Man könnte meinen, einem Oldtimer-Blog, der sich schwerpunktmäßig Vorkriegswagen und Marken aus dem deutschen Sprachraum anhand historischer Aufnahmen widmet, geht früher oder später das Material aus.
Weit gefehlt! Fast täglich finden sich auf dem bekannten Marktplatz im Netz für symbolische Beträge Fotos antiker Automobile aus dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn. Heute stellen wir wieder einen außerordentlichen Fund vor:
© NSU Tourenwagen in Battice (Belgien) 1914/15; Ansichtskarte aus Sammlung Michael Schlenger
Diese Aufnahme wurde einst als Postkarte vervielfältigt. Das originale Foto wurde zu Beginn des 1. Weltkriegs im belgischen Städtchen Battice geschossen.
Die Pickelhauben der berittenen Begleiter des Wagens verweisen auf eine Entstehung im Jahr 1914/15. Erst 1916 wurde bei den Truppen des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns der Stahlhelm M1916 eingeführt, dessen Form bis heute fortwirkt.
Der Tourenwagen im Vordergrund wirkt zunächst wenig individuell, sodass die Identifikation schwierig scheint. Es könnte ein Fahrzeug aus deutscher Produktion sein oder ein französischer Beutewagen. Auch belgische Marken kommen in Frage.
Zur Erinnerung: Noch in den 1920er Jahren gab es in Europa und den USA hunderte Hersteller von Serienautomobilen. Besonders vielfältig war die Markenlandschaft in Frankreich. Dort sind insgesamt über 1.000 PKW-Marken verbürgt!
Im vorliegenden Fall erlaubt ein Detail aber die Ermittlung des Herstellers:
So fällt auf, dass auf der ovalen Oberseite der Kühlermaske ein waagerechtes Element thront, auf dem wiederum der Kühlwassereinfüllstutzen montiert ist.
Dieses markante Detail fand sich bei PKW aus dem deutschen Sprachraum seinerzeit nur bei NSU. Wer hier stutzt, ist nicht alleine. Viele Klassikerfreunde verbinden NSU mit den gleichnamigen Motorrädern oder den NSU-Fiats, die ab 1934 in Heilbronn gebaut wurden.
Doch von 1906 bis zur Übernahme des Werks durch Fiat entstanden unter der Marke NSU eigenständige Mittelklassewagen. Vor dem 1. Weltkrieg fertigte man vor allem 4-Zylinder-Modelle, die zwischen 24 und 35 PS leisteten. Eines davon dürfte auf unserem Foto zu sehen sein.
Noch ein Wort zur Aufnahmesituation: Die belgische Ortschaft Battice war 1914 Schauplatz besonderer Grausamkeiten. Nachdem Freischärler das Feuer auf die Richtung Frankreich durchmarschierenden deutschen Truppen eröffneten – ohne dadurch irgendetwas erreichen zu können – “revanchierte” sich die deutsche Führung durch Erschießung von Zivilisten und Zerstörung vieler Häuser.
Diese als Kriegsverbrechen zu klassifizierenden Taten begründen keine “Schuld” heutiger Generationen. Doch sie ermahnen zu einem besonders sensiblen Umgang der einst am 1. Weltkrieg beteiligten europäischen Nationen miteinander.
Die Aufnahmen aus dem 1. Weltkrieg erinnern daran, dass damals die maßgeblichen Länder Europas durch geschickt gewählte “Beistandspakte” in jeden Konflikt hineingezogen wurden, den Österreich-Ungarn mit seinen Nachbarn haben konnte.
Aus der Ermordung des österreichischen Thronfolgers durch serbische Terroristen 1914 hätte nicht der 1. Weltkrieg entstehen müssen, wenn nicht ein halbes Dutzend europäischer Staaten auf eine solche Gelegenheit gewartet hätten.
Insofern erinnern uns alte Fotos wie dieses an die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts…