Nanu, mag jetzt mancher denken – kein Markenname im Titel? Keine Sorge, die automobile Markengeschichte der Vorkriegszeit kommt nicht zu kurz, ganz im Gegenteil.
Es ist bloß so, dass ich heute Anlass zu einer Spurenlese der besonderen Art habe, und das vedanke ich der Unermüdlichkeit eines KfZ-Urgesteins und Lokalhistorikers aus Seesen im Harz – sein Name ist Wolf-Dieter Ternedde.
Wer unter meinen Lesern ein gutes Namensgedächtnis hat, mag sich daran erinnern, dass uns Herr Ternedde schon das eine oder andere reizvolle Dokument aus Vorkriegszeiten „vermittelt“ hat, etwa diesen großartigen Mercedes 15/70/100 PS – hier beim Tankstopp in der frühen Nachkriegszeit:
Ansonsten werden wir heute zwar etwas kleinere Brötchen backen, doch ich verspreche Ihnen: Die heutige Spurenlese durch die Welt der Vorkriegsautomobile in Seesen wird sich lohnen – und am Ende deutlich über diesen zeitlichen Horizont hinausweisen.
Doch der Reihe nach.
Wolf-Dieter Ternedde – von Hause aus Karosseriebaumeister und KfZ-Meister (beides zusammen findet man nicht alle Tage) wollte sich nach dem altersbedingten Ausscheiden aus dem traditionsreichen Betrieb der Familie Ternedde in Seesen nicht einem ordinären Ruhestand hingeben.
Nach der liebevollen Dokumentation der „Seifenkistenrennen in Seesen 1951 bis 1955“ in Buchform stand ihm der Sinn nach mehr. Nach guter Handwerksmanier hat er Nägel mit Köpfen gemacht – und als Nächstes auf fast 250 Seiten „Die Geschichte der heimischen KfZ-Werkstätten 1912-2021 und die ersten Automobile in Seesen“ aufgearbeitet.
Was dieses Werk so bemerkens- und lesenswert macht, das will ich am Ende darlegen.
Zuvor unternehmen wir eine Reise durch die Geschichte der Automobile im Seesen der Vorkriegszeit – anhand einer Auswahl von Fotos, die Wolf-Dieter Ternedde in seinem Buch verarbeitet hat. Die abgebildeten Autos habe ich – so gut es eben ging – für ihn bestimmt.
Ziemlich am Anfang steht dieser „Doktorwagen“:
Dieses frühe Automobil fuhr einst Dr. med August Schüttrumpf aus Seesen.
Im Unterschied zu zahlreichen fragwürdigen „Doktoren“, die es sich heutzutage in der Politik auf Kosten der arbeitenden Allgemeinheit bequem machen wollen, war er ein echter – nämlich ein praktizierender Arzt.
Vertreter seines Berufsstands waren meist die Ersten, die ein Automobil nicht zum bloßen Vergnügen erwarben. Hausärzte und Veterinäre gewannen mit der Benzinkutsche einen oft genug lebensrettenden Geschwindigkeitsvorteil und einen zuvor unerreichten Radius.
Der Wagen von Dr. Schüttrumpf war vermutlich ein Opel des Typs 5/10 PS, der einst als „Doktorwagen“ Karriere machte. Ob er schon 1909 das Licht der Welt in Rüsselsheim erblickte (dann wäre es noch ein Typ 4/8 PS) gewesen, oder erst 1910, ist schwer zu sagen.
Der „Windlauf“ – also die ab 1910 übliche aufwärtsgerichtete Blechpartie zwischen Motorhaube und Windschutzscheibe – könnte nachgerüstet sein. Interessant ist, dass diese Aufnahme ein winziger Ausschnitt aus einem weit größeren Bild ist, das erst 1919 entstand.
Was mag der „Doktorwagen“ in diesen zehn Jahren bereits alles erlebt haben? Wievielen Menschen konnte Dr. Schüttrumpf inSeesen und Umgebung damit rechtzeitig Hilfe leisten – wie oft mag er trotz des wackeren Wagens zu spät gekommen zu sein?
Bleiben wir in der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg: Hier haben wir eine eindrucksvolle Versammlung von Tourenwagen, die sich anlässlich einer Ausfahrt einst vor dem Hotel Wilhelmsbad in Seesen eingefunden hatten:
Diese Wagen waren damals reine Luxusgefährte – auch nach dem verlorenen Krieg und trotz der erdrosselnden Tributleistungen infolge des Versailler „Vertrags“ gab es in Deutschland noch ein dünne Schicht Vermögender, die sich so etwas gönnen konnten.
Oft genug war damals der Kauf eines Automobils ein Weg, der sich anbahnenden Aushöhlung der Währung ein Schnippchen zu schlagen, denn auch bei galoppierender Inflation blieb ein Auto werthaltig, war doch sein Nutzen derselbe.
So kam es in der ersten Hälfte der 1920er Jahre zu einem Boom im oberen Segment des deutschen Automarkts. Davon profitierten auch die leistungsfähigeren Modelle der Frankfurter Traditionsmarke „Adler“.
Diese technisch konventionellen, aber mit ihrem Spitzkühler schneidig aussehenden Modelle wie das in der ersten Reihe links zu sehende Fahrzeug finden sich auf Fotos jener Zeit ziemlich häufig.
Während es sich dabei meist um Typen mit 9/24- bzw. 9/30 PS-Motorisierung handelte, könnte der Wagen auf obigem Foto durchaus ein stärkeres Modell gewesen sein, welches parallel mit 12/34 bzw. 12/40 PS-Vierzylinder im selben Stil gebaut wurde.
Während die meisten deutsche Hersteller in der ersten Hälfte der 1920er Jahre wie Adler noch an traditionellen Formen und Manufakturproduktion festhielten, beschritten Brennabor und Opel bald neue Wege – die von der führenden US-Autoindustrie vorgezeichnet waren.
Brennabor verzettelte sich nach vielversprechendem Anfang mit unübersichtlicher Modellpolitik und teils wenig ansprechender Gestaltung. Opel dagegen hatte mit der Orientierung an erfolgreichen Konzepten aus dem Ausland eine glücklichere Hand.
Nach dem von Citroen inspirierten Opel 4-PS-Modell folgten die Rüsselsheimer in der Mittel- und Oberklasse bald ganz amerikanischen Vorbildern – vor der Übernahme durch General Motors wohlgemerkt.
So begegnete man in der Vorkriegszeit auch in Seesen dem Opel Typ 7/34 PS bzw. 8/40 PS, hier in einer Ausführung von 1927/28:
Dieser Tourenwagen diente noch um die Mitte der 1930er Jahre als Fahrschulauto. Inhaber Paul Hoffmann war zugleich Besitzer einer Tankstelle und einer Opel-Werksvertretung – damit bestand die Aussicht, dass seine Fahrschüler ihm auch später treu blieben.
Wagen dieser Größenklasse blieben freilich die Ausnahme – größere Stückzahlen erreichten im damaligen Deutschland nur Kleinwagen wie das erwähnte Opel 4-PS-Modell.
Bemerkenswert ist, dass kein deutscher Hersteller damals aus eigenen Kräften in der Lage war, ein für eine Massenproduktion taugliches Kompaktmodell zu entwickeln. Entweder man verrannte sich in skurrilen Konzepten wie dem Hanomag „Kommissbrot“ oder man nahm „Anleihen“ an längst erfolgreichen Modellen ausländischer Hersteller.
Nachdem man etliche Jahre nur zugeschaut hatte, wie sich der automobile Globus weiterdrehte und man selbst stillstand, fiel irgendwann der Groschen. Nach Opel war es 1927 dann Dixi aus Eisenach, das sein Heil im Lizenznachbau des Austin Seven sah.
Der bereits seit fünf Jahren erfolgreiche Engländer fand mit einigen Anpassungen als Dixi rasch eine interessierte und oft begeisterte Anhängerschaft – so auch in Seesen:
Hier lehnt sich als stolzer Besitzer ein gewisser Herbert Wadsack in die (scheinbare) Kurve. Der 15 PS leistende Wagen gehörte anfänglich noch der Cyclecar-Klasse an – zu der sehr leichte Autos mit Reifen im Motorradformat und freistehenden Kotflügeln zählten.
Im Lauf der Zeit entwickelte man auf dieser Basis neben minimalistischen und sportlich wirkenden offenen Versionen wie diesem auch erwachsener erscheinende geschlossene Ausführungen des „Dixi“.
BMW aus München – damals noch ein reiner Motorradhersteller – erkannte das Potential und übernahm kurzerhand die Firma Dixi und ließ die zunächst noch auf dem Austin-Lizenzmodell 3/15 PS basierenden eigenen Modelle bis Kriegsende in Eisenach bauen.
Damit sind wir nun in den 1930er Jahren, als die deutsche Autoindustrie endlich aus der Lethargie erwachte und begann, selbst zunehmend den Fortschritt mitzubestimmen.
Freilich waren die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen denkbar ungünstig und einst stolze Marken wie Audi, DKW, Horch und Wanderer überlebten nur durch Bündelung der Kräfte – die legendäre Auto-Union entstand.
Unter ihrer Führung gelang es, den eigenständigen Charakter der Marken zu wahren und gleichzeitig die Vorteile einer gemeinsamen Organisation zu nutzen. Oft bekam der Käufer gar nicht mit, dass dieselbe Plattform oder auch Motoren bei Wagen unterschiedlicher Marken verwendet wurden.
Vielleicht am wertvollsten war aber das Gestaltungsbüro der Auto-Union, dem es gelang, einerseits den einzelnen Marken ein eigenes Gesicht zu geben und andererseits gewisse ästhetische Gemeinsamkeiten zu entwickeln, die den hohen Anspruch der Auto-Union in gestalterischer Hinsicht repräsentierte.
Ein Beispiel dafür ist der ab 1936 gebaute Wanderer des Typs W51 bzw. 53, wie hier als schickes Vierfenster-Cabriolet zu sehen ist:
Dieses Auto, das vermutlich eine Karosserie von Gläser (Dresden) besaß, gehörte dem Inhaber des Seesener Gießereiunternehmens Gerhards. Abgelichtet wurde es im Juni 1937 anlässlich einer längeren Ausfahrt bei Laboe.
Der Stil dieses Cabriolets mit gepfeilter Windschutzscheibe ähnelt zeitgenössischen Horch-Modellen, doch die Frontpartie war vollkommen eigenständig gestaltet und fand sich so nur bei Wanderer-Automobilen.
Hier sehen wir den Wagen während der gleichen Tour, wie er gerade ein Fähre verlässt:
Das Kennzeichen verweist auf eine Zulassung im einstigen Landkreis Gandersheim, zu dem auch Seesen gehörte.
Mit dieser Aufnahme sind wir schon kurz vor Kriegsbeginn, doch noch nicht ganz am Ende. Wie es der Bedeutung der Marke entspricht, kehren wir ein drittes Mal zu Opel zurück.
Rund ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen des ersten Opel „Doktorwagens“ in Seesen und etwa zehn Jahre nach der Einführung des Typs 8/34 PS, der als Fahrschulauto diente, finden wir zuletzt einen Vertreter des modernen Typs Olympia bzw. Kadett – des ersten in Großserie gebauten Ganzstahlwagens in Deutschland.
Verewigt ist dieses Modell auf einem Foto, das großen Charme besitzt, doch zugleich an die zeitlichen Umstände erinnert, unter denen es entstanden ist:
Gegen diese junge Dame ist der wackere Opel natürlich chancenlos – aber er war dafür ausgelegt, eine dienende Rolle zu erfüllen und trug seine „Kühlerfigur“ mit Gelassenheit.
Die Tarnblenden auf den Scheinwerfern verraten, dass dieses schöne Dokument nach Kriegsausbruch im September 1939 entstanden sein muss.
Private Automobile wurden für Militärzwecke eingezogen, sofern sie nicht veraltet waren (das rettete viele Autos mit Baujahr vor etwa 1930) oder für die ein aus staatlicher Sicht unabweisbarer Bedarf bestand – wie bei Ärzten, „wichtigen“ Mitgliedern von Parteiorganisationen oder schlicht Leuten mit „Beziehungen“.
Im Fall des obigen Fotos dürften wir es mit einem beschlagnahmten Zivilfahrzeug zu tun haben, das wohl einer Luftwaffeneinheit diente – darauf deutet jedenfalls das auf dem linken Kotflügel angebrachte Abzeichen mit einer fallenden Bombe hin.
Vom späteren Bombenhagel der Alliierten scheint das kleine Seesen verschont worden zu sein, doch wie im übrigen Europa waren die Wunden des Kriegs auch so allgegenwärtig – in den Menschen, die ihn erlebt hatten.
Ein Kriegsteilnehmer dürfte auch dieser junge Mann gewesen sein, der uns auf dieser Aufnahme aus dem Jahr 1951 ernst anschaut:
Er trägt zu seinem Overall eine typische Feldmütze, wie sie millionenfach von deutschen Soldaten getragen worden war und oft zu den wenigen Dingen gehörte, mit denen sie nach Kriegsende heimkehrten.
Wie es scheint, hat der Träger dieser Mütze einen Aufnäher angebracht, möglicherweise einen der Marke Gasolin, auf die auch das Schild im Hintergrund verweist. Das würde ausgezeichnet zusammenpassen, denn das Foto entstand vor der Tankstelle/Werkstatt Georg Hoffmann in Seesen.
Das Auto ist leicht zu bestimmen – es handelt sich um einen Ford „Eifel“ in der von 1937-39 gebauten Ausführung.
Viele dieser robusten Wagen leisteten noch lange nach Kriegsende gute Dienste, bis sie im Zuge des breiten Wirtschaftsaufschwungs der 1950/60er Jahre verschwanden, als sich erstmals die breite Masse Autos leisten konnte – zuimdest im Westen unseres Landes.
An dieser Stelle endet meine automobile Spurenlese in Seesen – doch die von Wolf-Dieter Ternedde ist hier noch lange nicht zuende. Denn er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die ganze Geschichte des Automobils in Seesen zu dokumentieren.
Die heute vorgestellten Fotos sind bloß ein kleiner Ausschnitt aus diesem Vorhaben, für das das Herr Ternedde in jeder Hinsicht berufen war – was die nötige fachliche Kenntnis angeht, die Beziehungen zu seinen Mitbürgern in seinem Heimatort und nicht zuletzt die Gründlichkeit und Hartnäckigkeit alter Schule, mit der er die Sache anging.
So gelang es Wolf-Dieter Ternedde „Die Geschichte der heimischen KfZ-Werkstätten und die ersten Automobile in Seesen“ in seinem soeben erschienen gleichnamigen Buch reich bebildert und mit lebendigen Schilderungen aus erster Hand festzuhalten.
Was mich an dem im Eigenverlag herausgegebenen Werk so begeistert, ist Folgendes: Man könnte meinen, dass einem als Nicht-Seesener dieses Stück Heimatgeschichte nicht viel sagen wird und die Dokumentation örtlicher Werkstätten, Karosseriebetriebe und Tankstellen bestenfalls ein Nischenthema ist – doch das ist nicht der Fall.
So erzählt Wolf-Dieter Ternedde in seinem Buch nicht nur – quasi nebenher – die Geschichte des Automobils bis in die unmittelbare Gegenwart. Er schildert zugleich die Geschichte unseres Landes aus einer ganz speziellen Perspektive, die uns allen etwas sagt.
Während man die Geschicke der teils längst verschwundenen, teils noch existierenden Seesener Firmen über die Jahrzehnte anhand von Fotos und Erzählungen verfolgt, beginnen einem die Menschen, die dort arbeiteten, und die Familien, denen die Betriebe gehörten, auf merkwürdige Weise vertraut zu werden.
Denn wir alle kennen aus eigener Geschichte und Anschauung ganz ähnliche Situationen, Lebenswege und Umbrüche. Die wechselnden Autos über die Jahrzehnte und das sich verändernde Erscheinungsbild der Betriebe und des Stadtbilds sind bloß stellvertretend für unser eigenes Erleben über die Jahrzehnte.
So zieht in diesem einzigartigen Buch, für das Wolf-Dieter Ternedde zum richtigen Zeitpunkt mit großem Fleiß auf die noch vorhandenen Dokumente und Zeitzeugen zurückgegriffen hat, letztlich das Leben mehrerer Generationen unseres Landes vorüber.
Wer ein Herz für das Automobil in allen seinen Facetten hat – von bodenständig bis glamourös – und wer Genuss und Erkenntnis aus dem Studium der Alltagshistorie bezieht, der wird an diesem Buch viel Freude haben.
Mancher wird sich auch einigen nachdenklichen Worten von Wolf-Dieter Ternedde am Ende anschließen wollen, denen ich hier nicht vorgreifen will. Nur soviel: Dieses Buch mit der Schilderung eines stetigen, über lange Zeit aber immer wieder belebenden Strukturwandels ist aktueller, als man vielleicht denken mag.
Bezug für 20 EUR (zzgl. 4 EUR Versandkosten) direkt beim Autor: w-ternedde@t-online.de
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