Wie anders die Welt der Vorkriegswagen in Deutschland war, das sieht man schon daran, dass sich damals die Autoindustrie auf den Raum Berlin und auf Sachsen konzentrierte.
Die vielen dort angesiedelten Hersteller – die meisten heute vergessen – ließen eigentlich keine Wünsche offen, könnte man meinen. Dennoch gab es auch dort immer wieder Zeitgenossen, denen der Sinn nach etwas stand, was der Heimatmarkt nicht hergab.
Das wiederum ist uns aus der jüngeren Vergangenheit vertraut – kein deutscher Hersteller brachte bei aller Auswahl je etwas zustande, was einem Austin Mini, einem Renault R4 oder einer Alfa Giulia nahekam. Also machten andere das Geschäft mit den vermeintlich „vaterlandslosen“ Gesellen, die indessen gute Gründe hatten für ihr Tun.
Und so fand auch einst vor dem 1. Weltkrieg ein Geschäftsmann aus der schönen sächsischen Kleinstadt Großenhain, dass kein heimisches Gefährt seinem Geschmack entgegenkam, sonern es etwas aus dem „Ausland“ sein musste.
Nun, das nicht ganz, aber für einen echten Sachsen war es nicht gerade naheliegend, ausgerechnet im niedersächsischen Hameln das Auto seiner Träume zu ordern.
Aber was sollte man machen, wenn einem der Sinn nach so etwas stand:

Dass dieser sportlich anmutende Zweisitzer mit Rundheck und viel Bodenfreiheit tatsächlich in Sachsen zuhause war, das wissen wir deshalb so genau, weil der Enkel des einstigen Besitzers – Steffen Bonke aus Großenhain – die Automobilhistorie seines Großvaters anhand von Fotos und teilweise sogar Fahrzeugpapieren genau dokumentieren kann.
Nur um was es sich auf dieser Aufnahme handelte, das wusste Steffen Bonke bis dato nicht. Auch die Lokalhistoriker des Großenhainer Heimatvereins hatten sich an dem Gefährt vergebens abgearbeitet.
Wie gesagt lag es auch nicht gerade nahe, dass im tiefsten Sachsen einer ausgerechnet ein norddeutsches Automobil fahren wollte. Dabei hatte sich Steffen Bonkes Großvater allerdings gezielt ein Fabrikat bewährtester Qualität ausgesucht und es mit einer Werkskarosserie als Sport-Zweisitzer ausstatten lassen.
Was war das nun für ein Hersteller, wie konnte ich ihn identifizieren und wie ist das Auto zu datieren?
Man kann sich dem auf unterschiedliche Weise nähern, doch im vorliegenden Fall bietet es sich an, von den merkwürdigen Gabeln vor dem Kühler des Wagens auszugehen:

Was hier offensichtlich fehlt, sind die Scheinwerfer und die „Gabeln“ sind die Halter für demontierbare Gaslaternen, wie sie vor dem 1. Weltkrieg Standard waren.
Da diese Teile sehr empfindlich waren, wurden sie entweder mit Schutzüberzügen gegen Steinschlag versehen oder sie wurden nur für Fahrten bei Dunkelkeit montiert.
Entscheidend ist, dass solche Gasscheinwerfer nach dem 1. Weltkrieg praktisch kaum noch verbaut wurden, der neue Standard war elektrische Beleuchtung. Ein Wagen mit Haltern für Gaslaternen ist praktisch immer in der Zeit bis 1914 anzusiedeln.
Und in dieser Zeit war bei Automobilen nur die Frontpartie typisch für einen bestimmten Hersteller oder ein spezielles Fabrikat. Der Aufbau dahinter war nahezu beliebig; alle damals gängigen Karosserieformen konnten geordert werden – oft genug stammten sie von externen Firmen.
So flott also auch der Aufbau war, den einst Steffen Bonkes Großvater bestellte, so irrelevant ist er für die Frage, was genau das für ein Auto war. Bleiben also nur Kühler- und Haubenpartie, bisweilen auch die Radnaben oder andere Details am Vorderwagen.
Dier Form des Kühlers ist sehr ansprechend, doch diese hufeisenförmige Gestaltung fand sich bei einigen Herstellern im In- und Ausland. Das Markenemblem ist für Kenner zwar auf Anhieb identifizierbar, aber wir haben etwas Zeit und wählen einen Umweg.
Bitte prägen Sie sich dazu das Blech am unteren Ende des Kotflügels ein, das den Raum zwischen Rahmen und Trittbrett abdeckt – markant ist hier die umlaufende Sicke.
Sehr ähnlich findet sich das auf Reklamen und Fotos, welche das Model „Sperber“ der Firma NAW aus Hameln zeigen – hier eine Aufnahme, die mir Leser Jürgen Klein in digitaler Form zur Verfügung gestellt hat:

Diese Tourenwagenausführung seines Modells „Sperber“ bauten die Norddeutschen Automobil-Werke (NAW) aus Hameln um 1912 in beachtlichen Stückzahlen.
Sie finden mehrere vergleichbare Aufnahmen in meiner NAW-Fotogalerie.
Die Kühlerpartie und der Typenschriftzug sind besser auf der folgenden Aufnahme zu erkennen, die aus dem Fundus von Leser Klaas Dierks stammt:

Hier kann man auch die erwähnten Gasscheinwerfer studieren und bekommt den Eindruck, dass die Kotflügel ganz ähnlich wie bei dem Wagen aus Großenhain gestaltet sind.
Nur die Kühlerform will so gar nicht passen – aber auch das klären wir gleich auf. Denn NAW brachte 1913/14 eine modernisierte Ausführung seines Erfolgsmodells „Sperber“ heraus, die nun 20 PS statt bisher 15 oder 18 PS leistete.
Der Hauptunterschied war in optischer Hinsicht der neue hufeisenförmige Kühler und das dort mittig angebrachte Kürzel „NAW“.
Zum ersten Mal begegnet ist mir dieses in der Literatur nur schlecht dokumentierte Facelift auf der folgenden Aufnahme mäßiger Qualität:

Toll ist das Foto nicht, ich weiß, aber manchmal muss man nehmen, was man kriegen kann. Immerhin wissen wir, dass dieser „Sperber“ einst bei einem Moselausflug zum Einsatz kam.
Zum Glück stieß ich später in einer Faksimile-Ausgabe des NAW-Prospekts von 1914 auf die folgende Abbildung des „Sperber“, die wohl keine Wünsche offenlässt.

Genau so hatte sich einst auch die Frontpartie des NAW Sport-Zweisitzers dargeboten, den einst Steffen Bonkes Großvater anno 1912/14 orderte.
Sofern der Wagen nicht für den Kriegseinsatz eingezogen wurde, mag er Anfang der 1920er Jahre noch eine Weile weiter in Gebrauch gewesen sein. Doch darf man vermuten, dass man bald Auschau nach etwas Modernerem hielt.
Im Fall von Steffen Bonkes Großvater war das ein Brennabor des Typs R 6/25 PS, doch das ist eine andere Geschichte.
Für heute belassen wir es bei dem NAW-Sport-Zweisitzer, den ich dank Steffen Bonke besprechen durfte und welcher der erste seiner Gattung ist, den ich mit diesem Werksaufbau zu Gesicht bekomme.
Er ist nun in meiner NAW-Galerie zuhaus‘ wie einst in Sachsen…
Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.


































































