Fund des Monats: Ein „Gaggenau“-Tourer von 1910

Es gibt Dinge, die sind so außergewöhnlich, dass einem nichts dazu einfällt, man ist einfach nur sprachlos.

Das entspricht zunächst einmal meinem heutigen Erleben auf der Landstraße im Kielwasser eines Fahrschulwagens. Es handelte sich um eine Elektrokiste von VW – ein ID-irgendwas – hier in der hessischen Pampa noch nie zuvor in natura gesehen.

Ich dachte mir nichts Böses, denn so ein Elektroauto fährt sich ja prinzipiell wie ein Autoscooter auf der Kirmes: ein Pedal für den Vortrieb, eines zum Bremsen und ein Lenkrad zum – naja, das weiß jeder 14-jähriger (sollte man meinen).

Ich weiß nicht wer oder was am Steuer dieses Gefährts saß (eventuell war es „autonom“?), jedenfalls fuhr das Mobil völlig erratisch, bremste aus voller Fahrt grundlos abrupt ab, beschleunigte dann wieder, fuhr mehrfach beinahe in die Leitplanke.

Mir fehlen die Worte weniger wegen des Fahrzeuglenkers, sondern wegen des Fahrlehrers, der offenbar nicht imstande war, die Fehler seines Eleven sofort zu korrigieren – ganz klar sein Job. Aber gut, was da auf dem Beifahrerseitz saß, wusste ich ja auch nicht, denn das hochaufgebaute Heck der hässlichen Kiste verbarg den Blick auf den Innenraum.

Da lobe ich mir doch den Fund dieses Monats, bei dem alles in bester Ordnung ist und klar ersichtlich, mit wem wir es zu tun haben. Auch die Identität des Fahrzeugs erscheint – abgesehen von der Antriebsart – nur auf den ersten Blick rätselhaft:

Gaggenau Tourenwagen von 1910; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Allerdings bedurfte es im vorliegenden Fall dann doch keiner großen Recherchen, denn Leser Klaas Dierks, dem wir dieses außergewöhnliche Dokument verdanken, hatte den Schriftzug bereits eigenständig zum Markennamen „Gaggenau“ ergänzt.

Auch wenn einem auch hier vielleicht erst einmal die Worte fehlen, weil einem so etwas noch nie begegnet ist, stellt man fest, dass mit dem süddeutschen Ortsnamen eine bemerkenswerte Zahl an Autofabrikaten verbunden ist.

Deren älteste trug den klangvollen Namen „Orient-Express“, was nach mondänen Reisen in exotische Länder klang – genial gewählt, wenn auch gnadenlos übertrieben, was das gleichnamige Auto von anno 1895 betrifft.

Ab 1905 entstanden in Gaggenau dann die Autos der Süddeutschen Automobilfabrik, anfänglich Kleinwagen unter der Marke „Liliput“, dann größere teils unter dem Akronym SAF, teils unter dem Namen des Provinzstädtchens „Gaggenau“ selbst – ein maximaler Kontrast zum „Orient-Express“.

Offenbar fiel den Machern damals nichts Besseres ein. Immerhin hatte man einige Jahre Erfolg im Bau gleichnamiger Lastkraftwagen wie PKW von teils beachtlicher Leistung. Ein Meisterstück war der ab etwa 1907 angebotene Vierzylinderwagen mit hochmodernem Ventiltrieb über obenliegende Nockenwelle.

Auch leistungsstarke Sportwagen speziell für die Anforderungen der legendären Prinz-Heinrich-Fahrten (1908-1911) entstanden in Gaggenau.

Im Fall des bestenfalls mittelgroßenTourenwagens auf dem Foto von Klaas Dierks kommt sicher nicht die ganze Palette der verfügbaren Motorisierungen in Betracht, die von 15 bis 80 PS reichte. Vielleicht war es ein 24 PS-Typ, aber das lässt sich nicht mit Gewissheit sagen.

Wie bei anderen Herstellern auch wurden damals auf einem Chassi mit äußerlich identischem Aufbau mehrere Motorisierungen angeboten – allenfalls der Radstand unterschied sich und dazu fehlt uns der Vergleichsmaßstab.

Nur bei der Datierung wage ich mich genau festzulegen. Denn die „Windkappe“ (auch Torpedo genannt), also die ansteigende Blechpartie zwischen Motorhaube und Windschutzscheibe, taucht im Serienbau erst 1910 auf und weicht schon ab 1911 rasch einer weniger abrupten Ausführung, die nicht mehr so „aufgesetzt“ wirkt.

Ohnehin endete die PKW-Fertigung in Gaggenau bereits 1911, nachdem das Werk von Benz speziell zur Nutzfahrzeugproduktion übernommen worden war.

Mehr fällt mir daher dazu nicht ein, außer dass sich mit diesem schönen und seltenen Foto ein Tag ohne noch viele Worte würdig zum Abschluss bringen lässt…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog