1907 war noch alles möglich – auch ein 6,3 Liter Opel!

Das Jahr 2017 jagt seinem Ende entgegen. Der Verfasser verbringt die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr traditionell am Schreibtisch arbeitend.

Für andere ist es die Zeit „zwischen den Jahren“, in der sie einmal aus der Mühle des Alltags aussteigen. Die Besucherzahlen in diesem Blog verraten jedenfalls, dass viele Leser derzeit mehr Zeit für „Unnützes“ haben als sonst – es sei ihnen gegönnt.

Die vermehrte Aufmerksamkeit honorieren wir heute mit einer außergewöhnlichen Aufnahme. Sie entstand vor genau 110 Jahren, also im Dezember 1907.

Abgebildet ist darauf ein Opel. Wer an dieser Stelle die Augen verdreht, kann beim Verfasser auf Nachsicht hoffen.

  • Stark geprägt sind seine Opel-Erfahrungen von einem miserabel verarbeiteten D-Kadett mit Dieselmotor, der Mutters treuen Volkswagen Export von 1963 „ersetzte“, dem sagenhaft rostenden „Astra“ eines Studienkollegen und dem täglich im Straßenbild zu erduldenden Anblick einer Monstrosität namens „Mokka“.
  • Zu den besseren Erinnerungen gehörte der B-Kadett des Großonkels, in dem der minderjährige Verfasser seine ersten Meter am Lenkrad eines Autos zurücklegte.
  • Unvergessen auch der beherzt bewegte Opel Manta mit stets gut gefülltem Aschenbecher, in dem es Ende der 1980er Jahre einige Monate als Beifahrer zum abendlichen BASIC-Programmierkurs ging.

Doch erst die Beschäftigung mit den Rüsselsheimer Wagen der Vorkriegszeit ließ die Erkenntnis dämmern, auf welch‘ enormem Niveau man einst bei Opel Automobile baute.

Vor 110 Jahren – nur fünf (!) Jahre nach dem ersten selbstentwickelten Modell – sah das Ergebnis so spektakulär aus wie hier:

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Opel 24/40 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wenn nicht alles täuscht, handelt es sich um Opels damaliges Spitzenmodell 24/40 PS, das über einen 6,3 Liter großen Vierzylindermotor verfügte.

Zwar sind keine näheren Daten überliefert, aber wir dürfen uns die Leistungsentfaltung dieses Hubraumriesens als sehr souverän vorstellen.

Von den vier Gängen wird man die ersten drei nur am Berg öfters bemüht haben. Ansonsten konnte man im großen Gang dahingleiten und bis Schrittgeschwindigkeit darin verharren.

Da die Höchstleistung bereits bei 1.500 Umdrehungen pro Minute anfiel, können wir die Vorstellung eines angestrengten Motorengeräuschs oder gar des von manchen Zeitgenossen bei Veteranen vermuteten „Knatterns“ ad acta legen.

Für den Phaeton – d.h. den offenen Tourenwagen – des Opel 24/40 PS waren laut Literatur 17-18.000 Goldmark zu berappen – dafür konnte man sich anno 1907 locker ein hübsches Häuschen auf dem Lande kaufen – inklusive Stellplatz für’s Automobil:

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Bauernhaus bei Löcknitz in Vorpommern; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Genug der Daten – wie kann man eigentlich einen so alten Wagen so präzise ansprechen?

Dabei hilft dasselbe Gespür für stilistische Details, mit dem Archäologen ein antikes Fundstück einer bestimmten Kultur, Epoche und sogar Handwerkerschule zuordnen.

Ohne gedruckte Literatur ist man dabei freilich auch im Internetzeitalter aufgeschmissen. Nur dort findet man zielsicher ausreichend Vergleichsmaterial.

Opel Fahrzeugchronik 1899-1951 von Bartels/Manthey, Verlag Podszun, 2012

Machen wir uns lehrbuchartig ans Werk. Ausgangspunkt sind die Insassen des sechssitzigen Wagens:

Opel_Ak_Breslau_nach_Harmersdorf_Lk_Chemnitz_12-1907_Insassen

Vier Schnauzbartträger allein genügen noch nicht, um die „Besatzung“ als deutsch ansprechen zu können – Kaiser Wilhelm II. war keineswegs Erfinder dieser einst auch bei unseren Nachbarn verbreiteten Mode.

Ein Indiz für eine Aufnahme – und damit wahrscheinlich ein Auto – aus dem deutschen Sprachraum – ist die Prinz-Heinrich-Mütze des Fahrers, damals ein hierzulande verbreitetes Accessoire, das der segelbegeisterte und geschwindigkeitsberauschte Bruder des Kaisers populär gemacht hatte.

Gewissheit gibt uns aber das Erscheinungsbild des deutschen Militärangehörigen, der hier würdevoll in die Ferne blickt:

Opel_Ak_Breslau_nach_Harmersdorf_Lk_Chemnitz_12-1907_Offizier

Einem Spezialisten unter den Lesern verdanken wir den Hinweis, dass es sich um einen Vizefeldwebel handelt – erkennbar am Sergeanten-Knopf am Kragen, einem Ring am Ärmel und dem Portepee am Degen.

Demnach haben wir es mit einer Aufnahme aus Deutschland zu tun. Zwar gab es zum Entstehungszeitpunkt 1907 auch einige ausländische Marken, deren Autos sich hierzulande verkauften, sie blieben aber selten.

Deutsche Hersteller, die seinerzeit Wagen dieser Größenordnung herstellten, gab es nicht viele. In Frage kommen Adler, Audi, Benz, Daimler, Dürkopp, Hansa, Horch, NAG, NSU, Opel, Presto, Protos und Stoewer.

So geheimnisvoll diese Aufzählung überwiegend untergegangener deutscher Marken klingt, so vermeintlich banal ist die Lösung.

Die nach hinten geneigten (mindestens 12 Luftschlitze) in der Haube fanden sich damals nur bei Opel-Modellen ab 1906:

Opel_Ak_Breslau_nach_Harmersdorf_Lk_Chemnitz_12-1907_Frontpartie

Auf diesem Ausschnitt, der einen ziemlich großen Motor ahnen lässt, wollen wir auch dem mutmaßlichen eigentlichen Fahrer des Wagens würdigen.

Er musste wohl anlässlich der Aufnahme einem der Passagiere Platz machen, der im Unterschied zu ihm keine Fahrerbrille trägt und besser genährt wirkt. Doch gehört der Fahrer auf jeden Fall dazu – ein Standard der Autofotos jener Zeit.

Man wusste das besondere Können der Chauffeure zu schätzen, deren Status nicht mit dem heutiger Taxifahrer zu verwechseln ist. Sie mussten nicht nur ohne Navigationshilfen ans Ziel kommen, sie waren auch für die komplexe Wartung und ggf. Reparatur dieser frühen Automobile verantwortlich.

Was zeigt obiger Ausschnitt noch? Zwei entscheidende Dinge:

  • Die Haube stößt rechtwinklig auf die Schottwand. Erst ab 1910 gestaltete Opel wie andere deutsche Hersteller diesen Übergang gefälliger – mit nach oben ansteigendem Windlauf. Somit sind wir bei einer Datierung spätestens 1909.
  • Der Vorderkotflügel geht noch nicht ins Trittbrett über und schließt nach unten senkrecht ab. Das finden wir so nur beim Opel-Modell 24/40 PS von 1906/07.

Das Datum der Aufnahme (Dezember 1907) ist eine zusätzliche Bestätigung für das frühe Baujahr des abgebildeten Wagens.

Angesichts der spärlichen Bilddokumente zu den großen Opel-Wagen der Zeit vor dem 1. Weltkrieg ist der Verfasser natürlich dankbar für alle ergänzenden oder auch korrigierenden Hinweise zur Identifikation des genauen Typs.

Nur dies steht für ihn außer Frage:

Die rasante technologische Entwicklung und die hervorragende Qualität des um 1900 Möglichen, das bspw. im Fall der Eisenbahninfrastruktur und unzähliger Bauten bis in das 21. Jahrhundert fortwirkt, vermisst man hierzulande zunehmend.

Sei es die planmäßige Fertigstellung von Flughäfen, der pannenfreie Betrieb von Neubaustrecken der Bahn oder die angemessene Ausstattung des Bildungswesens – man hat den Eindruck, dass das Können des heute maßgeblichen Personals und Wirtschaft und Politik keinen Vergleich mit den Verhältnissen vor 110 Jahren aushält.

Der abschüssige Weg der einst führenden Marke Opel in die Niederungen der Gegenwart mag sinnbildlich für einen eklatanten Verlust an Vorstellungsvermögen, Können, Willen und Ernsthaftigkeit stehen, der uns täglich vor Augen geführt wird.

Schon bei der Frage, ob die Laufzeit der Postkarte mit dem mächtigen Opel 24/40 PS anno 1907 vom schlesischen Breslau ins sächsische Harmersdorf bei Chemnitz damals länger war, als sie es heute wäre, beschleichen einen leise Zweifel, ob bei uns im Jahr 2017 wirklich alles zum besten steht…

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

1931 noch ein „Youngtimer“: Ein Piccolo von 1907

Wer beim Stichwort Piccolo zuerst an Sektflaschen im Miniaturformat denkt und nicht an einen weit über 100 Jahre alten Autotyp, dem kann man es nicht verdenken.

Auch auf diesem Vorkriegs-Oldtimerblog hatten wir erst einmal das Vergnügen, eines der ab 1904 gebauten Fahrzeuge der Firma Ruppe & Sohn aus dem thüringischen Apolda kennenzulernen.

Den kompletten Bericht zu den recht erfolgreichen Kleinwagen mit luftgekühltem V-Zweizylindermotor gibt es hier zu lesen. Folgendes Foto zeigt das Modell von 1905, das wir seinerzeit in der Kategorie Fund des Monats vorgestellt haben:

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Piccolo um 1905; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses noch altertümlich wirkende Modell mit frei im Fahrtwind stehenden „Twin“-Aggregat wurde laufend weiterentwickelt, wobei die Leistung des auf 800ccm vergrößerten Motors bis 1910 von anfänglich 5 auf 7 PS stieg.

Für das Erscheinungsbild der modellgepflegten späten Versionen war aber ein anderes Detail wichtiger: 1907 erhielt der Piccolo eine Motorhaube, die ihn nun wie ein vollwertiges Automobil erscheinen ließ.

Vorgeblendet wurde bei der Gelegenheit auch eine Kühlerattrappe – für die eigentliche Kühlung des mit steigender Leistung thermisch stärker belasteten Aggregats sorgten dahinter verborgene Ventilatoren.

So weit die spärliche und im Detail widersprüchliche Literatur zu den ganz frühen Modellen von Ruppe & Sohn (späterer Markenname „Apollo“ bekannt). Doch ein historisches Originalfoto eines dieser späten Piccolo-Typen? Schwierig.

Eine Recherche im Netz fördert zwar einige moderne Aufnahmen überlebender Piccolo-Wagen zutage, was erfreulich ist, aber nicht dem Anspruch dieses Blogs genügt.

Doch irgendwann gelingt ein Fund wie dieser:

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Piccolo um 1907; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das ist eine in doppelter Hinsicht historisch interessante Aufnahme.

Sie ist auf Mai 1931 datiert und zeigt zwei junge Burschen, die sich für einen Veteranenwagen interessieren , der zum Zeitpunkt der Aufnahme nach heutigen Maßstäben allenfalls ein Youngtimer wäre.

Vermutlich ist die Aufnahme bei einer KfZ-Ausstellung entstanden, bei der dieser Veteranenwagen eine Statistenrolle innehatte.

Nach eingehendem Studium ist sich der Verfasser sicher, dass wir hier einen Piccolo in der Form sehen, wie sie ab 1907 gebaut wurde.

Deutlich erkennbar ist, dass der „Kühler“ eine Attrappe ist. Auch Anordnung. Form und Zahl der seitlichen Luftschlitze „passen“:

Apollo_Piccolo_7_PS_von_1907_Mai_1931_Ausschnitt

Was irritiert, ist der Schriftzug „ANNO 1902“ auf der Motorhaube. Zu diesem Zeitpunkt baute Ruppe & Sohn noch keine Automobile.

Jedoch wäre dies nicht der erste Fall, bei dem ein historischer Wagen falsch datiert wurde – eventuell hat jemand ein handschriftlich in der Fahrzeugdokumentation vermerktes Baujahr „1907“ falsch interpretiert.

Der Verfasser lässt sich gern eines Besseren belehren, doch bis zum Beweis des Gegenteils sieht er hier einen Piccolo im Erscheinungsbild des Jahres 1907. Praktisch das gleiche Auto ist auf einer Werbeabbildung auf S. 34 des Buchs „Ahnen unserer Autos“ von Paul Gränz und Peter Kirchberg zu sehen. 

Möglicherweise hat ein Leser eine zündende Idee, was die Gelegenheit angeht, bei der diese ungewöhnliche Aufnahme entstand. Hinten sieht man eine DKW Block 300 oder 350 – das Spitzenmodell der sächsischen Marke Anfang der 1930er Jahre:

Apollo_Piccolo_7_PS_von_1907_Mai_1931_Ausschnitt2

Der Schriftzug auf dem Schild im Hintergrund ist nur teilweise zu lesen. Auf dem Originalabzug ist in etwa Folgendes zu entziffern:

„Zum (?) … der Zeit und der Tat gehört (?) das Rad“.

Nachtrag: Leser Klaas Dierks hat den Slogan eingehender betrachtet und schlägt folgende (stimmige) Auflösung vor: „Zum Tempo der Zeit und der Tat gehört das Rad“

Auf die beiden jungen Burschen, die sich hier für den Piccolo interessieren, muss der Wagen trotz seines Alters von gerade einmal 24 Jahren wie eine Erscheinung aus grauer Vorzeit gewirkt haben.

Zwischen 1907 und 1931 hatte das Automobil in rasendem Tempo eine Entwicklung durchlaufen, die wir uns heute kaum vorstellen können.

Man wünscht sich, dass die ganz frühen Zeugen der Automobilität hierzulande auch bei den jungen Leuten auf denselben Enthusiasmus stoßen, wie er bei unseren französischen, niederländischen und britischen Nachbarn selbstverständlich ist.

Die „Youngtimer“ im Jahr 1931 waren definitiv faszinierender als die des Jahres 2017 es sind. Das zu vermitteln, ist Aufgabe der Generation, die derzeit Hüter der ganz frühen Automobile ist.

Wer im deutschsprachigen Raum über das Desinteresse der Jugend an wirklich historischen Fahrzeugen jammert, muss sich die Frage gefallen lassen: Was tust Du dagegen?

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Ein Franzose aus Rüsselsheim: Opel Darracq 16/18 PS

Franzosen in Rüsselsheim – das ist keineswegs ungewöhnlich in der Geschichte der zwischen Mainz und Frankfurt am Main gelegenen Stadt.

Für bleibende Eindrücke im Stadtbild sorgten die französischen Besatzungstruppen, die während eines weite Teile Südwestdeutschlands verheerenden Feldzugs im Jahr 1688 die Festung Rüsselsheim sprengten.

Die bekannte Ruine des Heidelberger Schlosses ist ebenfalls Ergebnis dieses Vorläufers der Politik der Verbrannten Erde. Zum Glück wuchs immer wieder Gras über die Narben, die sich die Völker Europas über die Jahrhunderte geschlagen haben.

So gab es Anfang des 20. Jahrhunderts ein ausgesprochen fruchtbares Neben- und Miteinander französischer und deutscher Automobilhersteller.

Nachdem die Grundlagen für das Auto auf deutschem Boden geschaffen worden waren, griffen französische Ingenieure und Unternehmer die Idee auf. Ihnen ist im wesentlichen die Weiterentwicklung des Automobils bis etwa 1905 zu verdanken.

So kam es, dass am Anfang der Autoproduktion etlicher deutscher Hersteller eine Lizenzfertigung von Wagen französischer Marken wie De Dion, Panhard oder Darracq stand.

Mit Darracq schloss die Rüsselsheimer Firma Opel Ende 1901 ein Lizenz- und Lieferabkommen ab. Entsprechend wurden die von Opel ab 1902 montierten Wagen der Bauart „Darracq“ beworben:

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Originalreklame von 1902/03 aus Sammlung Michael Schlenger

Zwar entwickelten die Opel-Ingenieure rasch eigene Automodelle auf dieser Basis. Doch bis zum Ende der Kooperation mit Darracq im Jahr 1906 entstanden in Rüsselsheim weitere den Darracq-Modellen entsprechende Wagen – womit wir bei besagten Franzosen aus Rüsselsheim wären.

Dazu gehörten übrigens auch großzügiger dimensionierte Darracq-Typen – Opel bot früh neben kompakten Wagen mit Erfolg durchaus repräsentative Modelle an. Von diesem Anspruch ist über 100 Jahre später nicht viel übriggeblieben.

Die Vielfalt der Darracq-Lizenztypen und der „Eigengewächse“ von Opel nach der Jahrhundertwende ist ziemlich verwirrend. Ein Opel-Automobil jener Zeit präzise ansprechen zu können, ist daher ein Glücksfall – und heute haben wir Glück:

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Opel Darracq Typ 16/18 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Nun ja, mag man nun denken, das ist ein wirklich früher Wagen – aber wie um Himmels Willen lässt sich der als Opel Darracq 16/18 PS identifizieren?

Das, liebe Leser, ist tatsächlich möglich, man muss sich nur genau auf das Fahrzeug einlassen, es verrät uns dann alle notwendigen Details.

Hier hat der Fotograf mit einer großformatigen Plattenkamera bewaffnet eine günstige Perspektive gewählt. So können wir alle entscheidenden Details genau studieren:

Opel_Darracq_16_PS_1904-06_Vorderrad

Phänomenal, welche Details eine über 100 Jahre alte Aufnahme zu offenbaren vermag, obwohl das Einlesen im digitalen Scanner mit einigen Detailverlusten einhergeht. Wie bei Musikkonserven geht doch nichts über das analoge Original!

Wer den Kopf um fast 90 Grad nach links dreht, kann auf der Nabenkappe eindeutig den Schriftzug „OPEL“ lesen.

Engen wir nun die Entstehungszeit anhand der Details der Frontpartie weiter ein:

Opel_Darracq_16_PS_1904-06_Frontpartie

  • Ölbetriebene Positionsleuchten an der Schottwand – sie wurden ab etwa 1912 durch elektrische Lampen ersetzt – ein erster Datierungshinweis.
  • Die Motorhaube stößt rechtwinklig auf die Schottwand – ab 1910 wich diese Anordnung einem Windlauf, der einen strömungsgünstigeren Übergang herstellte.
  • Bienenwabenkühler nach Vorbild des Daimler „Mercedes“ von 1901; senkrechte Luftschlitze in den hinteren zwei Dritteln der Motorhaube.

Damit können wir nun die Bilder von Opel-Wagen zwischen 1902 und 1908/09 in der Literatur durchforsten. Fündig werden wir auf Seite 24 der „Opel Fahrzeug-Chronik Band I, 1899-1951“, Verlag Podszun, 2012.

Dort findet sich dasselbe Modell mit der Bezeichnung Opel Darracq 16/18 PS. Es basierte auf einem Darracq-Typ, der mit 14 PS-Zweizylinder und 16 PS-Vierzylinder verfügbar war.

Die beiden Versionen unterscheiden sich äußerlich durch die Form des Kühlers: beim Zweizylinder ist er leicht nach hinten geneigt, beim Vierzylinder steht er senkrecht.

Demnach haben wir auf dem Foto den größeren 16/18 PS Typ vor uns, der von Opel im Jahr 1904/05 gebaut wurde. Über 10.000 Mark waren dafür zu berappen – seinerzeit ein Vermögen.

Wer sich das leisten konnte, war auch in der Lage, einen Chauffeur zu beschäftigen:

Opel_Darracq_16_PS_1904-06_Insassen

Der Fahrer, der hier zufrieden neben seinem Brötchengeber mit Nadelstreifenanzug und Melone sitzt, könnte diesem zuvor als Kutscher gedient haben.

Auch wenn er nun Herr über 18 statt nur ein bis zwei Pferdestärken war, dürfte ihm zumindest die Sitzposition vertraut gewesen sein.

Von rechts ließen sich nämlich einst die Gäule bei Bedarf mit der Peitsche antreiben, mit rechts wurde die außenliegende Handbremse betätigt, und rechts musste man auf den Straßengraben oder einen für die Herrschaften geeigneten Ausstieg achten.

Das erklärt, weshalb praktisch alle frühen Automobile über Rechtslenkung verfügten. Meist mit der Rechten wurde seinerzeit auch die Ballhupe betätigt, die auf unserem Foto auf dem Schoß des Opel-Besitzers liegt.

Dieses Motiv ist fast schon ein Stereotyp aus der Frühzeit des Automobils: Der Besitzer vermochte sonst zwar nichts zum Betrieb des Wagens beitragen  – doch mit der Hupe Fußgänger, Hühner und Hunde weghupen, das ging allemal:

„Es ist doch wie im Geschäft – ohne mich wüsste keiner, wie es vorangeht!“ 

Der Chauffeur mag sich dagegen gedacht haben:

„Wenn der Herr Direktor wüsste, was das für eine Arbeit ist, ein Automobil zu steuern, von der Wartung ganz zu schweigen.“

Immerhin mussten beim 16/18 PS-Modell die Schmierstellen des Opel nicht mehr während der Fahrt mittels Handpumpe versorgt werden – eine automatische Ölpumpe übernahm das.

Und im Unterschied zur Pferdekutsche musste der Antrieb nicht auch im Ruhezustand gefüttert werden – nur im Betrieb flossen ca. 6,5 Liter Benzin durch den Vergasers des 3-Liter-Aggregats. Klingt auffallend wenig, aber bei einem Spitzentempo von 60 km/h relativiert sich das.

Hinter dem Armaturenbrett ging es noch ganz zu wie zu Zeiten der Pferdekutsche – eine aufwendig geschreinerte und von Hand lackierte Holzkarosse mit Klappverdeck, gesteppten Lederpolstern und Weidenkörben als Stauraum:

Opel_Darracq_16_PS_1904-06_Heckpartie

Nur der pneumatische Reifen – später verkürzt zum Pneu – verrät hier, dass wir es mit einem Automobil zu tun haben.

Wenn nicht alles täuscht, hatten die Franzosen auch in Sachen Luftreifen für Automobile auf dem Kontinent anfänglich die Nase vorn. So begann Michelin bereits 1889 mit der Produktion.

Der Opel Darracq auf unserem Foto besitzt aber bereits Reifen des deutschen Herstellers Continental (Fertigung ab 1898). 1904 – also zur Bauzeit des Wagens – zog Continental mit dem ersten profilierten Reifen der Welt an den Franzosen vorbei.

Damit transportiert uns diese Aufnahme in eine Zeit zurück, die von rasantem Fortschritt in allen Bereichen des Automobilbaus geprägt war. Fünf Jahre entsprachen damals eine ganzen Autogeneration.

Der nächste Opel aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg, den wir besprechen wollen, hat schon eine deutlich modernere Anmutung, muss aber noch etwas warten…

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

Schnabelkühler-Typ der 1920er Jahre: Hansa P 8/26 PS

Der Erste Weltkrieg war in vielerlei Hinsicht wohl die größere Zäsur als der Zweite.

Mit ihm ging die Belle Epoque in Europa zuende – eine faszinierende Zeit, in der technische Innovationen in unvorstellbarem Tempo aufeinanderfolgten und zugleich die Kunst der schönen Formgebung ihren letzten Höhepunkt erreichte.

Man steht als Mensch des frühen 21. Jahrhunderts sprachlos vor den Leistungen der Ingenieurskunst jener Zeit, die fast immer auch ein ästhetischer Genuss waren – von spannungsreichen stählernen Bogenbrücken über kathedralenartige Turbinenhallen bis hin zu organisch durchgeformten Maschinen und Gerätschaften.

Mit dem technischen, organisatorischen und gestalterischen Können der Kaiserzeit würden uns die alltäglichen Demonstrationen an Unvermögen beispielsweise im Bereich der Infrastruktur hierzulande erspart bleiben.

Nur etwas mehr als 100 Jahre trennen uns von dieser einzigartigen Blütezeit. Doch deren Hervorbringungen wirken heute wie Relikte aus einer vor Urzeiten untergegangenen Welt:

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Unbekanntes Automobil; Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Auf dieser Postkarte aus dem Jahr 1909 sehen wir, wie sich beim Automobil die jahrhundertealte Tradition des Kutschbaus mit dem Maschinenbau vermählt.

Ganz selbstverständlich lebt hier die opulente Ästhetik des ausgehenden 19. Jahrhunderts fort, nur der Antrieb des Wagens hat sich geändert. Auch die junge Dame am Steuer ist ihrer Erscheinung nach der Tradition verhaftet.

Nur zehn Jahre später – nach Ende des 1. Weltkriegs – sehen Mensch und Maschine deutlich sachlicher aus:

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Hansa Typ C 8/24 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wir haben dieses Dokument vor längerer Zeit besprochen (hier). Es hilft uns bei der Einordnung der Aufnahme, um die es heute geht. Man sieht auf dem Foto einen vor dem 1. Weltkrieg entstandenen Hansa-Tourenwagen des Typ C 8/24 PS.

Der Schnabelkühler in Verbindung mit den organisch verrippten Schutzblechen und den erhaben geprägten Luftschlitzen ist typisch für das Hansa-Vorkriegsmodell (vgl. H.H. v. Fersen, Autos in Deutschland 1885-1920, S. 212):

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Die elektrischen Scheinwerfer sind vermutlich nachgerüstet, das Foto ist auf jeden Fall nach dem 1. Weltkrieg entstanden, wie am Erscheinungsbild der jüngeren Insassen zu erkennen ist.

Nur wenige Jahre später hat sich auch im Automobilbau eine formale Sachlichkeit durchgesetzt, die in ihren besten Beispielen durchaus elegant wirkt, in den meisten Fällen aber blutleer und mitunter belanglos daherkommt.

Gerade Autos der 1920er Jahre sind daher oft kaum auseinanderzuhalten, wenn nicht gerade die wenigen markentypischen Elemente erkennbar sind.

Folgender Hansa Typ P 8/36 PS (Bildbericht) von Mitte der 1920er Jahre könnte alles Mögliche sein, wären da nicht die nach innen geprägten Luftschlitze in der Haube:

Hansa_Typ_P_8-36_PS_Ausschnitt

Hansa Typ P 8/36 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Formgebung der Luftschlitze – und der oben erwähnte Schnabelkühler – werden uns bei der Datierung des Wagens helfen, um den es hier eigentlich geht.

Mit besagtem Fahrzeug werden wir nicht nur eine Lücke in der Dokumentation der Hansa-Wagen in diesem Blog schließen, sondern zugleich zeigen, wie Anfang der 1920er Jahre Elemente der Vor- und Nachkriegszeit bei Wagen aus dem deutschen Sprachraum nebeneinander existierten.

Jetzt aber endlich zu dem angekündigten „Schnabeltier“ der 1920er Jahre:  

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Hansa Typ P 8/26 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Abgesehen von dem seltenen Wagen ist das ein Foto wie aus dem Bilderbuch – perfekt belichtet, kontrastreich und mit unterschiedlich posierenden Insassen.

Es geht nichts über historische Automobilaufnahmen mit ihren einstigen Besitzern und Nutzern. Originale Werksfotos mögen heute für den Restaurator instruktiv (mitunter auch irreführend) sein; aber es ist meist kein Leben darin.

Werfen wir nun einen näheren Blick auf die Frontpartie, die am ehesten Aufschluss über die Identität früher Automobile gibt:

Hansa_Typ_P_8-26_PS_Frontpartie

Da haben wir nach wie vor einen Schnabelkühler – was wie eine Beule im Kühlergehäuse aussieht, war durchaus beabsichtigt – und man kann sogar einen Teil des „Hansa“-Schriftzugs auf dem Kühlergrill lesen.

Alles wie auf dem Foto des Hansa Typ C 8/24 PS aus der Vorkriegszeit. Doch der aufmerksame Betrachter wird bemerken, dass dieser Wagen bereits dieselben nach innen geprägten Luftschlitze besitzt wie der Hansa Typ P 8/36 der 1920er Jahre.

Tatsächlich: Hier haben wir es mit dem ab 1921 gebauten Hansa Typ P 8/26 PS zu tun, der eine leistungsgesteigerte Neuauflage des Vorkriegstyps C 8/24 PS war.

Bei nahezu identischem Hubraum (2,1 Liter) leistete das Nachkriegsmodell trotz der tiefstapelnden Bezeichnung laut Literatur solide 30 PS. Damit konnte man sich in der ersten Hälfte der 1920er Jahre hierzulande sehen lassen.

Die Insassen „unseres“ Hansa Typ P 8/26 PS machen einen entsprechend zufriedenen Eindruck (überwiegend):

Hansa_Typ_P_8-26_PS_Insassen

Unsere Vorfahren in ihren Automobilen abgelichtet zu sehen, gehört nicht zu den geringsten Reizen der Beschäftigung mit Vorkriegswagen. Bei manchen Typen wie etwa dem Fahrer fragt man sich, wo solche Charaktere heute zu finden sind.

Vielleicht ist in den letzten 100 Jahren mehr verlorengegangen als nur das souveräne technische und ästhetische Können – womöglich sind auch echte Persönlichkeiten rar geworden…

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

Unbekannte Größe: Opel-Feldpostkarte von 1916

Die Beschäftigung mit Vorkriegsautos hat durchaus ihre Schattenseiten. So ist die große Epoche edler und exaltierter Manufakturwagen längst Geschichte.

Immerhin gibt es überlebende Beispiele einstiger Karosseriebaukunst. Ist so ein Anblick nicht im wahrsten Sinne des Wortes erhebend?

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Delahaye Cabriolet in Chantilly 2015; Bildrechte: Michael Schlenger

Für moderne Automobile hat man nur noch ein mildes Lächeln übrig, wenn man die Vielfalt an Marken, Typen und Konzepten der Vorkriegszeit zu erfassen beginnt.

Da gab es mehrere tausend Hersteller, die auf allen Feldern heftig konkurrierten, entsprechend rasante Fortschritte machte die technische Entwicklung.

Benzinkutschen, Dampfwagen, Elektroautos, sogar Hybridfahrzeuge – das gab es vor über 100 Jahren alles parallel, übrigens ganz ohne Zutun gefühlsgeleiteter Politiker/innen (muss an dieser Stelle sein), deren Kompetenz sich in einem erfolgreich abgebrochenen Theologiestudium erschöpft…

Übriggeblieben sind aus dieser Epoche des Aufbruchs in neue Dimensionen der Mobilität gut ein Dutzend Marken.

Einige wie BMW und Daimler gehören trotz mancher Verirrungen immer noch zur Speerspitze des Fortschritts. Andere wie Alfa und Fiat sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Irgendwo dazwischen lässt sich Opel ansiedeln.

Dabei geht es weniger um das heutige technische Können der Rüsselsheimer als vielmehr um die Preisgabe eines Marktsegments, in dem man vor über 100 Jahren selbstverständlich angesiedelt war – der Oberklasse.

Um diese heute kaum noch bekannte Positionierung der Marke Opel geht es nebenbei auf dem historischen Foto, mit dem wir uns heute befassen:

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Opel Tourenwagen um 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme ist zugleich ein Lehrstück in punkto Identifikation früher Automobile, die gerade bei Modellen vor dem 1. Weltkrieg oft schwerfällt.

Die mäßige Qualität des Abzugs, die wohl einer zu kleinen Blendenöffnung des Objektivs geschuldet ist, hält uns nicht davon ab, uns dem großzügigen Tourenwagen so weit wie möglich zu nähern.

Stellen wir uns „janz dumm“ und beschreiben erst einmal allgemein, was wir vor uns sehen: Fünf militärisch wirkende Herren, die fast alle Schnauzbart tragen, in einem offenen Automobil.

In Verbindung mit dem Hoheitszeichen auf der rechten Wagenseite und der Aufschrift auf der Motorhaube spricht das für eine Aufnahme aus der Zeit des 1. Weltkriegs, und zwar auf deutscher Seite.

Tatsächlich wurde diese Aufnahme im Januar 1916 als Feldpostkarte eines an der Westfront stationierten „Oskar“ an seine Cousine „Paula“ verschickt.

Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass wir auch ein deutsches Auto vor uns haben, obwohl sich hin und wieder Fotos erbeuteter Fahrzeuge belgischer und französischer Marken finden.

Rücken wir unserem „Militärtransporter“ näher zu Leibe:

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Festzuhalten sind folgende Elemente:

  • Die Motorhaube stößt nicht rechtwinklig auf die Schottwand unter der Windschutzscheibe, vielmehr schafft eine Blechpartie – der sogenannte Windlauf – einen strömungsgünstigeren Übergang. Dieses Detail setzte sich bei den meisten deutschen Herstellern ab 1910 durch.
  • Der Wagen besitzt einen Flachkühler, der ab 1914 bei vielen Marken im deutschsprachigen Raum durch einen modischen Spitzkühler abgelöst wurde.
  • Zwischen dem Vorderschutzblech, dessen Form nicht mehr ganz dem Auslieferungszustand entspricht, und den beiden Ersatzreifen zeichnen sich vier bis fünf leicht nach hinten geneigte Luftschlitze in der Haube ab.

Stilistisch bewegen wir uns damit in der Zeit um 1912. Die Gestaltung der Luftschlitze verweist auf diverse Modelle der Marke Opel aus jener Zeit.

Bestätigen lässt sich diese Hypothese durch Vergleich mit zeitgenössischen Fotos von Opel-Wagen in der Literatur. Dort findet sich auch ein weiteres Detail:

Opel_evtl._24_PS_um 1912_Ak_Oskar_an_Cousine_Paula_01-1916_Heckpartie

Gemeint ist der durch eine Zierlinie akzentuierte Ausschnitt im unteren Bereich des Heckschutzblechs. Er gibt den Blick frei auf die vordere Aufnahme der hinteren Blattfeder.

Auch Form und Anordnung der Trittbretthalter sowie das Fehlen eines die Schwellerpartie abdeckenden Blechs sprechen für einen Opel um 1912.

Nicht „serienmäßig“ wirkt der starke Sturz des Hinterrads, der bei einer Starrachse eigentlich nicht möglich ist – außer, wenn sie gebrochen ist…

Was zeichnet sich eigentlich auf dem oberen Teil des Reifens ab? Leser René Förschner plädiert für Stricke, die nach Art einer Schneekette um die Hinterreifen gewickelt sind. Plausibel auch in Anbetracht des Datums des Fotos: Januar 1916.

Unterdessen gehen wir der Frage nach, ob sich ein Opel-Typ der Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg identifizieren lässt, der mit „unserem“ Wagen übereinstimmt.

Da stoßen wir jedoch an unsere Grenzen – denn wie bei anderen deutschen Marken der Zeit vor dem 1. Weltkrieg unterschieden sich die Opel-Typen hauptsächlich durch ihre Dimensionen – formal waren sie weitgehend identisch.

Anhaltspunkte geben lediglich der Radstand, der mit wachsender Motorisierung tendenziell zunahm, und das Verhältnis von Karosseriekörper zu Insassen.

Konkret bedeutet das: Das Spitzenmodell von Opel, der Typ 40/100 PS mit über 10 Liter Hubraum (aus vier Zylindern…) ähnelte formal stark dem Kleinwagentyp 6/16 PS (mit 1,5 Liter-Motörle), war aber weit länger, höher und geräumiger.

So wie im richtigen Leben die Wahrheit oft in der Mitte (nicht im Mittelmaß) liegt, sind wir aufgrund der Proportionen gut beraten, den Opel auf Oskars Feldpostkarte an Paula in der Mittelklasse anzusiedeln.

Der Verfasser tippt auf einen Opel des Typs 8/20 PS, noch eher aber auf einen Typ 10/24 PS (ab 1913: 10/30 PS) mit rund 3 Meter Radstand.

Diese Wagen waren im Unterschied zu den Oberklassemodellen von Opel zwar um einiges langsamer, eigneten sich aber dank geringeren Gewichts und niedrigeren Verbrauchs eher für den Militäreinsatz.

Die sprichwörtliche Opel-Solidität boten sie ebenso wie die Spitzenmodelle. Damals durfte man bei einem Rüsselsheimer Klein- und Mittelklassewagen dieselben Verarbeitungsstandards wie bei den Premiummodellen erwarten.

Heute geht das schon deshalb nicht mehr, weil sich Opel vor Jahrzehnten aus der Oberklasse verabschiedet hat.

Kein Wunder, dass die Opel-Typen aus der Zeit vor der dem 1. Weltkrieg heute ebenso eine unbekannte Größe darstellen wie der Motor unter der Haube des Tourenwagens, in dem vor über 100 Jahren vermutlich unser Feldpostverfasser Oskar saß und mit dem er seine Cousine Paula beeindrucken wollte.

Hoffen wir, dass die Sache für ihn besser ausgegangen ist als die Geschichte von Opel in jüngerer Zeit…

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

 

Wer A sagt, muss auch B sagen: Audi 10/28 PS von 1912

Woran erkennt man eigentlich einen frühen Vorkriegswagen der Marke Audi? Dieser scheinbar einfachen Frage gehen wir heute nach – wie gewohnt anhand bisher unpublizierter Originalfotos.

Um die Antwort vorwegzunehmen und zugleich maximale Verwirrung zu stiften – ein früher Vorkriegs-Audi ist vor allem daran zu erkennen, dass gut leserlich der Schriftzug „Audi“ vorn auf dem Kühler prangt.

Moment, werden jetzt alle diejenigen rufen, die sich unter einem Vorkriegs-Audi einen Wagen vorstellen, der wie heute vier ineinandergreifende Ringe trägt, z.B. dieser hier:

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DKW „Reichsklasse“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

So naheliegend es auch vielen erscheint, hier einen frühen Audi zu vermuten, bleibt es dabei: Die vier Ringe waren vor dem Krieg nie ein typisches Merkmal eines Audi – sie verwiesen schlicht auf den übergeordneten AUTO-UNION-Verbund.

Dazu gehörten neben Audi die ebenfalls sächsischen Marken DKW, Horch und Wanderer. Deshalb findet man die vier Ringe stets in Kombination mit dem Emblem der jeweiligen Konzernmarke – im vorliegenden Fall DKW:

DKW_Reichsklasse_Standesamt_Reserverad

Das typische DKW-Logo ist über den „Auto-Union“-Ringen recht gut zu erkennen.

Interessant ist bei diesem Ausschnitt der Hinweis auf dem Reserverradbezug, dass es sich um die Basisvariante „Reichsklasse“ eines der frontgetriebenen Zweizylinder-Zweitakter handelt, die in den 1930er Jahren enorm populär waren.

Offenbar wurde die „Reichsklasse“ nicht als minderwertig gegenüber der besser ausgestatteten Version „Meisterklasse“ empfunden. Kann jemand sagen, was unterhalb des Schriftzugs Reichsklasse zu sehen ist – eventuell der Aufkleber oder Aufdruck eines Autohauses?

Zurück zum Thema: Auch der folgende Wagen ist kein Audi, obwohl zumindest eine gewisse „Verwandschaft“ besteht:

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Horch 830; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier verraten das gekrönte „H“ und die Kühlerfigur in Form einer geflügelten Weltkugel, dass wir einen Horch vor uns haben, und zwar einen vom Typ 830.

Damit kommen wir Audi schon etwas näher, denn August Horch hatte nach seinem Weggang aus dem nach ihm genannten Unternehmen im Jahr 1910 unter der lateinischen Bezeichnung „Audi!“ („Horch!“) eine neue Firma gegründet.

Der Vollständigkeit halber sei hier ein weiterer Audi-Kandidat gezeigt, der trotz vier Ringen bzw. gerade deshalb ebenfalls keine Chancen hat:

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Wanderer W24; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme zeigt einen Wagen der vierten Marke der Auto-Union, Wanderer. Bei näherem Hinsehen ahnt man ein geflügeltes „W“ auf der Spitze der Motorhaube, das auf den Hersteller hinweist.

Ja, woran könnte man dann einen Audi der Zwischenkriegszeit erkennen? Könnte es eine stilisierte „1“ gewesen sein? Immerhin ist „A“ der erste Name im Alphabet und „Audi“ kam so gesehen der erste Rang im Auto-Union-Verbund zu.

Tatsächlich hat es genau so etwas gegeben:

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Audi Typ 225 Luxus; Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Damit sind wir zwar etwas weiter, aber beileibe noch nicht am Ziel.

Tatsächlich verwendete man bei Audi die „Eins“ als Kühlerfigur bereits ab 1923 – also lange bevor die Firma Teil des Auto-Union-Verbunds wurde. Doch war eingangs nicht von frühen Vorkriegs-Audis die Rede?

Genau – Freunde der sächsischen (!) Marke denken bei Vorkriegs-Audis nämlich nicht nur an Gefährte der Zwischenkriegszeit, sondern auch an vor dem 1. Weltkrieg entstandene Autos.

Und da stellten sich die Dinge völlig anders da, nämlich so:

Audi_Typ_B_Tourenwagen_vor_1914_Galerie

Audi Typ B 10/28 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das war nun ein ziemlicher Umweg bis zum Audi Typ B 10/28 PS, der im Titel des heutigen Blogeintrags angekündigt wurde.

Nebenbei wird so deutlich, wie verschlungen die Wege waren, auf denen der Markenname Audi und das vertraute Emblem bis in die Gegenwart gelangt sind.

Tatsächlich ist es alles andere als einfach, einen der ganz frühen Audis zu erkennen, wenn man kein Markenspezialist ist. So verstrich einige Zeit vom Erwerb dieses schönen Fotos bis zur Identifikation von Marke und Typ.

Dabei erscheint der Fall auf den ersten Blick ganz einfach: Sind von der Kühlerpartie nicht genügend Details zu erkennen, kann man dort nicht den Markennamen lesen?

Nein, lautet die Antwort, kann man leider nicht:

Audi_Typ_B_Tourenwagen_vor_1914_Frontpartie

Dummerweise hat unser Fotograf vor über 100 Jahren den Schärfenbereich des Kameraobjektivs zu knapp bemessen bzw. die Entfernung falsch eingeschätzt.

So sind nur die fein dekorierten Holzfenster im Hintergrund scharf abgebildet – nebenbei Exemplare im späten Jugendstil, die von einem untergegangenen Sinn für handwerkliche Qualität und formale Gestaltung künden.

Immerhin kam dem Verfasser nach einigen Recherchen – besser: ziellosem Durchblättern von Automobilliteratur – der Gedanke, dass dies ein Audi aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg sein könnte.

Darauf brachte ihn die Abbildung eines Audi Typ „A“ von 1910-12 im Standardwerk „Audi-Automobile 1909-1940“ von Kirchberg/Hornung. Dort fand sich ein Wagen mit ganz ähnlicher Kühlerpartie.

Zwar fehlte Audis Erstling vom Typ A in dem Buch noch der stufenlose Übergang von der Motorhaube über den Windlauf zur Frontscheibe. Doch wer „A“ sagt, muss auch „B“ sagen, so das Sprichwort.

Schon Ende 1911 ließ Audi auf den Typ „A“ den ähnlichen, aber auf 28 PS erstarkten Typ B erscheinen, außerdem die noch leistungsfähigeren Typen C und D.

Von diesen Wagen gibt es in der Literatur nur wenige historische Originalfotos. Der Audi Typ B ist in besagter Publikation in einem Exemplar von 1916 dokumentiert, das sogar noch existiert.

Dessen Frontpartie sieht aber eher wie diese hier aus:

Audi_Typ_C_ClassicDays_2017_Frontpartie

Audi Typ C, Baujahr: 1919; Bildrechte: Michael Schlenger

Bei diesem auf Schloss Dyck anlässlich der Classic Days 2017 präsentierten Audi Typ C von 1919 ragt die ovale Plakette mit dem diagonal verlaufenden „Audi“-Schriftzug in das Kühlernetz hinein, auch wirkt der Kühler hier höher als auf dem Foto.

Dennoch hilft uns diese Aufnahme bei der Eingrenzung des Wagentyps auf dem historischen Foto. Denn Audis der unmittelbaren Vorkriegszeit, also 1913/14, besaßen dasselbe Markenemblem wie der auf Schloss Dyck gezeigte Wagen, nur ragte es noch nicht in das Kühlernetz hinein:

Audi_Typ_B_Tourenwagen_vor_1914_Frontpartie2

Man sieht die Ähnlichkeit des schön gewölbten oberen Kühlerabschlusses und man kann auch erkennen, dass die ovale Markenplakette einen schräg nach oben verlaufenden Schriftzug aufweist.

Auch die vier nach hinten versetzten niedrigen Luftschlitze in der Motorhaube weisen auf einen Audi jener Zeit hin.

Der recht niedrige Kühler lässt vermuten, dass wir es mit dem kleinen Typ B zu tun haben. Denn bei den Schwestermodellen C, D und E (mit 35, 45 bzw. 55 PS) baute der Motor bei identischer Grundkonstruktion deutlich höher.

Gut nachvollziehen lassen sich die Größenunterschiede anhand einer im erwähnten Audi-Standardwerk auf S. 25 wiedergegebenen Abbildung der vier Aggregate, die Audi 1914 im Programm hatte.

Nachfolgende Aufnahme zeigt das typische Erscheinungsbild der Audi-Motoren der Typen B bis E mit den paarweise zusammengegossenen Zylindern:

Audi_Typ_C_ClassicDays_2017_Motor

Motor eines Audi Typ C von 1919; Bildrechte: Michael Schlenger

Die 28 PS des im Audi Typ B verbauten Motors mit 2,6 Liter Hubraum waren für die 1,2 Tonnen wiegende Tourenwagenversion ausreichend. Rund 70-80 km/h Höchstgeschwindigkeit waren damit erzielbar.

Die meisten Käufer der rund 350 bis 1917 gebauten Exemplare dürften eine eher gemächliche Gangart geschätzt haben. Auch die Insassen des Audis auf unserem Foto machen nicht den Eindruck, dass sie es sonderlich eilig hatten:

Audi_Typ_B_Tourenwagen_vor_1914_Insassen

Das waren Leute des gehobenen Bürgertums, die in der Lage waren, rund 10.000 Goldmark für einen solchen Manufakturwagen auf den Tisch zu legen.

Die aufpreispflichtigen Scheinwerfer scheinen sie sich aber verkniffen zu haben. Offenbar durfte man damals  bei Tage auch so herumfahren – eine aus heutiger Sicht sympathisch wirkende unbürokratische Regelung.

Übrigens können wir nicht ganz ausschließen, dass wir hier sogar eine rare Aufnahme des Vorgängertyps A 10/22 PS vor uns haben, von dem zwischen 1910-12 nur 137 Stück entstanden.

Ein Blick unter die Haube ist uns leider verwehrt – aber vielleicht kann ein Spezialist für ganz frühe Audis ja weiterhelfen.

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https://klassiker-runde-wetterau.com/2017/05/30/downsizing-im-jahr-1914-audi-typ-g-822-ps/

Anschauungsunterricht mit Opel-Taxi von 1911

Wer als Oldtimerfreund seine Interessen auf Nachkriegsfahrzeuge beschränkt, ist selbst schuld, wenn ihm irgendwann langweilig wird.

Ein paar Dutzend Marken, die meisten Typen zigtausendfach gebaut, abgesehen von einem grandiosen Abgesang der Karosseriebaukunst im Italien der 1950/60er Jahre überwiegend Konfektionsware.

Der Verfasser besitzt zwar selbst einige Autos der 1960 bis 80er Jahre. Aber: Das Gefühl, dass man es mit einem geheimnisvollen Boten aus einer untergegangenen Welt zu tun hat, das stellt sich nur bei Vorkriegsautos ein.

Dabei gilt die Devise „je älter, desto besser“. Hier zählen nicht Pferdestärken, Höchstgeschwindigkeit oder prominente Vorbesitzer.

Die Beschäftigung mit den frühen Automobilen lässt einen an der Entwicklung einer Innovation teilhaben, die unser Leben so stark verändert hat wie zuvor nur die Dampfmaschine. Das gilt besonders für Autos aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg.

Die Fahrzeuge aus der Pionierzeit sind jedoch leider in der einschlägigen Literatur häufig nur mäßig bis gar nicht dokumentiert.

Über 100 Jahre alten Automobilen muss man sich daher mit der Sorgfalt eines Archäologen nähern, der es gewohnt ist, einen Fund anhand von Münzen, formalen Details und Fertigungstechniken zu datieren.

Heute geben wir etwas Anschauungsunterricht in dieser Hinsicht, und zwar anhand dieses Taxis:

Opel_Taxi_um_1911_Galerie

Opel Taxi um 1911; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese prachtvolle Aufnahme liefert perfektes Ausgangsmaterial. Der Wagen wirkt auf das ungeschulte Auge beliebig, doch das Foto ist detailliert genug, um eine präzise Ansprache zu ermöglichen.

Vergessen kann man in solchen Fällen allerdings, dass man in der Literatur genau dieses Fahrzeug abgebildet findet.

Zum einen sind – wenn überhaupt – nur wenige der prinzipiell unzähligen Karosserievarianten dokumentiert. Denn meist lieferten unabhängige Stellmacherfirmen den Aufbau in individueller Manier.

Zum anderen handelt es sich bei historischen Abbildungen oft um Darstellungen aus Prospekten, die nicht den Anspruch fotografischer Genauigkeit hatten.

Häufig hilft nur das detektivische Verfahren der Eingrenzung bzw. des Ausschlusses anhand bekannter Merkmale. Und genau das wenden wir jetzt an:

Opel_Taxi_um_1911_Frontpartie

Der erste Blick bei sehr frühen Automobilen gilt immer der Frontpartie. Wenn man einen Ausschnitt des Kühlers zu sehen bekommt, ist das oft die halbe Miete.

Hier haben wir Glück, denn oben auf der Kühlermaske – dem Bauteil, das das eigentliche Kühlernetz einrahmt – sehen wir klar das augenförmige Opel-Emblem.

Bei Wagen aus der Pionierzeit ist dies oft der einzige Hinweis auf die Marke, weil zu Beginn die meisten Wagen auch formal bewährten Vorbildern von Benz, DeDion oder Panhard folgten bzw. Lizenznachbauten von deren Konstruktionen waren.

Der birnenförmige Kühlerausschnitt ist typisch für Opel-Wagen der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Nach 1918 baute Opel dagegen vor allem Spitzkühlermodelle, wenngleich es erste Vorläufer bereits 1914 gab.

In die Zeit vor dem Krieg verweisen auch die prachtvollen Scheinwerfer, die mit Karbidgas betrieben wurden, also ihre Energie noch nicht von einer Lichtmaschine erhielten. Typisch für die Zeit sind zudem die spitz zulaufenden Schutzkappen.

Ein Illustrator von Jules-Verne-Romanen oder ein Ausstatter früher futuristischer Filme hätte sich dies nicht schöner ausdenken können. Selbst bei Benzinkanistern findet man diese Ästhetik bisweilen.

Zwar gab es schon 1914 elektrische Scheinwerfer als Sonderausstattung, doch sind Gaslampen am Auto nach dem Krieg kaum zu finden.

Auch die Häufigkeitsverteilung des Zwirbelbartes bei den sieben Herren auf dem Foto spricht klar für eine Vorkriegsaufnahme:

Opel_Taxi_um_1911_InsassenNach dem 1. Weltkrieg überwiegen auf solchen Fotos einfache Schnauzbärte oder man ist ganz glattrasiert wie der blasiert dreinschauende junge Mann auf der Rückbank. Den „Kaiser-Wilhelm“-Bart trugen später nur noch ältere Herren, auch dies ein wichtiges Leitfossil bei solchen Aufnahmen.

Wer die Kleidung der Männer betrachtet, wird außerdem feststellen, dass jeder im Detail seinen eigenen Stil pflegt. „Boss“-Anzüge von der Stange oder uniforme „Jack-Wolfskin“-Freizeitjacken gab es damals noch nicht.

Die Kopfbedeckungen sind Varianten der Prinz-Heinrich-Mütze und der Schieberkappe – auch heute perfekte Accessoires bei einer Veteranenausfahrt.

Auto und Aufnahme sind nach der Lage der Dinge klar vor dem 1. Weltkrieg entstanden.

Wie können wir nun den Wagen weiter eingrenzen? Dabei hilft ein Blick auf die Partie zwischen der Motorhaube und der Schottwand zum Innenraum:

Opel_Taxi_um_1911_Windlauf

Bei ganz frühen Automobilen stieß die waagerecht verlaufende Motorhaube auf die vertikale Schottwand mit Frontscheibe (so vorhanden).

Im Rennsport bemühte man sich jedoch früh um die Reduzierung des Luftwiderstands. So verfiel man auf Luftleitbleche, die für einen fließenden Übergang von der Motorhaube zur Frontscheibe und dem eigentlichen Aufbau sorgten – der „Windlauf“ war geboren.

1909/10 setzte sich dieses Element auf breiter Front bei Serienwagen durch. Es gibt auch hier Ausnahmen, doch grundsätzlich kann man Autos mit Windlauf auf die Zeit ab 1909 datieren.

Anfänglich stieg der Windlauf steil von der fast flachen Motorhaube nach oben an, ab 1912 begannen die beiden Linien miteinander zu verschmelzen.

Auf unserem Foto sehen wir ein Zwischenstadium: Die Motorhaube steigt leicht an, stößt dann abrupt auf den Windlauf, der wiederum in etwas steilerem Winkel nach oben reicht. Der Übergang scheint bewusst akzentuiert, auch wenn dies unter dem aerodynamischen Aspekt nicht ideal war.

Doch für Serienautos war die Windschnittigkeit kein relevantes Kriterium, dafür waren die auf den damaligen Straßen erzielbaren Geschwindigkeiten zu niedrig. Zunächst war der Windlauf ein sportlich wirkendes Accessoire – vergleichbar manchem Spoiler an braven Familienautos der 1970/80er Jahre.

Damit hätten wir für unseren Opel als Arbeitshypothese ein Entstehungsdatum um 1911. Lässt sich dies weiter untermauern? Ja, und zwar anhand dieses Ausschnitts:

Opel_Taxi_um_1911_Seitenpartie

So prosaisch dies auch wirken mag – hier können wir der Geburt des „Schwellers“ beiwohnen.

Die waagerecht verlaufende hellgraue Partie mit der vorderen Aufhängung der hinteren Blattfedern ist der Rahmen des Wagens. Das Trittbrett war dort ursprünglich an vertikalen Auslegern befestigt, wie wir hier auch einen sehen – nur, dass man anfänglich zwischen Rahmen und Trittbrett hindurchsehen konnte.

Diesen Zwischenraum kaschiert hier zwar bereits ein Blech. Dennoch sieht man hier noch die Blattfederaufnahme und einen Spalt zwischen dem hinteren Kotflügel und der Rahmen- bzw. Schwellerpartie.

Ab 1913/14 wird der Blick auf die Federaufnahme und die Trittbretthalterung durch das Schwellerblech bzw. eine kastenförmige Ausbuchtung kaschiert. Das gilt näherungsweise auch für andere deutsche Marken.

Im Grunde folgten die frühen Automobile dem Gestaltungsgrundsatz „form follows function“, bevor dieser formuliert wurde.

Nur auf den ersten Blick wirken Veteranenautos fremdartig, bisweilen verspielt. Betrachtet man sie genauer, kann man sie präzise in ihre funktionalen Elemente zerlegen. Das versuche man heute einmal bei einem Renault „Koleos“…

Bevor wir es vergessen: So eindrucksvoll der Opel auf dieser Aufnahme auch wirkt – die dünnen Vorderschutzbleche und der kurze Radstand verweisen auf ein eher kleines Modell wie den Typ 6/16 PS, wie er ab 1911 gebaut wurde.

Die größeren Opel-Modelle wiesen durchweg Radstände von rund 3 Meter und mehr auf. Selbst wenn der Herr, der am Heck steht, nur 1,65m groß gewesen sein sollte, kann der Radstand kaum mehr als 2,80 m betragen haben.

Und da kommen nur sehr wenige Opel-Modelle in Frage, denn vor über 100 Jahren bauten die Rüsselsheimer überwiegend Oberklassefahrzeuge – tempi passati…

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Kaum zu fassen – ein Adler „Kleinauto“ von 1907!

Wirft man einen Blick auf die Schlagwortwolke rechts unten, die die Häufigkeit der bisher auf diesem Oldtimerblog besprochenen Automarken veranschaulicht, springt einem als erster Name „Adler“ entgegen.

Tatsächlich gehören die Wagen des ehemaligen Frankfurter Traditionsherstellers zu den am besten auf diesem Blog dokumentierten.

Das gilt nicht nur für die Großserienmodelle der 1930er Jahre oder die ab den späten 20ern im US-Stil gebauten Typen „Favorit“ und „Standard 6 bzw. 8“. 

In der Adler-Bildergalerie finden sich auch jede Menge Aufnahmen aus der Frühzeit der einst hochbedeutenden Marke.

Die ältesten davon zeigen die ersten Modelle ab 1904, die von Adler selbstentwickelte Motoren besaßen – zuvor verbaute man De Dion-Aggregate.

Diese als Adler „Motorwagen“ bezeichneten Fahrzeuge hatten von ihrem Konstrukteur (einem gewissen Edmund Rumpler…) einige moderne Details verpasst bekommen und wirkten von Anfang auch äußerlich erwachsen:

adler_motorwagen_driburg_um_1907_galerie

Adler „Motorwagen“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese fünf Herren, die sich im Jahr 1907 auf der Fahrt nach Bad Driburg sichtlich stolz mit dem Wagen haben ablichten lassen, hätten gewiss sagen können, um welche Motorisierungsvariante es sich handelte.

Obwohl die Aufnahme erstaunlich frisch wirkt, kommen wir da leider 110 Jahre zu spät. Dass uns keiner der Ausflügler den Gefallen getan hat, auf der Rückseite neben Datum und Ort auch den Wagentyp zu notieren, kaum zu fassen!

Äußerlich sind die frühen Adler-Modelle nämlich kaum auseinanderzuhalten. Nur anhand der Proportionen kann man Vermutungen anstellen, ob man es im vorliegenden Fall mit einem 12-, 16- oder 24 PS-Typ zu tun hat.

Vom Hubraum (zwischen 2,1 und 4,2 Liter) abgesehen, waren die von 1904-07 gebauten Adler „Motorwagen“ auch in technischer Hinsicht weitgehend identisch.

Doch beinahe zeitgleich begann Adler mit einer zweiten Modellreihe, die eine bis in 1920 reichende Kleinwagen-Tradition begründen sollte, von der auch mancher heutige Adler-Freund kaum etwas weiß – wenn überhaupt.

So wurde das erste Adler „Kleinauto“ einst angepriesen:

Adler-Reklame_4-8_PS_Kleinauto_1906_Ausschnitt

Adler-Reklame von 1906; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Entwickelt wurde dieses nur 1906/07 gebaute 4/8 PS-Modell nicht von Edmund Rumpler, sondern von Otto Göckeritz, der damit die Tradition einer separaten Konstruktionsabteilung für Kleinwagen bei Adler begründete.

Gegenüber den modernen Entwicklungen von Edmund Rumpler war das Adler 4/8 PS-Kleinauto mit seinem V2-Motor und Saugventilen zunächst primitiv – kaum zu fassen bei einem sonst so progressiven Hersteller.

Doch schon ab 1907 wurde es mit einem 2-Zylinder-Reihenblockmotor ausgestattet, der dann 9 PS aus 1,1 Liter Hubraum leistete.

Nicht nur die obige Werbung verrät, dass dieser 4/8 PS bzw. 5/9 PS-Adler auch als Viersitzer angeboten wurde. Neben drei Prospektabbildungen enthält die einschlägige Literatur immerhin ein (!) entsprechendes Foto dieser Ausführung.

Da das auf die Dauer etwas dürftig ist, bringen wir hier ein weiteres, das bislang nirgends publiziert worden ist:

Adler_Kleinauto_4-8_oder_5-9_PS_um_1907_Galerie

Adler „Kleinauto“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wer etwas an der Qualität der Aufnahme etwas auszusetzen hat, kennt den Originalabzug nicht. Die obige Abbildung ist jedenfalls Ergebnis langwieriger Retuschen und Korrekturen.

Dass wir hier sehr wahrscheinlich ein Adler 5/9 PS „Kleinauto“ vor uns haben, lassen bereits die Größenverhältnisse vermuten. Der Fahrer ragt weit über die Windschutzscheibe hinaus und die Motorhaube wirkt auffallend niedrig.

Für einen Adler spricht neben der allgemeinen Gestaltung der Frontpartie die schemenhaft zu erkennende Kühlerfigur:

Adler_Kleinauto_4-8_oder_5-9_PS_um_1907_Ausschnitt

Der übrige Karosserieaufbau ist nicht sonderlich Adler-spezifisch, passt aber sehr gut zu den wenigen Abbildungen des Adler „Kleinautos“ in der Literatur.

Ein schönes Detail auf dieser Aufnahme ist der Schutzüberzug über dem Reserverad. Der aufmerksame Betrachter wird außerdem einen runden Gegenstand unter der Vorderachse des Wagens bemerken.

Der Verfasser war sich nicht sicher, ob es sich bloß um einen Fehler auf dem Positiv handelt oder ob dort tatsächlich ein kleiner Ball lag. Daher wurde dieser Bereich bei der Retusche ausgespart.

Wer sich an das Ausgangsfoto dieses Wagens erinnert, dürfte es ebenfalls für möglich halten, dass hier ein Ball unter dem Adler liegt.

Denn ganz in der Nähe waren Kinder am Spielen, die sich für diese Aufnahme ebenfalls in Positur gebracht haben – die meisten jedenfalls:

Adler_Kleinauto_4-8_oder_5-9_PS_um_1907_Ausschnitt3

Nur der kleine Bursche rechts scheint sich nicht für die Kamera zu interessieren.

Er hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen: „Nicht zu fassen, mein Ball! Die doofe Schwester hat mir verboten, ihn unter dem Auto hervorzuholen…“

Wie die Sache ausgegangen ist, wissen wir nicht. Doch dass es Adler mit diesem „Kleinauto“ einst gelang, sich auch in der Einsteigerklasse einen Namen zu machen, das ist bekannt.

Kaum zu fassen, dass wir hier wirklich eine rare Aufnahme aus der Kinderstube der Adler-Kleinwagen-Baureihe präsentieren können…

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„Downsizing“ im Jahr 1914: Audi Typ G 8/22 PS

Bei der Beschäftigung mit der Frühzeit des Automobils stößt man immer wieder auf Phänomene, die heutzutage von Werbeleuten – korrigiere: Marketing-Professionals – als großer Geistesblitz verkauft werden.

So standen der aktuell vielgerühmten „E-Mobility“ vor über 100 Jahren in den USA jede Menge Elektroautos gegenüber, die den damaligen Bedürfnissen perfekt entsprachen.

Die bis heute ungelösten Probleme wie hohes Gewicht, exorbitante Kosten, lange Ladedauer, geringe Energiedichte und Reichweite sowie abnehmende Batteriekapazität spielten damals keine Rolle.

Ein Automobil war ohnehin ein Luxusgegenstand. Überhaupt autonom unterwegs sein zu können, war ein Privileg und gegenüber den frühen Benzinkutschen waren Elektroautos ausgereift und einfach zu bedienen – wie gesagt, vor über 100 Jahren.

Ein anderes Schlagwort ist das „Downsizing“ – im Prinzip der Versuch, Bauteile oder ganze Aggregate ohne nennenswerte Nutzeneinbußen zu verkleinern und damit wirtschaftlicher zu machen.

In die Hose geht das Ganze, wenn man über Jahrzehnte errungene Standards wie großzügige Kofferräume, reichlich Beinfreiheit und gute Übersichtlichkeit für gestalterische Exzesse opfert, wie das in der Gegenwart der Fall ist.

Kein Wunder, dass so viele Leute im Alltag Wagen der 1980/90er Jahre nutzen, die moderne Fahrwerke, Sicherheit und viel Platz bieten…

In der Frühzeit des Automobils bedeutete „Downsizing“ dagegen, dass man versuchte, Standards der Oberklasse in kleinerem Format zu verwirklichen. Das galt für Proportionen, Verarbeitung und Leistungsfähigkeit.

Mitunter waren die Wagen, die dabei herauskamen, in mancher Hinsicht besser als das auf den ersten Blick höherwertige und teurere Vorbild. Ein Beispiel dafür sehen wir auf folgender historischen Aufnahme:

Audi_Typ_G_8-22_PS_um_1920_1_Ausschnitt

Audi Typ G 8/22 PS; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Auch wenn die genaue Identifikation kühn erscheint, lässt sich dieser Tourenwagen als Audi des Typs G 8/22 PS ansprechen. Den Beweis führen wir noch anhand einer zweiten Aufnahme desselben Wagens, also etwas Geduld.

Nach der Gründung durch August Horch im Jahr 1910 brachte Audi eine Reihe konstruktiv und äußerlich ähnliche Modelle auf den Markt, die sich durch stetig wachsende Leistung auszeichneten.

Auf den Erstling, den Audi A mit 22 PS, folgten die Typen B (28 PS), C (35 PS), D (45 PS) und E (55 PS). Damit ging ein Hubraumwachstum auf zuletzt 5,7 Liter einher, bei gleichbleibender Zylinderzahl (4) und im Prinzip unveränderter Bauweise.

Doch 1914 entschied man sich zu einem radikalen Schritt: Auf einem technisch weitgehend identischen, aber verkleinerten und leichteren Fahrgestell montierte man einen neukonstruierten Motor mit einem Hubraum von nur 2,1 Liter.

Dieses Aggregat sollte bis in die frühen 1920er Jahre der modernste Antrieb bleiben, den Audi im Angebot hatte. Hier wurden erstmals alle vier Zylinder in einem glattflächigen Block zusammengefasst.

Den 1. Weltkrieg über und bis 1926 baute Audi über 1.000 Wagen des G-Typs. Nur ein einziger davon soll noch existieren, so das Standardwerk „Audi Automobile 1909-1940“ von Peter Kirchberg und Ralf Hornung.

Umso wertvoller erscheint da jedes Originalfoto dieses Typs. Damit wären wir bei Aufnahme Nr. 2 des hier vorgestellten Wagens:

Audi_Typ_G_8-22_PS_um_1920_2_Galerie

Auf diesem Foto finden sich die Details, die eine präzise Identifikation des Wagentyps erlauben.

Dass wir es mit einem Audi aus der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg zu tun haben, verrät der eigenwillige Spitzkühler mit dem leicht nach unten geneigten ovalen „Audi“-Emblem an der Front der Kühlermaske.

Damit kommen freilich alle Vorkriegstypen in Frage, die Audi ab 1919 weiterbaute. Leider hilft uns das Audi-Standardwerk von Kirchberg/Hornung in diesem Fall nicht weiter.

Doch vor einigen Tagen kam mit der Post ein Buch, an dessen Entstehung beinahe 40 Jahre zuvor ebenfalls Peter Kirchberg beteiligt war.

Er verfasste 1975 in der damaligen „DDR“ zusammen mit Paul Gränz ein bis heute unerreichtes Werk über die einstigen Automarken auf ostdeutschem Boden: „Ahnen unserer Autos“.

Darin findet sich auf Seite 42 der 2. Ausgabe von 1981 eine Abbildung des Fahrgestells des Audi Typ G 8/22 PS mit Kühler und Motor. In allen Details stimmt diese Aufnahme mit der Ausschnittsvergrößerung auf unserem Foto überein:

Audi_Typ_G_8-22_PS_um_1920_2_Ausschnitt

Wir sehen hier denselben glattflächigen Motorblock mit den waagerechten Kühlrippen, wie ihn in den ersten Jahren nach dem 1. Weltkrieg nur der kompakte Audi Typ G 8/22 PS besaß.

Auch die markante Formgebung des Kühlwassergehäuses, in der sich die äußere Kühlerform spiegelt, sowie der steil nach unten reichende Schlauch bzw. Flansch am Motor stimmen präzise überein.

Erst 1921 sollte Audi mit dem Typ K einen moderneren Wagen vorstellen, ohne annähernd ähnliche Stückzahlen zu erreichen. Nur die Audi-Frontantriebsmodelle der 1930er Jahre hatten vergleichbaren Erfolg.

Tatsächlich gehören die Vorkriegs-Audis zu den seltensten deutschen Automobilen jener Zeit – man findet in der heutigen Klassikerszene eher einen Horch als einen der konkurrierenden Wagen aus Zwickau (!). Ja, wer bei Audi spontan an Ingolstadt denkt, muss leider nachsitzen…

Solche Aha-Effekte sind beinahe an der Tagesordnung, wenn man sich einmal auf die Welt der Vorkriegsautos einlässt. Dort gab es einst eine Vielfalt, von der wir heute entgegen der offiziellen Propaganda nur träumen können.

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Blick in die „Fertigmacherei“: Protos Typ G

Der Reiz historischer Originalfotos von Veteranenautos liegt in den oft reizvollen Situationen, in denen die Wagen einst aufgenommen wurden.

Da gibt es Bilder im Familienkreis, im Stadtbild, auf Reisen oder im Krieg – und fast immer ist das Umfeld ein ebenso intensives Studium wert wie die abgelichteten Wagen.

Heute haben wir es mit einer außergewöhnlichen, weil nur selten aufgenommenen Situation zu tun – einem Blick in die sogenannte „Fertigmacherei“ bei Protos aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg:

Protos_G2_8-22_PS-Werkstatt_um_1912_Galerie

Protos G-Typ; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

An ein solches technisch exzellentes und äußerst rares Foto zu gelangen, ist reine Glückssache. Dieses fand sich für einen fairen Preis beim Antiquitätenhändler Kottmeier in Trier, den man bei dieser Gelegenheit ruhig nennen darf.

Gerne wüsste man, auf welchen verschlungenen Pfaden dieser großformatige Abzug einst vom Aufnahmeort Berlin in die alte Römerstadt an der Mosel gelangt ist.

Zur Erinnerung: Die in der Reichshauptstadt angesiedelte Motorenfabrik Protos war einer der frühesten Automobilhersteller auf deutschem Boden. Schon 1900 baute man dort die ersten Wagen, wenn auch zunächst nur wenig erfolgreich.

Den Durchbruch, wenn der Begriff bei einem solchen Nischenhersteller erlaubt ist, brachte erst die Übernahme der Firma durch Siemens & Schuckert im Jahr 1908.

Dort hatte man bereits seit einiger Zeit selbst mit Automobilen experimentiert. Unter der Leitung von Ernst Valentin wurden nach dem Kauf von Protos neue Modelle entwickelt, die erstmals in größeren Stückzahlen abgesetzt wurden.

Hier sehen wir gleich fünf Exemplare des neuen Protos vom Typ G:

Protos_G2_8-22_PS-Werkstatt_um_1912_Ausschnitt

Diese leichten Vierzylinderwagen mit den Motorisierungen 6/18 PS (Typ G1) und 8/21 PS (G2) waren die ersten, die den typischen hufeisenförmigen Kühlergrill mit dem schwungvollen „V“ im oberen Teil trugen.

Die Hubräume von 1,6 bzw. 2,1 Liter waren für damalige Verhältnisse recht klein. Zuvor hatte Protos großvolumige Vierzylinder mit rund 40 PS angeboten, parallel zu den G-Typen gab es zudem gewaltige Sechszylinder, die über 50 PS leisteten.

Dass wir es auf unserer Aufnahme mit den kompakten G-Modellen zu tun haben, lässt sich aus Vergleichsfotos in der (äußerst spärlichen) Literatur schließen.

Typisch ist demnach die waagerecht verlaufende Haube mit den jeweils drei Luftschlitzen links und rechts des aufgesetzten Griffs:

Protos_G2_8-22_PS-Werkstatt_um_1912_Ausschnitt1

Es dürfte nur ganz wenige Aufnahmen geben, die einen Protos G-Typ in dieser Detailgenauigkeit zeigen. Hier kann man buchstäblich jeden Niet und die Lagen der Blattfedern zählen.

Noch nicht montiert sind die gasbetriebenen Frontscheinwerfer, nur die Positionslichter im Windlauf vor der Scheibe waren elektrisch. Außerdem fehlen an allen Wagen die Reifen.

Eine ganz ähnliche Situation findet sich auf einem Foto in Ulrich Kubischs Buch „Automobile aus Berlin“, das die „Fertigmachererei“ bei Protos zeigt – die Abteilung, in der die Endmontage der Wagen stattfand.

Hier haben wir einen der stolzen Arbeiter, die einst letzte Hand an die Protos-Wagen legten:

Protos_G2_8-22_PS-Werkstatt_um_1912_Ausschnitt2

Der Holzhammer in seiner Hand mag dazu gedient haben, noch etwas zu richten.

Selbstbewusst und mit sich im Reinen schaut der junge Mann in die Kamera, mit der vor über 100 Jahren in der Manufaktur von Protos die Endarbeiten an den Wagen dokumentiert wurde.

Dem Können namenloser Männer wie ihm – ebenso wie dem Erfindungsgeist der damaligen Ingenieure und dem unternehmerischen Mut der Kapitalgeber – verdanken wir unsere heutige, in der Geschichte einzigartige Mobilität…

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Nicht nur der Doktor fährt Opel: Typ 6/12 PS von 1909

Für die Liebhaber richtig früher Automobile sind die meisten Vorkriegswagen, die auf diesem Oldtimerblog anhand historischer Fotos gezeigt werden, „Youngtimer“.

Für die gusseiserne Veteranenfraktion zählt nur, was vor dem 1. Weltkrieg an Motorfahrzeugen gebaut wurde, oder noch besser: alles, was bis etwa 1910 entstand.

Ab dann unterschied sich das Automobil formal deutlich von einer Kutsche mit davorgesetztem Antrieb: Frontpartie und Aufbau begannen um diese Zeit zu einem harmonischen Ganzen zu verschmelzen.

Fahrzeuge aus der automobilen Frühzeit, in der noch vieles offen war, konnten wir hier bisher nur wenige zeigen. Originalfotos solcher Wagen sind heute kaum häufiger als die Autos selbst.

Zuletzt haben wir hier gleich zwei Fahrzeuge der Pionierära vorgestellt, die um 1903 entstanden, Wagen des französischen Herstellers Gladiator.

Nicht ganz so weit in die Vergangenheit tauchen wir heute ein – auch die Marke, um die es geht, ist vertrauter: Opel. Heute steht der Name nicht gerade für automobile Exzellenz – vor dem 1. Weltkrieg sah das ganz anders aus.

Um die Jahrhundertwende hatten die französischen Autobauer die Führung inne, auch Opel stützte sich anfangs auf Patente aus Frankreich (Darracq).

Opel_Darracq

Originalreklame für Opel-Darracq um 1902 aus Sammlung Michael Schlenger

Doch ab 1905/06 gewannen die Opel-Wagen rasch an Eigenständigkeit, Qualität und Renommee.

Zu diesem Zeitpunkt war das Automobil kein Spielzeug der oberen zehntausend mehr, sondern stiftete zunehmend Nutzen im Alltag. Ein Beispiel dafür war der Doktorwagen, ein Zweisitzer für Landärzte mit leichtem Verdeck.

Damit war man im Notfall die entscheidende halbe Stunde schneller beim Patienten als mit der Kutsche. Fahrer und Pferde mussten nicht eigens bereitgehalten werden.

Bei den Classic Days auf Schloss Dyck am Niederrhein war 2016 ein solcher Doktorwagen in Form des Opel Typ 4/8 PS von 1908 zu bewundern:

Nur ein Jahr, nachdem dieser prächtige Veteran entstand, ging für kurze Zeit ein neuer Opel-Typ in Produktion, der eine neue Käuferschicht erschließen sollte.

Die Rede ist vom nur 1909 hergestellten Typ 6/12 PS, der der erste „volkstümliche“ Opel werden sollte. Er verfügte über vier Sitze, musste aber mit einem 2-Zylinder-Motor auskommen – ein damals schon veraltetes Konzept.

Natürlich war selbst so ein Kleinwagen für die meisten Deutschen unerschwinglich – wer sich ein Opel-Fahrrad leisten konnte, gehörte bereits zur Mittelschicht.

So ist es kein Zufall, dass der Opel 6/12 PS auf folgendem Foto vor einem großbürgerlichen Haus abgelichtet wurde.

Opel_6-12_PS_Doppel-Phaeton_Ak_von_1910_Galerie

Opel 6/12 PS Doppel-Phaeton; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Wie am Stempelabdruck oben links erkennbar, ging diese seltene Aufnahme einst als Postkarte auf die Reise, und zwar im Jahr 1910.

Der Opel auf dem Foto – man konnte damals die Abzüge gleich im Postkartenformat ordern – war zum Aufnahmezeitpunkt noch fast neu und bestimmt einer der ersten Wagen in der Gegend.

Im Vergleich zu den großzügigen Opel-Tourenwagen jener Zeit, die 40 bis 60 PS stark waren, wirkt das 6/12 PS-Modell, als sei es in der Wäsche eingegangen. Die Insassen hätten jedenfalls etwas mehr Platz vertragen können:

Opel_6-12_PS_Doppel-Phaeton_Ak_von_1910_AusschnittDem finanziellen Status gemäß waren die Herrschaften im Opel deutlich „besser genährt“ als das Personal im Hintergrund, das wohl zum Hausstand gehörte.

Die schlecht gelaunt schauende Dame auf dem Rücksitz ist ein Beispiel für die oft ins Absurde abdriftende Hutmode der Kaiserzeit – aber im Unterschied zu den heute üblichen Tätowierungen ließ sich das Ungetüm auf dem Kopf immerhin abnehmen…

Die beiden Herren vermitteln eine Vorstellung davon, welche Kopfbedeckungen sich auch heute in einem solchen Veteranenwagen gut machen.

Wer sich für solche Details interessiert, wird übrigens feststellen, dass an dem Opel bei einer Reifenpanne nicht einfach die Felge mit Reifen ausgewechselt werden konnte. Da musste noch der Reifen selbst getauscht werden, eine Heidenarbeit.

Doch gleichzeitig weist etwas anderes in die Zukunft: die Windschutzscheibe ließ sich bereits schrägstellen, sodass sie weniger Luftwiderstand bot und den Straßenstaub besser über die Insassen hinwegleitete.

Als diese Aufnahme entstand – wie gesagt 1910 – baute Opel die ersten Wagen, bei denen die Motorhaube leicht anstieg und die Verbindung mit der Scheibenpartie über einen strömungsgünstigen Windlauf hergestellt wurde.

Ab diesem Moment sah das Automobil nicht länger aus wie eine Kutsche ohne Pferde, sondern wurde zu etwas formal Eigenständigem, das bis heute fortwirkt.

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Alter Bekannter, neue Perspektive: Benz 8/20 PS

Befasst man sich mit der Frühzeit des Automobils im deutschsprachigen Raum anhand historischer Originalfotos, begegnen einem zwei Marken besonders häufig: Adler und Benz.

Auf diese Hersteller entfallen in der Sammlung des Verfassers die meisten Autoaufnahmen aus der Zeit bis zum 1. Weltkrieg. Andere bedeutende Marken jener Zeit wie Daimler, Opel, NAG und Stoewer sind weniger zahlreich vertreten.

Trotz ihrer einstigen Verbreitung und der recht guten Dokumentation in der Literatur sind auch bei Benz-Automobilen noch Überraschungen möglich.

Das gilt sogar für das Volumenmodell der Mannheimer – den ab 1911 gebauten Typ 8/20 PS, der gewissermaßen der Baby-Benz jener Zeit war.

Ein ausführliches Porträt dieses Erfolgsautos gab es auf diesem Blog vor einiger Zeit hier. Daher soll es heute nicht um Vorgeschichte und Technik des Wagens gehen, sondern um eine außergewöhnliche historische Aufnahme:

Benz_8-20_PS_1912-14_Nachkrieg_Galerie

Benz 8/20 PS; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Auch wenn wir es nur mit einem Standardaufbau als Tourenwagen zu tun haben, ist das dennoch eine beachtliche Aufnahme. Einen historischen Abzug dieser Güte nach fast 100 Jahren zu bekommen, das gelingt nicht alle Tage.

Hier wurde der Benz aus dem für uns Nachfahren idealen Winkel aufgenommen. Viele frühe Automobilaufnahmen – auch in Prospekten – zeigen die Wagen dagegen schlicht von der Seite.

Das spiegelte die damalige Interessenlage von Kunden und Besitzern wider – ein großzügiger Aufbau war wichtiger als die meist funktionell gehaltene Kühlerpartie.

Die Fixierung auf den Antrieb und damit die Fahrzeugfront kam erst später auf. Die frühen Autokäufer waren noch mit der Kutsche großgeworden, deren Sahneseite nun mal die Flanke war – das Aussehen der Pferde davor war unwesentlich.

Der moderne, dynamische Stil unseres Fotos ist kein Zufall. Dieser Schnappschuss ist deutlich nach dem 1. Weltkrieg entstanden, als der Benz schon etliche Jahre – wohl keine einfachen – auf dem Buckel hatte:

Benz_8-20_PS_1912-14_Nachkrieg_Frontpartie

Nur selten kann man die Details der Kühlerpartie eines frühen Benz 8/20 PS so studieren wie hier, beispielsweise die fast nie zu sehende seitliche Halterung des Kühlwassergehäuses.

Sehr gut ist hier auch das „Benz“-Emblem zu erkennen. Das großflächige Blech, auf dem es sitzt, ist typisch für den Benz 8/20 PS in der Vorkriegsausführung. Bei den stärker motorisierten Modellen jener Zeit nahm der Kühlergrill mehr Platz ein.

Die recht kurze Haube spricht ebenfalls für das damals kleinste Benz-Modell. Die elektrischen Frontscheinwerfer sind wahrscheinlich erst in der Nachkriegszeit montiert worden.

Den deutlichsten Hinweis auf die Entstehung der Aufnahme geben die Passagiere:

Benz_8-20_PS_1912-14_Nachkrieg_Insassen

Der Stil der Kleidung spricht stark dafür, dass dieses Foto erst in den fortgeschrittenen 1920er Jahren gemacht wurde. Der Benz war zum Aufnahmezeitpunkt demnach schon rund 10 Jahre alt.

Da die Autoentwicklung bei den meisten deutschen Herstellern in den ersten Jahren nach dem 1. Weltkrieg weitgehend stagnierte, war dieser alte Benz nicht nur ein treuer Gefährte, sondern hatte nach wie vor einigen Prestigewert.

Obiger Ausschnitt lässt übrigens erahnen, wie großzügig dimensioniert selbst dieser „Baby-Benz“ war. Damit musste man sich in der Nachbarschaft nicht verstecken, oder doch?

Immerhin verweist das Kennzeichen mit dem Kürzel „III A“ auf eine Zulassung im Raum Stuttgart. Dort schätzte man aber eher die Produkte der Daimler-Motoren-Gesellschaft, die seit 1905 ihr Werk im Stadtteil Untertürkheim hatte.

Den einstigen Besitzern dürfte die Meinung der Nachbarn gleichgültig gewesen sein.

Das sorgfältig komponierte Foto verrät, wie stolz man auf den Wagen war. Tatsächlich scheint er hier im Mittelpunkt gestanden zu haben, nicht die Umstehenden und Insassen, die teilweise anderweitig beschäftigt sind.

Der Fotograf wird doch nicht ein früher Veteranenfreund gewesen sein? Jedenfalls hatte er dem alten Benz eine gelungene neue Perspektive abgewonnen.

Leider waren für die Firma selbst die Aussichten weniger gut. 1925 musste Benz sich mit dem ebenfalls notleidenden Rivalen aus Stuttgart zusammenschließen.

Das war die Geburtsstunde von Mercedes-Benz, aber das Ende der vor dem 1. Weltkrieg mit Abstand vor Daimler führenden deutschen Automobilmarke…

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Veteranentreffen der Nachkriegszeit: Presto 8/22 PS

Dieser Oldtimerblog ist den Vorkriegsautomobilen gewidmet – dabei gilt den vernachlässigten deutschen Marken der zweiten Reihe besondere Aufmerksamkeit.

Doch werden hier auch gern Ausflüge in die Nachkriegszeit unternommen, nämlich dann, wenn sich Originalfotos überlebender Veteranen finden.

Heute haben wir wieder so einen Fall – mit dem besonderen Charme, dass wir in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurückreisen, als es irgendwo in Bayern zu diesem reizvollen Veteranentreffen kam:

Presto_8-22_und_8-25_PS_Benz_und_unbek_Galerie

Vorkriegs-Tourenwagen um 1920; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Wann und wo genau diese außergewöhnliche Aufnahme entstand, wissen wir nicht. Die Kennzeichen mit den Kürzeln „II A“ für München, „II B“ für Oberbayern und „II C“ für Niederbayern erlauben aber zumindest eine regionale Eingrenzung.

Bei allen vier Wagen handelt es sich um Typen, die kurz vor dem 1. Weltkrieg auf den Markt kamen. Sie alle tragen noch gasbetriebene Hauptscheinwerfer.

Mindestens einer davon wurde aber auch nach dem Krieg gebaut und dieses Modell haben wir vor einiger Zeit bereits anhand eines anderen Fotos vorgestellt. Auf folgendem Bildausschnitt sehen wir ihn rechts stehen:

Presto_8-22_und 8-25_PS_Vor- und_Nachkrieg_Galerie

Auch ohne Vergrößerung lässt sich der Name des Herstellers auf der Kühlermaske lesen: „Presto„, die für ihre Fahr- und Motorräder bekannte Marke aus Chemnitz.

Der Wagentyp ist anhand der typischen Kühlerform als Typ P 8 8/25 PS zu identifizieren. Das größere Modell P 10 10/35 PS unterscheidet sich in formalen Details wie etwa der Form der Vorderschutzbleche.

Da wir den Presto P8 8/25 PS bereits anhand eines schönen Fotos der Nachkriegszeit (Bildbericht) besprochen haben, wenden wir uns nun seinem Nachbarn zu.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es sich um ein Fahrzeug eines anderen Herstellers handelt. Das ist aber nicht der Fall. Tatsächlich haben wir es hier mit dem direkten Vorgänger zu tun, dem Presto Typ 8/22 PS:

Presto_8-22_PS_1910-12

Bei gleichen Proportionen und ähnlicher Formgebung unterscheidet sich dieses Auto vor allem in der Kühlerpartie vom Nachfolger.

Hier wurde noch das alte Markenemblem montiert, auf dem oben „Prestowerke AG“ und unten „Chemnitz i. Sa.“ steht. Des weiteren ist der Ausschnitt des Kühlers oben waagerecht und nicht bogenförmig wie beim Presto P8 8/25 PS.

Die Schutzbleche sind einfacher gehalten und weisen eine der Stabilisierung dienende Sicke auf. Auf eine frühe Entstehung verweist zudem der noch nicht so harmonisch die Motorhaube fortsetzende Windlauf vor der Frontscheibe.

Dieses Fahrzeug war der erste serienmäßig gebaute Presto-Wagen überhaupt, der von 1910 bis 1912 in kleinen Stückzahlen auf den Markt kam.

Er verfügte über einen 2,3 Liter großen Vierzylinder-Motor, dessen Nockenwelle über Stirnräder angetrieben wurde. Eine Besonderheit war die äußere Lagerung der Kurbelwelle in Kugellagern.

Interessanterweise wird in der äußerst spärlichen Literatur zu Presto für das Modell 8/22 PS eine Höchstleistung von 28 PS angegeben.

Entweder hat hier Halwart Schrader in seinem Standardwerk „Deutsche Autos 1885-1920“ einen Fehler von Altmeister Hans-Heinrich von Fersen („Autos in Deutschland 1885-1920“) übernommen, oder es gibt eine andere Erklärung.

Der als Nachfolger von 1913-1919 gebaute Presto P8 8/25 PS besaß jedenfalls einen kleineren Motor (2,1 Liter Hubraum), der sich auch konstruktiv unterschied. So wurde die Nockenwelle nunmehr über eine Kette angetrieben und die Kurbelwelle komplett in Gleitlagern geführt.

Das Vorgängermodell neben dem Nachfolger zu sehen, das allein ist schon ein Glücksfall. Es kommt aber noch besser: Ein Originalfoto dieses Typs ist dem Verfasser bislang noch nirgends begegnet.

Tatsächlich können wir nur anhand des stilistischen Vergleichs und weniger Informationen aus der Literatur auf das Modell schließen. Möglicherweise ist dies das erste in der jüngeren Zeit publizierte Bild eines Presto 8/22 PS überhaupt. 

Kenner der einstigen Chemnitzer Marke sind daher aufgerufen, mögliche ergänzende oder auch korrigierende Informationen beizutragen.

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Ein Adler Tourenwagen mit Reifen von Peter’s Union

Wenn man der Statistik dieses Oldtimerblogs trauen darf, schätzen Adler-Freunde im In- und Ausland die Fotogalerie mit historischen Originalfotos von Wagen der einst so angesehenen Frankfurter Marke besonders.

Bei der Gelegenheit darf ganz unbescheiden festgestellt werden, dass es nach Kenntnis des Verfassers im Netz keine vergleichbare chronologische Sammlung originaler Adler-Autofotos gibt.

Vielleicht schafft es der sonst so rührige Adler Motor Veteranen Club irgendwann einmal, für Adler-Interessenten eine mit aussagefähigen Bildern versehene lückenlose Typenhistorie aufzubauen – Material muss ja vorhanden sein.

Bis dahin betrachten wir das Defizit als Aufforderung, selbst dazu beizutragen, Lücken in der Dokumentation früher Adler-Automobile zu schließen. Und das tun wir mit folgender Aufnahme:

Adler_Doppel-Phaeton_4-Zylinder_vor_WK1_Galerie

Adler Doppel-Phaeton; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das ist ein Wagen nach dem Geschmack der Freunde richtig alter deutscher Autos. Denn hier haben wir es mit einem Typ aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg zu tun.

Aufgenommen wurde das Bild wohl Anfang der 1920er Jahre, dafür spricht jedenfalls das Erscheinungsbild der vier jungen Männer in dem Auto.

Hat man sich die insgesamt nicht vielen, aber zumindest halbwegs aussagefähigen Abbildungen früher Adler-Wagen in der Literatur schon öfters zu Gemüte geführt, so ist die Ansprache der Marke ein Kinderspiel.

Versetzen wir aber uns in die Lage eines Adler-Novizen, wie der Verfasser vor kurzem auch noch einer war, und tasten wir uns schrittweise heran:

Adler_Doppel-Phaeton_4-Zylinder_vor_WK1_Ausschnitt1

Der auf den ersten Blick rechteckige Kühler weist bei genauem Hinsehen überall geschwungene Linien auf. Aus dem spitzen Winkel auf der Aufnahme sieht man gut, wie die obere Einfassung des Kühlernetzes leicht nach unten durchhängt.

Auch der obere Abschluss der Kühlermaske ist weich und lebendig geformt, so etwas fiel nicht aus einer Stanze, sondern wurde von kundiger Hand gefertigt.

Aus der nach vorn abfallenden Oberseite ragt der Kühlwasserstutzen empor, der einen Adler mit ausgebreiteten Schwingen trägt.

Zu einem Adler aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg passen die zylinderförmigen Nabenkappen mit sechs Befestigungsmuttern und das aus einem gedoppelten Blech aufgebaute Vorderschutzblech, das hinter dem Rad nach unten abknickt.

Für sich genommen wäre keines der Elemente ein ausreichendes Indiz, doch in der Summe ergibt sich so das stimmige Bild eines Adler der Baujahre 1912-14.

Ein identisches Fahrzeug ist auf Seite 26 des Standardwerks „Adler Automobile“ von Werner Oswald abgebildet. Dort ist das Auto als Typ 12/30 PS bezeichnet.

Denkbar sind auch stärkere Motorisierungen, die zeitgleich verfügbar waren, beispielsweise das 15/40 PS-Modell. Äußerlich unterschieden sich diese Mittelklassetypen allenfalls durch den Radstand.

Gemeinsam waren ihnen Vierzylindermotoren mit seitlich angebrachten Ventilen, die direkt von der Nockenwelle gesteuert wurden – was zwar präzise war, aber einen strömungsungünstigen Einlasstrakt mit sich brachte.

Die Höchstleistung war eine Funktion des Hubraums, der bei den größeren Adler-Modellen vor dem 1. Weltkrieg von gut 3 bis über 9 Liter reichte.  Ansonsten gab es ein 4-Gang-Getriebe, auf das auch die Außenbackenbremse wirkte.

Nach dem 1. Weltkrieg baute Adler erst einmal die alten Modelle weiter, jedoch mit dem noch 1914 eingeführten modischen Spitzkühler. Daher können wir hier sicher sein, dass wir es mit einem Vorkriegsmodell zu tun haben.

Doch die lässige Attitüde, mit der der junge Mann neben dem Chauffeur seine Zigarette im Mund hält, verweist auf die Nachkriegszeit. Wer vier Jahre Materialkrieg überstanden hatte, gab auf die alten Umgangsformen nichts mehr.

Adler_Doppel-Phaeton_4-Zylinder_vor_WK1_Ausschnitt2

Uns interessiert aber an dieser Stelle etwas anderes: der Kunstlederüberzug des Reserverrads mit der Aufschrift „Peters Union“. Wenn jemand da mit den Achseln zuckt – das ist keine Bildungslücke.

Die Firma Peters ist eine längst vergessene Reifenfabrik aus Frankfurt/Main, die sich selbst als „Älteste Pneumatikfabrik Deutschlands“ bezeichnete. Vollständig lautete der Firmenname „Mitteldeutsche Gummiwarenfabrik Louis Peter„.

Der Gründer des Unternehmens hieß Friedrich Ludwig Peter und stammte aus Nordhessen. Seine Reifenfirma gehörte eine Weile zu den führenden deutschen Herstellern, wurde aber Ende der 1920er Jahre von Continental geschluckt.

Übrigens fertigt Continental noch heute im alten Korbacher Werk der Peters Union AG Autoreifen – ein schönes Beispiel für industrielle Kontinuität.

Der Vollständigkeit halber ein abschließender Blick auf die Heckpartie unseres sechssitzigen Adler-Tourenwagens:

Adler_Doppel-Phaeton_4-Zylinder_vor_WK1_Ausschnitt3

Nur selten kann man die Details der Hinterachspartie eines über 100 Jahre alten Wagens so gut erkennen wie hier: Adler-typisch sind in jener Zeit die zwölf Befestigungsbolzen des Hinterrads und dessen recht kleine Nabenkappe.

Ungewöhnlich klar ist die hintere Blattfederaufnahme wiedergegeben, die bei Nachkriegsmodellen von einem Blechgehäuse verdeckt wurde. Typisch für die Zeit vor dem 1. Weltkrieg ist zudem der flotte Schwung des Schutzblechs nach hinten.

Eine derartig detailreiche Aufnahme eines frühen Adler-Modells ist bereits eine Rarität. Ob es überhaupt ein überlebendes Fahrzeug dieses Typs gibt, ist zweifhaft.

Doch in der Hinsicht ist alles möglich – Adler-Automobile wurden einst weltweit verkauft – vielleicht schlummert noch irgendwo eines…

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1915 im Westen nichts Neues: Mercedes 28/60 PS

Beschäftigt man sich mit Vorkriegsautos anhand historischer Originalaufnahmen, wie das dieser Oldtimerblog tut, kommt man am Einsatz von Automobilen im Krieg nicht vorbei.

Fotos eingezogener oder erbeuteter PKW aus dem 2. Weltkrieg gibt es massenhaft, daneben gab es in großer Zahl für das Militär gefertigte Kübelwagen auf Basis ziviler Modelle.

Weniger bekannt ist, dass Autos bereits im 1. Weltkrieg eingesetzt wurden. Sie dienten als Stabswagen für Offizier, wurden aber auch für Aufklärungszwecke und als Kurierfahrzeuge genutzt.

Fotos vom Einsatz solcher Autos im 1. Weltkrieg sind vergleichsweise selten. Das lag nicht nur an ihrer geringeren Verbreitung, sondern auch daran, dass Fotoapparate noch nicht für jedermann erschwinglich waren.

Während wir aus dem 2. Weltkrieg reichlich Aufnahmen von PKW haben, die das Kriegsgeschehen zumindest ansatzweise erkennen lassen, wirken Aufnahmen von Automobilen aus dem 1. Weltkrieg meist friedlich.

Hier haben wir ein Beispiel dafür:

Mercedes_28-60_PS_06-1915_Galerie

Mercedes 28/60 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Man mag beanstanden, dass diese Aufnahme etwas unscharf ist – doch wir Freunde richtig alter Autos freuen uns über das prächtige Gefährt, das jemand im Juni 1915 mitsamt Fahrer abgelichtet hat.

Der Aufnahmeort ist unbekannt, doch neben dem Datum hat jemand vor über 100 Jahren auf dem Abzug vermerkt: „Ich in meinem Mercedes 60 PS“.

Perfekt – das ist einer der seltenen Fälle, wo man die genaue Motorisierung eines Wagens aus der Frühzeit der Mobilität mitgeliefert bekommt. Oft waren sich nämlich die einzelnen Motorenvarianten äußerlich ganz ähnlich.

60 PS – das klingt erst einmal wenig eindrucksvoll. Dieser Wert relativiert sich allerdings, wenn man sich die übrigen Leistungsdaten zu Gemüte führt:

Beim Mercedes 28/60 PS-Modell, das 1912 den seit 1910 gebauten Vorgänger 28/50 PS ablöste, fiel die Höchstleistung schon bei 1.300 Umdrehungen pro Minute an, also nicht weit oberhalb der Leerlaufdrehzahl.

Möglich war das dank des Hubraums von 7,2 Litern, der sich auf nur 4 Zylinder verteilte. Die daraus resultierende Leistungscharakteristik ist völlig anders als das, was wir heute gewohnt sind.

Die Spitzengeschwindigkeit von 80 km/h war natürlich nicht außergewöhnlich. Solch ein Hubraumkoloss war nicht auf Tempo abgestimmt, sondern auf jederzeitige souveräne Kraftentfaltung, die schaltarmes Fahren erlaubte.

1912 war aber nicht nur das Jahr der Einführung des 28/60 PS Mercedes. Es wurden auch erstmals in Serie Spitzkühler verbaut, die bis in die Nachkriegszeit das Erscheinungsbild der Marke bestimmten:

Mercedes_28-60_PS_06-1915_Ausschnitt

Auf diesem Ausschnitt erkennt man am Kühler den dreizackigen Stern, der bei Mercedes-Wagen seit 1909 auf beiden Seiten eingeprägt war.

Interessanter ist aber die niedrige Frontscheibe, deren Oberteil nicht lediglich nach vorn umgelegt, sondern komplett entfernt worden zu sein scheint.

Hinter den beiden auf Wechselfelgen montierten Reservereifen sieht man einen Dreieckskanister auf dem Trittbrett, der der Größe nach mindestens 10 Liter fasste. Bei einem Benzinverbrauch von über 20 Liter ein sinnvolles Zubehör…

Übrigens lieferte die Recherche keine Fotos von Mercedes 28/60 PS mit identischer Tourenwagenkarosserie. Auch im Daimler-Archiv findet sich im Netz keine Entsprechung. Sicher können Kenner der Marke mehr zu dieser Ausführung sagen.

Die Aufnahme selbst ist ein merkwürdig berührendes Zeugnis. Da hat jemand mitten im 1. Weltkrieg irgendwo fernab der Front dieses grandiose Auto mit seinem Fahrer aufgenommen.

Der darin festgehaltene friedliche Moment steht in denkbar großem Kontrast zu dem, was die Frontsoldaten aller Kriegsparteien gleichzeitig durchlitten. Dazu sei der annähernd zeitgleiche deutsche Heeresbericht vom 11. Juni 1915 zitiert:

Westlicher Kriegsschauplatz:
…wiederholte Angriffe gegen unsere Stellungen nördlich und südlich von Neuville … Nahkampf in den Gräben nördlich von Ecurie dauert noch an … bei Beaumont feindliche Angriffe abgewiesen … in der Champagne am 9. Juni eroberte Gräben versuchten die Franzosen uns wieder zu entreißen … Angriff brach unter schwersten Verlusten für den Feind zusammen…

Zusammengefasst: Im Westen nichts Neues.

Als Nachgeborene, die gern über die Zumutungen der Gegenwart jammern, haben wir keine Vorstellung davon, was sich hinter diesen trockenen Worten verbirgt.

Wenn wir solche Fotos aus Kriegszeiten heute aus sicherer Warte studieren, dürfen wir auch einmal derer gedenken, denen kein so bequemes Dasein vergönnt war wie vermutlich den Insassen des Mercedes 28/60 PS.

Auf fast jedem europäischen Dorffriedhof gibt es Mahnmale aus jener Zeit. Vielleicht hält man beim nächsten Besuch dort einmal inne…

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Hubraum-Riesen aus Mannheim: Benz-Modelle 1912

Um das Ansehen von Mannheim steht es nicht sonderlich gut. Eine Abkunft aus der einstigen Residenzstadt des Kurfürstentums Pfalz und späteren Industriemetropole gilt heute nicht als sonderlich erstrebenswert.

Doch aus automobilhistorischer Sicht ist Mannheim ein glanzvoller Ruf sicher. Ein gutes Vorzeichen waren die Fahrmaschinen, mit denen dort Karl Freiherr von Drais im frühen 19. Jahrhundert experimentierte.

1885 war das bis heute wohl bedeutendste Datum in der Stadtgeschichte, denn damals unternahm der Benz-Patent-Motorwagen Nr. 1 seine erste Fahrt. Es dauerte aber bis 1888, bis Carl Benz‘ bahnbrechende Erfindung als solche wahrgenommen wurde.

In jenem Jahr unternahm seine patente Frau Bertha mit den beiden Söhnen ihre legendäre Fahrt ins über 100 km entfernte Pforzheim.

Ein Jahr später war der Benz-Wagen auf der Weltausstellung in Paris die Sensation – und es begann der unaufhaltsame Siegeszug der Erfindung aus Mannheim. 

Um 1900 war die Automobilproduktion von Benz mit Abstand die bedeutendste im Deutschen Reich, wenngleich international die französischen Hersteller führend waren.

Carl Benz vermochte dem Innovationstempo der Konkurrenz nicht standzuhalten und schied 1903 aus seiner Firma aus – aus heutiger Sicht hatte er seine Mission erfüllt.

Keine zehn Jahre später stand die Firma Benz & Cie. blendend da. Mit der eindrucksvollen Mannheimer Modelloffensive des Jahres 1912 beschäftigt sich der heutige Blogeintrag.

Ausgangspunkt ist folgende Originalaufnahme aus der Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg:

Benz_25-55_oder_33-75_PS_Landaulet_Galerie

Benz Landaulet, 1912-14; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Ist das nicht eine majestätische Erscheinung? Würde man heute noch Hut tragen, so würde man selbigen vor den privilegierten Insassen ziehen.

Der Kenner sieht auf einen Blick, dass es sich um ein Landaulet handelt. Aber nicht alle Leser dieses Blogs sind auch Veteranenspezialisten, daher eine kurze Erklärung:

Beim der Kutschentradition entstammenden Landaulet-Aufbau saßen die Passagiere in einem vom Fahrer separierten Abteil und konnten bei schönem Wetter dort (und nur dort) das Verdeck niederlegen (lassen), um Licht, Luft und Landschaft zu genießen.

Das Verschwinden dieser verbreiteten Karosserieform im Automobilbau ist ein Beispiel für den gesellschaftlichen Wandel der letzten 100 Jahre. Der Exklusivität eines Landaulets vor über 100 Jahren entspricht heute der Besitz eines eigenen Düsenjets.

Mit diesem Vergleich wären wir auch beim Thema Leistung. „Was hat der denn für einen Hubraum, wieviel PS hat der denn, was schluckt der denn?“, das sind die von Oldtimer-Besitzern bekanntlich besonders geschätzten Fragen.

Im vorliegenden Fall ist das gar nicht so leicht zu beantworten.

Wir müssen uns anhand formaler Details erst einmal an mögliche Modellvarianten herantasten. Dabei gibt uns die Frontpartie einige Hinweise:

Benz_25-55_oder_33-75_PS_landaulet_Frontpartie

Beginnen wir mit dem Naheliegenden: Die Plakette oben auf dem Kühlerkasten erweist sich unter der Vergrößerung eindeutig als „Benz“-Emblem. Auf den Nabenkappen der Räder zeichnet sich der Schriftzug ebenfalls ab.

Der schräge Windlauf zwischen Motorhaube und Frontscheibe spricht für eine Entstehung ab 1910, vorher stieß die Haube (nicht nur bei Benz) rechtwinklig auf die Schottwand.

Dass wir es nicht mit einem der kleinen Benz der Jahre 1910/11 zu tun haben, verraten folgende Details:

Der Kühlergrill ist deutlich höher als breit. Beim bereits vorgestellten Benz 8/18 bzw. 8/20 PS sind die Proportionen gedrungener – das kompakte Aggregat brauchte nicht so viel Kühlung. Zudem verfügt unser Fotomodell über Räder mit zwölf Speichen, die kleineren Typen kamen mit zehn aus.

Drei Benz-Modelle kommen für diese Landaulet-Version in Betracht. Warnung: Wer eine Aversion gegen große Hubräume hat, sollte jetzt nicht weiterlesen!

Gut, man liest offenbar weiter. Neu ins Angebot nahm Benz 1912 folgende Typen auf:

Ein 25/45 PS-Modell (später: 25/55 PS) mit über 6 Liter Hubraum, ein 29/60 PS-Modell mit über 7 Liter Hubraum und ein 33/75 PS-Modell mit exakt 8,4 Liter Hubraum – wohlgemerkt alle mit Vierzylindermotoren.

Auch an diesen technischen Relationen lässt sich ablesen, was sich in den letzten 100 Jahren im Automobilsektor geändert hat.

Dabei gefällt zumindest dem Verfasser die Möglichkeit, dank solcher Hubräume aus Schrittempo im 4. Gang bis zur Höchstgeschwindigkeit von 90-110 km/h zu beschleunigen…

Nach so vielen Zahlen und Fakten zum Abschluss ein genüsslicher Blick auf die opulente Unterbringung der Passagiere – und des Fahrers:

Benz_25-55_oder_33-75_PS_landaulet_Seitenpartie

Der Chauffeur genoss zwar nicht das Privileg eines zu öffnenden Dachs, doch wird er es geschätzt haben, dass er nicht mehr bei Regen im Freien sitzen musste, wie das einige Jahre zuvor noch üblich war.

Außerdem konnte er in der warmen Jahreszeit die Frontscheibe ausstellen, um sich vom Fahrtwind kühlen zu lassen – das gewaltige Aggregat im Motorraum wird ihm nämlich ordentlich eingeheizt haben – im Winter natürlich ein klarer Vorteil.

Wer genau hinschaut, erkennt auch, warum es bei diesen Wagen keine Seitenscheibe für den Fahrer gab. Die Betätigungshebel für Gangschaltung und Handbremse lagen noch außerhalb des Karosseriekörpers. 

In Griffweite rechts des Lenkrads sieht man außerdem den Hupenball. Wer sich schon immer gefragt hat, warum die Autos auch außerhalb Englands so lange Rechtslenkung hatten, findet hier die Erklärung: Die meisten Menschen sind nun einmal Rechtshänder…

Damit wollen wir es für heute bewenden lassen. Die Firma Benz wird uns künftig noch öfters beschäftigen – etliche spannende Originalfotos im Fundus warten auf die Veröffentlichung.

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and http://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

1903: Einmarsch der „Gladiatoren“ im Elsass

Zugegeben – die Überschrift des Artikels passt nicht so recht zum Charakter eines Oldtimerblogs: „Gladiatoren im Elsass“ – und das 1903?

Doch wird sich das Rätsel zur Zufriedenheit und vielleicht Überraschung der Freunde richtig alter Automobile auflösen. Denn heute haben wir es mit Raritäten zu tun, von denen auch der Verfasser bis vor kurzem keine Vorstellung hatte.

Aber nehmen wir uns etwas Zeit für einen Exkurs und fassen die Überschrift wörtlich auf: Gladiatoren im Elsass, das ist nicht so abwegig – wenn man die Jahreszahl ignoriert.

Denn das fruchtbare und verkehrsgünstig auf der westlichen Seite des Oberrheingrabens gelegene Elsass gehörte immerhin rund 450 Jahre zum römischen Reich.

Wer sich in der Schule mit Caesars Beschreibung des Gallischen Kriegs befassen durfte, erinnert sich vielleicht an die Auseinandersetzung mit über den Rhein drängenden germanischen Stämmen unter ihrem Führer Ariovist.

Die Sache endete mit einem Sieg der Römer, deren überlegene Zivilisation sich ab etwa 50 v. Chr. im unterworfenen Elsass ausbreitete. Neben städtischen Ansiedlungen wie Straßburg entstanden zahlreiche Landgüter, die vom natürlichen Reichtum der Region und der für den Fernhandel idealen Lage profitierten.

Bis etwa 400 n. Chr. blieb die römische Kultur im Elsass präsent und man darf annehmen, das zumindest im Straßburger Raum, wo sich ein Legionslager befand, auch die damals populären Gladiatorenkämpfe gezeigt wurden.

In der Spätantike, als sich die staatliche Ordnung auflöste und die Kontrolle über die Grenzen verlorenging, fiel das Elsass erneut in die Hände germanischer Stämme, diesmal der Alamannen.

Ihre Sprache erhielt sich im Dialekt der Elsässer bis in die Neuzeit. Das Elsass wurde zwar später Teil des Frankenreichs, die deutsche Prägung blieb aber bestehen.

Nach langer Zugehörigkeit des Elsass zum Deutschen Reich im Mittelalter erlangte Frankreich im 17. Jahrhundert dort erneut die Kontrolle.

Nachdem der 1870 begonnene Krieg Frankreichs gegen Preußen und seine Verbündeten Paris eine krachende Niederlage beschert hatte, wurde das alte Grenzland wieder deutsch.

Über diese verschlungenen historischen Pfade sind wir genau in der Zeit angekommen, in der das folgende Foto im Elsass entstand:

Gladiator_1903_Elsass_Galerie

Veteranenwagen um 1903 im Elsass; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das ist eine Aufnahme, der man ihr Alter von über 110 Jahren kaum anmerkt. Überhaupt sind die Fotos jener Zeit – richtige Lagerung vorausgesetzt – oft von bestechender Qualität.

Damals knipste noch nicht jedermann mit Amateurkameras herum; solche Aufnahmen wurden von Berufsfotografen mit großformatigen Plattenkameras angefertigt.

So können wir Ausschnittsvergrößerungen erstellen, ohne dass Unschärfen oder grobes Korn stören. Hier hat sich nur im Gesicht des Herrn am Lenkrad der Abzug aufzulösen begonnen:

Gladiator_Ausschnitt_1

Trotz aller Qualität wollte die Identifikation des Wagens mit der ungeschützt vor der Motorhaube befindlichen Kühlerschlange zunächst nicht gelingen.

Zwar weist das Auto einige Ähnlichkeit mit Modellen der französischen Marke Panhard  & Levassor auf, die 1901/02 gebaut wurden.

Doch der Abgleich mit Abbildungen im Standardwerk „Panhard & Levassor – entre tradition et modernité“ von Bernard Vermeylen ergab keine völlige Übereinstimmung.

Erst die Präsentation auf der Internetseite http://www.prewarcar.com brachte den Erfolg. Dort verwies ein niederländischer Kenner auf ein identisches Fahrzeug, das 2012 vom Auktionshaus Bonham’s für 298.000 Pfund versteigert worden war.

Es handelt sich um einen 10-PS Zweizylinder-Wagen, der vom Pariser Hersteller Clément-Gladiator gefertigt wurde. Der Ursprung der Marke lag – man ahnt es – in einer Fahrradproduktion.

Seit 1901 entstanden unter dem Namen Gladiator Autos und schon 1902 erreichte man eine Stückzahl von über 1.000 Fahrzeugen pro Jahr –  ein Beispiel dafür, wie schnell die französische Autobranche die anfänglich führenden deutschen Hersteller abhängte.

1907 verschwand der Name Gladiator wieder und die Fabrik wurde von Vinot & Deguingand übernommen, einer von einst über 1.000 Autofirmen in Frankreich…

Zurück zu unserem Foto, wo wir uns den zweiten Wagen näher ansehen wollen:

Gladiator_Ausschnitt_2

So anders das Auto hier wirkt, stammt es doch vom selben Hersteller.

Nicht nur, dass die sichtbaren Teile von Achse und Lenkung übereinstimmen. Hier sieht man auch die für die Gladiator -Wagen typische Abschlussleiste am Vorderende der Motorhaube.

Die unterschiedlichen Scheinwerfer haben nichts zu bedeuten, sie wurden oft erst vom Händler aus gerade verfügbaren Teilen montiert.

Den modernen Betrachter erfreut aber vielleicht noch eines mehr: das abenteuerliche Aussehen der beiden in Pelzmäntel gehüllten Herren auf den Vordersitzen.

Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass diese verwegenen Gestalten Nachfahren der germanischen Neusiedler waren, die Caesar fast 2.000 Jahre zuvor im Elsass in ihre Schranken verwiesen hatte.

Nun waren sie wieder da und fuhren auf französischen Autos mit deutschen Nummernschildern im schönen Elsass herum. Aber gerade dieses Nebeneinander der beiden Völker machte schon immer den Charakter der Grenzregion aus.

Wenn nicht gerade übergeschnappte Politiker beider Seiten das Elsass mal wieder für ihre Sandkastenspiele instrumentalisierten, kam man eigentlich miteinander aus.

Für heutige Besucher ist die besondere Rolle des Elsass längst Geschichte. Das deutsche Element ist seit langem auf dem Rückzug, nur die vertraut klingenden Ortsnamen erinnern noch daran. Den Touristen zuliebe sprechen die gastfreundlichen und auf die Bewahrung ihrer Kulturlandschaft bedachten Elsässer oft gutes Hochdeutsch.

Der eigentlich elsässische alamannische Dialekt aber ist so gut wie ausgestorben. Er fällt derselben Vergessenheit anheim, der auch unsere beiden „Gladiatoren“ zum Opfer gefallen sind. Nur auf diesem alten Abzug wirken sie so real wie die Männer in feinem Zwirn und derben Reisemänteln, dass man sich fragt:

Wie konnte eine so hochentwickelte, vielfältige Welt in nur 100 Jahren fast völlig verschwinden – zugunsten einer sich rasant ausbreitenden, meist flachen Monokultur?

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and http://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

Lauter Charakterköpfe & ein Veteran: Horch 8/24 PS

Betreibt man einen Oldtimerblog für Vorkriegsautos, gehört man hierzulande zu einer raren Spezies. Angeblich interessiert sich ja keiner mehr für diese Fahrzeuge.

Doch stellt man alte Originalfotos von Veteranenwagen ins Netz, bekommt man fast täglich Post von Gleichgesinnten aus dem deutschen Sprachraum.

Manche Leser wollen bloß loswerden, dass ihnen das Stöbern auf diesen Seiten Freude macht – gern geschehen! Andere können etwas Erhellendes beitragen – danke dafür!

Willkommen sind auch Zuschriften, in denen jemand um die Identifikation eines Fotos aus Familienbesitz bittet. Im Idealfall wird dann mit etwas Detektivarbeit die Welt der Altvorderen wieder lebendig.

Überhaupt sind Bilder, auf denen alte Autos zusammen mit Menschen zu sehen sind, dem Verfasser die liebsten. Manchmal stößt man auf Dokumente, die schlicht grandios sind, obwohl man das Fahrzeug darauf kaum wird identifizieren können:

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Landaulet eines unbekannten Herstellers; Foto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier posieren 17 Mitglieder einer Familie vor einem herrlichen Landaulet – der für das Arrangement verantwortliche Hund im Vordergrund sei ebenfalls erwähnt.

Was für eine Aufnahme! Wir sehen Vertreter von vier Generationen, die ältesten davon wurden noch zu einer Zeit geboren, als niemand etwas von Automobilen ahnte.

Entstanden sein muss diese großartige Aufnahme kurz nach dem 1. Weltkrieg. Keine der Damen trägt mehr einen Hut; einen Bart hat sich nur der alte Herr ganz links aus der untergegangenen Kaiserzeit hinübergerettet.

Die selbstbewusste junge Frau neben ihm ist vielleicht der eindrucksvollste Zeuge einer neuen Epoche. Eine berührende Aufnahme – leider lässt sich derzeit nicht sagen, was das für ein Wagen im Hintergrund ist.

So wenden wir uns einem anderen Foto zu, auf dem ebenfalls jede Menge Charakterköpfe zu sehen sind. Hier kommen die Veteranenfreunde auf ihre Kosten:

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Veteranenwagen um 1925; Foto aus Sammlung Michael Schlenger

Nein, wir werden jetzt nicht auf jedes der Automobile eingehen und auch nicht die Aufmachung der 15 Herren erörtern, die vor über 90 Jahren ins Objektiv schauten.

Für eine Datierung um 1925 spricht der Opel ganz links. Das majestätische Fahrzeug in der Mitte dagegen gibt noch Rätsel auf  – wer hat eine Idee?

Interessant ist auf jeden Fall der Wagen auf der rechten Seite. Er lässt sich genau identifizieren und stellt durchaus eine Überraschung dar. Denn als diese Aufnahme entstand, gehörte das Fahrzeug eigentlich schon zum alten Eisen.

horch_8-24_p_opel_10-40_ps_unbekannt_ausschnitt

Solche birnenförmigen Flachkühler gab es kurz vor dem 1. Weltkrieg bei einigen Automobilen aus deutscher Produktion, beispielsweise bei NSU.

Auch der hier zu erkennende Aufbau mit „windschlüpfrig“ ansteigender Abdeckung über der Schottwand ist typisch für viele Wagen der Zeit um 1910. 

Die zeitgenössische Bezeichnung „Torpedoform“ für diese dynamische neue Linienführung wird aus der frontalen Perspektive besonders nachvollziehbar.

Die Identifikation der Marke ermöglicht letzlich nur ein kleines Detail, das auf folgendem Ausschnitt zu sehen ist:

horch_8-24_p_opel_10-40_ps_unbekannt_ausschnitt2

Auf der ovalen Plakette unterhalb des Kühlwasserstutzens kann man mit etwas gutem Willen den Schriftzug „Horch“ erahnen.

Diese Emblem in Verbindung mit dem birnenförmigen Flachkühler verweist auf das ab 1911 gebaute Modell Horch 8/24 PS. Ein Belegfoto findet sich auf S. 123 des Standardwerks „Horch“ von Kirchberg/Pönisch aus dem Verlag Delius-Klasing.

Ignorieren muss man in diesem Zusammenhang die elektrischen Scheinwerfer des Wagens auf unserem Foto. Diese sind wohl nachgerüstet worden; immerhin war der Horch zum Aufnahmezeitpunkt bereits rund 15 Jahre alt.

Doch war er zumindest nach deutschen Maßstäben noch konkurrenzfähig. In der Klasse bis 25 PS boten damals Hersteller wie Adler und Opel Wagen an, die technisch nicht wesentlich weiter waren; sie sahen bloß moderner aus.

Der Horch 8/24 PS verfügte bis zum Ende seiner Bauzeit (1922!) über einen 2,1 Liter messenden 4-Zylindermotor konventioneller Bauart. In Verbindung mit dem Vierganggetriebe ermöglichte das Aggregat ein Höchsttempo von 70 km/h.

Wer das nicht sonderlich eindrucksvoll findet, bedenkt nicht den Zustand der damaligen Straßen. Selbst Mitte der 1920er Jahre waren hierzulande geschotterte Pisten der Normal- bzw. der Idealfall.

Nur rund 900 Exemplare des Horch 8/24 PS wurden einst gebaut. Daran mag man ermessen, wie selten so ein Auto bereits Mitte der 1920er Jahre war. Heute dürfte es davon – wenn überhaupt – noch eine handvoll geben.

Auch das macht die Beschäftigung mit Veteranenwagen zu einer exklusiven und spannenden Angelegenheit. Selbst ein Foto eines solchen Fahrzeugs inmitten lauter Charakterköpfe ist heute eine Rarität!

Peugeot 161 „Quadrilette“ schlägt Amilcar!

Die Liebhaber von Vorkriegs-Peugeot sind auf diesem Oldtimerblog bislang eindeutig zu kurz gekommen. Dabei besitzt der Verfasser selbst einen Vorkriegstyp der französischen Traditionsmarke mit dem Löwen-Emblem:

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Peugeot 202 UH, Bildrechte: Michael Schlenger

Die Freunde wirklich alter Peugeots haben zum Glück hierzulande bereits eine exklusive Anlaufstelle in Form des Peugeot-Vorkriegsregister.

Nur für wenige Marken gibt es im deutschsprachigen Raum eine derart umfassende und lebendige Präsenz der Vorkriegsmodelle im Netz. Dort gibt es auch ein reizvolles Archiv mit zeitgenössischen Aufnahmen von Peugeot-PKW.

Insofern könnte man es bei dem Verweis auf die genannte Website belassen, gäbe es nicht daneben spannende Entdeckungen wie diese:

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Moment, das ist doch kein Peugeot, sondern ein Amilcar Cyclecar der 1920er Jahre – was hat der hier verloren?

Berechtigte Frage: Wie kommt überhaupt einer der als „Bugatti des kleinen Mannes“ begehrten Sportwagen in eine deutsche Kleinstadt um 1960?

Denn auf die frühen 1960er Jahre verweist die elegante Straßenkleidung der Damen, die man bei deren Töchtern heute meist vergeblich sucht… Und dass das Foto einst in Deutschland entstand, verrät der Schriftzug „Kur-Café“ im Hintergrund.

Nun, das Foto ist eines aus einer Reihe ähnlicher Aufnahmen, die einst bei einer Oldtimer-Ausfahrt an der Grenze zu Belgien und den Niederlanden entstanden. Man sieht darauf neben einem Ford A aus Holland auch diesen belgischen Amilcar.

Nichts gegen die Marke als solche, doch gab es bei der Gelegenheit eine weitere Cyclecar-Rarität zu bestaunen, die den Amilcar auf den zweiten Platz verweist:

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Peugeot 161 „Quadrilette“, Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das, werte Leser, lässt das Herz der Freunde von Vorkriegs-Peugeots schneller schlagen. Denn hier haben wir einen von nur rund 3.500 gebauten Wagen des Typs 161 „Quadrilette„, die zwischen 1920 und 1922 entstanden.

Das 1919 entwickelte Modell stellte den Versuch von Peugeot dar, nach dem 1. Weltkrieg ein relativ kostengünstiges Automobil für Einsteiger anzubieten.

Auch wenn das leichte Gefährt mit seinem 10-PS-Vierzylinder gern als „populär“ bezeichnet wird, kann der Versuch angesichts der geringen Stückzahlen als gescheitert gelten.

Wie man es besser macht, zeigte Citroen ab 1922 mit dem geringfügig stärkeren, aber erwachseneren Typ 5 CV, der nicht ohne Grund von Opel kopiert wurde.

Wie filigran der Peugeot 161 tatsächlich war, wird aus folgender Perspektive deutlich:

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Hier sieht man, dass die beiden Passagiere hintereinander saßen und dass die Hinterachse eine deutlich schmalere Spur aufwies als ihr vorderes Pendant.

Durch diesen Kunstgriff ersparte man sich das Differentialgetriebe, das in Kurven die unterschiedliche Umdrehungsgeschwindigkeit der Antriebsräder ausgleicht.

Solche Kompromisse machen deutlich, weshalb der Peugeot 161 „Quadrilette“ kein Publikumserfolg wurde. Das Gefährt war zu weit von einem vollwertigen Automobil entfernt, um den Mehrpreis gegenüber einem Motorrad zu rechtfertigen.

Es mag für die Freunde solcher Kleinstwagen europäischer Produktion wie auch des Hanomag „Kommissbrot“ ernüchternd sein: Der einzige Hersteller, der Anfang der 1920er Jahre ein echtes Volksautomobil anbot, war Ford mit dem Model T.

Umso reizvoller ist aus heutiger Sicht, einer der wenigen überlebenden „Quadrilettes“ von Peugeot zu sehen, noch dazu auf einem Foto der frühen Nachkriegszeit.

Der Wagen macht auf der wohl im Dreiländereck bei Aachen entstandenen Aufnahme einen ausgezeichneten Eindruck und dürfte wahrscheinlich noch heute existieren. Vielleicht weiß ja ein Leser mehr darüber.

Übrigens: Laut Michis Oldtimerblog soll es bei den Classic Days auf Schloss Dyck 2017 einen Sonderlauf für französische Cyclecars geben – ein Grund mehr, die fabelhafte Veranstaltung am Niederrhein zu besuchen!

Im „Baby-Benz“ 8/20 PS durch dick und dünn…

Beim Stichwort „Baby-Benz“ denkt man zuerst an den Mercedes 190 aus den 1980er Jahren, von dem noch etliche unverdrossen im Alltag unterwegs sind.

Hätte die Marke mit dem Stern an dieser Qualität festgehalten, würde sie wohl nicht mehr existieren. Der Anspruch war, einen Kompaktwagen zu bauen, ohne Kompromisse bei Konstruktion und Verarbeitung zu machen. 

Vor über 100 Jahren gab es schon einmal solch‘ einen Baby-Benz und damals war es ein richtiger Benz – der Zusammenschluss der Mannheimer Pionierfirma mit Daimler lag noch in weiter Ferne.

Rückblende ins Jahr 1910: Der Einkaufschef von Benz, Karl Kissel, nervt die Firmenleitung solange mit der Forderung nach einem kompakten Qualitätswagen, bis diese intern einen entsprechenden Wettbewerb ausschreibt.

Heraus kam das Modell Benz 8/20 PS, das bis nach dem 1. Weltkrieg das wichtigste Standbein der Marke blieb. Doch genug der Worte – lassen wir Bilder sprechen!

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Benz 8/20 PS, Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Zeitumstände wollen es, dass wir von den Benz-Automobilen, die ab etwa 1910 gebaut wurden, vor allem solche Fotos aus dem Einsatz im 1. Weltkrieg haben.

Die Benz-Wagen aus Mannheim waren in etlichen Typen als Stabs- und Kurierfahrzeuge an allen Fronten unterwegs.

Während hohe Offiziere prestigeträchtige Benz der Typen 25/55 PS oder 29/60 PS bevorzugten, die wir gelegentlich ebenfalls vorstellen, wurde das 18/20 Modell in weit größerer Zahl frontnah eingesetzt.

Hier nun der Wagen auf unserem Foto in starker Ausschnittsvergrößerung:

benz_8-20_ps_1914-15_ausschnitt Das Fahrzeug stimmt in allen wesentlichen Details mit dem 8/20 Benz überein, sei es die markante Übergangspartie von Motorhaube zu Frontscheibe, die Form und Anordnung der Luftschlitze, die Kühlermaske oder die Form der Schutzbleche.

Ein Vergleichsexemplar findet sich auf Seite 99 des Standardwerks „Benz & Cie.“, hrsg. von der Mercedes-Benz AG, 1994.

Einziger Unterschied sind die wahlweise verfügbaren Drahtspeichenfelgen und das Gepäck, das vom großen Dreieckskanister auf dem Trittbrett über die Gewehrtasche vor den Reservereifen bis hin zum Wassereimer auf dem Schutzblech reicht.

Die Pickelhauben der Reiter im Hintergrund verraten, dass das Foto in der Anfangsphase des 1. Weltkriegs entstanden sein muss. Der gegen Granatsplitter wirksamere Stahlhelm wurde auf deutscher Seite erst Anfang 1916 eingeführt.

Dass wir uns hier in Frontnähe befinden, lässt die Fracht vermuten, die das Gespann rechts von dem abgestellten Benz transportiert:

benz_8-20_ps_1914-15_ausschnitt2

Dem Format nach könnte es sich um einen 21cm Mörser von Krupp handeln, der zur Bekämpfung  befestigter Stellungen diente. Der Transport dieser weitreichenden Waffe erfolgte aus Gewichtsgründen in drei Teilen, hier sehen wir den Rohrwagen.

Das spektakuläre Kaliber könnte der Grund für das Foto gewesen sein, auch der Zivilist im Vordergrund schaut gebannt auf das gewaltige Stück Eisen, das von kräftigen Kaltblütern gezogen wurde.

Wir wissen, wie die Sache ausgegangen ist. Jahrelange Materialschlachten und Millionen von Toten hielten die Kriegsparteien nicht ab, bis 1918 ihre Ziele weiterzuverfolgen, bei denen es allen Seiten um die Vorherrschaft in Europa ging.

In mancher Hinsicht markierte der 1. Weltkrieg einen radikalen Schnitt. Das gilt etwa für Kleidung und Rolle der Frauen vor 1914 und nach 1918. In der Autoindustrie ging es aber erst einmal darum, die Fertigung wieder in Gang zu bringen.

Auf deutscher Seite wurden bis Anfang der 1920er Jahre meist Vorkriegsmodelle produziert. Während technisch fast alles beim alten blieb – von elektrischen Scheinwerfern abgesehen – setzte sich formal die Spitzkühlermode durch.

Der Spitzkühlertrend zeichnete sich bei vielen Herstellern im deutschsprachigen Raum bereits ab 1912 ab. Damals hatte der Kunde noch die Wahl zwischen dem konservativen Flach- und dem dynamisch wirkenden Spitzkühler.

Der Benz 8/20 PS scheint nach dem 1. Weltkrieg nur noch mit dem modischen Spitzkühler gebaut worden zu sein. So ein Exemplar sehen wir auf folgendem Foto:

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Benz 8/20 PS, Bauzeit 1918-21, Aufnahme um 1930 aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sind die Zeiten der dicken Kaliber offenbar vorbei. Die Herren auf diesem Abzug sind jedenfalls alle gertenschlank – Hinweis auf Zeiten, in denen es in vielerlei Hinsicht sparsamer zuging, fidel war man trotzdem.

Auch der Benz, der diese Gesellschaft aus 10 Herren und 2 Damen transportiert, hat abgespeckt. Vielleicht neigte das Gefährt bei langsamem Betrieb zur Überhitzung, weshalb man für diesen karnevalesken Umzug die Motorhaube entfernt hatte:

benz_8-20_ps_tourenwagen_karneval_ausschnitt1

Die formalen Details passen genau zum Benz 8/20 PS-Tourenwagen, wie er nach dem 1. Weltkrieg bis 1921 weitergebaut wurde-  nur mit Spitzkühler, wie gesagt.

Außer der Kühlermaske sprechen auch das Erscheinungsbild der Räder, die Form der Frontscheibe und die Gestaltung der Schwellerpartie für einen „Baby-Benz“ um 1920.

Bloß die „Besatzung“ des Benz steht im Gegensatz zu dem altbewährten Modell:

benz_8-20_ps_tourenwagen_karneval_ausschnitt2

Wahrscheinlich haben wir es hier mit einem Studentenulk anlässlich bestandener Prüfung zu tun. Dafür spricht das einheitliche Alter, der geringe Anteil an weiblichen Insassen und wohl auch die „Karl Marx“-Maske, die einer der Herren trägt.

Zu beanstanden ist nur: Anlässlich solcher Studentenfeten, bei denen es auch um’s Abschneiden alter Zöpfe ging, wurden bis in die 1960er Jahre oft alte Autos reaktiviert und anschließend zum Schrottplatz gefahren.

Dieses Schicksal dürfte auch den 18/20 PS Benz auf unserem Foto ereilt haben…