Leser meines Blogs wissen: mein Herz schlägt für Fotos von Vorkriegs-Automobilen, bei denen die Fahrzeuge nur den Hintergrund abgeben, bloß reizvolle Extras darstellen.
Ein Wagen mag für sich perfekt gestaltet sein, sogar über alle Extras verfügen, doch erst, wenn er von Menschen umgeben ist , wird das, was bei aller Kunst im Kern eine ordinäre Maschine ist, wird mit einem Mal extraordinär!
Das Wort gibt es im Deutschen eigentlich gar nicht – da kennt man traditionell nur ordinär – aber es lässt sich mühelos integrieren, denn trotz französischer bzw. englischer Abkunft ist es mit unserer Sprachkultur durchaus kompatibel.
Was veranlasst mich zu solchen Wortspielen? Nun, eine Aufnahme, die mich außergewöhnlich viel Zeit gekostet hat – erst mit langwierigen Retuschen eines schlecht erhaltenen Abzugs, dann mit der Identifikation des Autos, das abgebildet ist.
Dass sich der Aufwand am Ende lohnt, war nicht abzusehen und erst ganz zuletzt fand ich etwas, was mir die Idee zum Titel des heutigen Blog-Eintrags gab. Zunächst aber erst einmal das Dokument, um das es geht – in bereits aufbereiteter Form:

Wer hier nur ein ordinäres US-Großserienauto der späten 1920er Jahre auf einem technisch mittelprächtigen Abzug sieht, dem entgeht im Detail einiges.
Das Foto scheint in einer amerikanischen Kleinstadt oder einem Vorort entstanden zu sein, wie der Hintergrund vermuten lässt. Das Licht deutet auf den späten Nachmittag hin, vielleicht auch den frühen Abend im Hochsommer.
Die Gesellschaft, die sich hier vor dem Wagen versammelt hat, könnte unterschiedlicher nicht sein. Da haben wir auf dem Trittbrett des Wagens ein gutgelauntes Paar, das vielleicht den Feierabend oder das Wochenende zu einer Ausfahrt genutzt hat:

Er hat sich “Anzugerleichterung” erlaubt und die Krawatte abgelegt, die er vielleicht zuvor noch im Geschäft getragen hat. Der Panama-Hut ist neben dem ausgeklappten Hemdkragen ein weiterer Freizeit-Indikator. Eine dunkle Weste ist außerdem zu sehen.
Mir gefällt dieser verhalten lässige Stil – alles wirkt absichtlich verrutscht wie die Lampenschirme und Bilder in englischen Landhäusern, aber man achtet die Konvention.
“Sie” dagegen erlaubt sich keine solchen Freizügigkeiten – ich könnte mir sie gut als Lehrerin in der örtlichen Schule vorstellen, die keine Disziplinlosigkeit duldet. In meiner Schulzeit lernte man bei solchen Pädagoginnen am meisten – wenn man wollte.
Zwischen den beiden ein prachtvoller Hund – die Rasse wird sicher ein Leser benennen können – der hier einmal nicht in die Kamera schaut, nach meiner Erfahrung die Ausnahme. Er ist offenbar anderweitig beschäftigt und die Bewegung der Pfote, die hier festgehalten ist, ist nur eines von vielen Details, die für das Leben auf diesem Foto sorgen.
Neben diesem Trio sehen wir eine vierte Persönlichkeit, die wahrlich extraordinär ist:

Der baumlange Kerl überragt den Oakland mühelos und jeder, der Umgang mit Autos der späten 1920er Jahre pflegt, weiß: Das muss ein Mann von an die zwei Meter Körpergröße gewesen sein.
Er scheint der Sphäre der praktischen Arbeit anzugehören, in der damals ebenfalls bestimmte Kleidungskonventionen selbstverständlich waren. Haben wir es hier mit dem örtlichen Schrauber zu tun, der das Vertrauen unseres Autobesitzer-Paars genoss?
Und war es vielleicht sein Hund, den er hier genau zu fixieren zu scheint? “Lilly, halte still!” – so scheint er in dem Moment sagen zu wollen, als der Kameraverschluss auslöste.
Nun, was diese Vier verband, werden wir nicht mehr herausbekommen. Aber was das für ein Auto war, das einst den Hintergrund für diese schöne Szene abgab, das lässt sich ermitteln. Anfänglich dachte ich an einen 1928er Pontiac wie auf dieser Reklame:

Auf den ersten Blick scheint hier alles übereinzustimmen, einschließlich der in der Anzeige erwähnten hübschen Extras wie Drahtspeichenräder, verchromte Ersatzradhalter und “Schwiegermuttersitz” im Heck.
Dass wir auf dem Foto aber keinen solchen Pontiac-Sechszylinder in Cabriolet-Ausführung nebst Extras vor uns haben, das verrät erst der Blick auf die Frontpartie:

Auch wenn sonst alles – einschließlich der Extras – fast genauso wie bei einem Pontiac Cabriolet von 1928 erscheint, verrät die abweichende Kühlerfigur, dass wir hier einen Oakland vor uns haben.
Die 1907 gegründete Marke war bereits vor dem 1. Weltkrieg im General Motors-Konzern integriert worden, während Pontiac erst 1926 ins Leben gerufen wurde. Die Pontiac-Sechszylinder stahlen rasch den teureren Oaklands die Schau.
So kam es, dass im Modelljahr 1928 die Wagen von Oakland gegenüber den populären Pontiacs bereits im Hintertreffen lagen – die Stückzahlen der weit älteren Marke stürzten ab und 1931 verließ der letzte Oakland das Werk in Pontiac, Michigan.
So haben wir es am Ende keineswegs mit einem gesichtslosen US-Massenfabrikat zu tun, sondern mit einem damals schon extravaganten Vertreter der Sechszylinderklasse, dessen Käufer sich wohl bewusst für das “Extra-ordinäre” entschieden, das in diesem Foto festgehalten ist.
© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.