begegnen einem auch Wagen von weniger bis kaum bekannten Herstellern, die gleichwohl Käufer in deutschen Landen fanden.
Der Nachfrageüberhang am hiesigen Markt war damals so groß, dass selbst heute völlig vergessene US-Marken erfolgreich Autos an den Mann bringen konnten. Die Wagen von Chandler aus Cleveland in Ohio, um die es heute (wieder einmal) geht, sind ein Paradebeispiel dafür.
Der eigentümliche Name der kurz vor dem 1. Weltkrieg gegründeten Firma ist für sich bereits interessant. Zurückführen lässt er sich auf den spätantiken “candelarius” – eine Person, die in betuchten Haushalten für die Beleuchtung (mit Kerzen oder Öllampen) zuständig war, später ein Händler in entsprechenden Waren.
Im neuzeitlichen Englisch ist ein “chandler” ein Kaufmann, der verschiedene Produkte oder Ausrüstungsgegenstände im Angebot hat. Ob unser Wort “Händler” damit verwandt ist, konnte ich spontan nicht klären, der Gleichklang kann auch Zufall sein.
Nur eines ist klar: Selbst für den exotischen Chandler aus Übersee gab es einst bei uns einen Händler – oder gleich mehrere. Denn Chandler-Automobilen begegnet man auf Fotos der Vorkriegszeit an ganz unterschiedlichen Orten, etwa diesem in der Hansestadt Wismar:

Langjährige Leser meines Blogs kennen die Aufnahme bereits und sind mit der einzigartigen Kühlermaske des Chandler sicher vertraut. Mancher mag sie für ein wenig überladen halten – aber sie gab dem Wagen ein unverwechselbares Gesicht.
Bei der Gelegenheit sei auf die kleinen Positionsleuchten direkt vor der Windschutzscheibe verwiesen, die nach meinem Eindruck nur Chandler-Wagen um 1927 besaßen. Bei den bis zur Liquidierung der Firma 1929 gebauten Modelle sah dieses Detail ganz anders aus.
Somit dürfte auch der Chandler auf ca. 1927 zu datieren sein, welcher auf dieser Aufnahme aus der Sammlung von Leser Klaas Dierks fotografisch verewigt ist:

Der in Hamburg zugelassene Wagen mit Tourenwagenaufbau wurde auf einer Urlaubsreise aufgenommen, eventuell in der Schweiz oder in Österreich.
Ob die hier dreiteilige Stoßstange auf einen Achtzylinder hinweist (daneben gab es zwei Sechszylinderversionen), konnte ich nicht in Erfahrung bringen, eventuell war dies bloß ein auf Wunsch verfügbares Zubehör oder ein Nachrüstteil.
Vermutlich lässt sich das nicht mehr klären – die Präsenz der Marke Chandler am deutschen Markt dürfte nirgends mehr dokumentiert sein und in den Staaten weiß man meist nicht einmal, dass viele US-Marken einst in Deutschland ein Standbein hatten.
Dass es für den Chandler mehr als nur einen Händler hierzulande gegeben haben dürfte, dafür spricht aus meiner Sicht ein weiteres Foto, das einen solchen Wagen zeigt – diesmal mit Zulassung im Raum Rochlitz in Sachsen:

Dieses schöne Foto ist mir erst kürzlich “zugelaufen”, und obwohl ich eigentlich anderes vorhatte, bot es eine willkommene Gelegenheit, es zusammen mit dem ebenfalls “neuen” obigen Foto aus der Sammlung von Klaas Dierks zu präsentieren.
Hier sehen wir übrigens ein weiteres Merkmal, das die Abgrenzung von Chandler-Wagen der letzten Baujahre 1928/29 erlaubt, und zwar die trommelförmigen Scheinwerfer. Sie wichen anschließend solchen mit schüsselförmigem Gehäuse.
Von den Abmessungen des Vorderwagens her würde ich hier ein Sechszylindermodell (55 bzw. 80 PS) vermuten, der noch längere Reihenachter hätte mehr Platz beansprucht.
Was den Aufbau betrifft, geht es vielleicht manchem Leser so wie mir: Die Gestaltung des Passagierabteils – speziell die doppelten Zierleisten unterhalb der Seitenfenster – erinnert an die von Ambi-Budd (Berlin) für den Adler “Favorit” bzw. “Standard 6” Ganzstahlkarosserie.
Doch insbesondere der geschwungene Abschluss der hinteren Seitenfenster verrät bei näherer Betrachtung, dass dies nicht der Fall sein kann. Dieser Chandler wurde höchstwahrscheinlich in dieser Form aus den USA geliefert.
Vermutlich hatten die Arbeiter im Chandler-Werk in Cleveland keine Vorstellung davon, dass ihr Werk in einem Fachwerkidyll in Sachsen landen würde, wo man die Pflege eines solchen exklusiven Wagens offenbar ernster nahm als die Instandhaltung der Gebäude…

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.