Mehr als 70 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs schwindet hierzulande allmählich das Bewusstsein, dass es östlich der heutigen Landesgrenzen einst eine über Jahrhunderte gewachsene deutsche Kultur gab. Wer nicht wie der Verfasser familiär “vorbelastet” ist oder sich für die Geschichte seines Landes interessiert, verbindet mit Begriffen wie Pommern, Preussen oder Schlesien kaum noch etwas.
So dürften auch die wenigsten die Frage nach der ehemals am weitesten östlich gelegenen Automobilfabrik Deutschlands beantworten können. Um es kurz zu machen: Es waren die Stoewer-Werke in der alten Hansestadt Stettin. Bis 1945 war die Stadt an der Odermündung das Zentrum der preußischen Provinz Pommern, seither gehört sie zu Polen.
Stoewer war eine Qualitätsmarke, die für ihre oft sehr eleganten Karosserien bekannt war. Hier eine Originalreklame aus der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg:
© Stoewer-Originalreklame, Anfang der 1920er Jahre; Sammlung Michael Schlenger
Die Ursprünge der Firma liegen in einer Mitte des 19. Jahrhunderts begonnenen Nähmaschinenproduktion, die später um eine Fahrradfertigung ergänzt wurde – man fühlt sich an die Marke Adler erinnert.
Die beiden Söhne des Firmengründers begannen 1897 mit der Herstellung motorisierter Dreiräder nach französischem Vorbild. Schon 1899 wagten sie die Konstruktion eines vollwertigen Wagens nach eigenen Plänen. Das Modell erwies sich als tauglich und markierte den Beginn der Serienfertigung von Stoewer-Automobilen.
Übrigens versuchten sich die Gebrüder Stoewer auch auf dem Gebiet des Elektroantriebs. Ihre 1905 vorgestellte E-Droschke erreichte ein Tempo von 30 km/h und hatte eine Reichweite von 40 km. Angesichts zu geringer Speicherfähigkeit und mangelnder Dauerhaftigkeit der Batterien im Alltagsbetrieb wurde das Experiment jedoch wieder beendet – nach 100 Jahren sieht es heute nicht viel besser aus.
Stoewer erwarb sich in den Jahren bis zum 1. Weltkrieg einen Ruf als Hersteller feiner Automobile. Dazu trugen nicht zuletzt die selbstentworfenen Karosserien bei, die oft eleganter ausfielen als die Produkte der Konkurrenz. Doch soll hier nicht die gesamte Geschichte der Stettiner Marke erzählt werden – denn das tut bereits in vorbildlicher Weise folgendes Buch:
Gerhard Maerz: Die Geschichte der Stoewer-Automobile, Verlag Kohlhammer, 1983, ISBN: 3-17-007931-X (vergriffen, aber antiquarisch erhältlich)
Vielmehr soll ein zeitgenössisches Originalfoto eines Stoewer dazu dienen, Interesse an dieser zu Unrecht vergessenen Marke zu wecken:
© Stoewer Typ D3, Ende der 1920er Jahre; Sammlung Michael Schlenger
Die hochwertige Aufnahme befindet sich schon seit längerem im Besitz des Verfassers. Eine sichere Zuschreibung des Wagens war zunächst nicht möglich. Der Spitzkühler lässt zwar an ähnliche Modelle von NAG, Horch und Opel denken. Doch die oben auf dem Kühler montierte Plakette passt dazu ebensowenig wie die Speichenräder mit ihren zahlreichen Radbolzen und der markanten Nabenkappe:
Gewissheit erbrachten erst Vergleiche der Karosserie mit Abbildungen aus dem erwähnten Stoewer-Buch von Gerhard Maerz, der übrigens als gebürtiger Stettiner schon als Junge alles sammelte, was mit Stoewer zu tun hatte.
Dort finden sich Bilder von Stoewer-Wagen der 1920 vorgestellten D-Baureihe, die trotz unterschiedlicher Motorisierungen wesentliche Charakteristika mit dem Wagen auf unserem Foto teilen. Neben der identischen Gestaltung des Fahrzeugbugs findet sich dort vor allem der scharfe Knick in der Karosserie wieder, der von der Motorhaube schräg nach oben zum Ende der geknickten Windschutzscheibe führt.
Auf dieser Ausschnittsvergrößerung finden sich noch andere interessante Details, dazu gleich mehr. Der abgebildete Wagen ist wahrscheinlich ein mittleres Modell der D-Baureihe von Stoewer, ein D3. Der von 1920-23 in etwas mehr als 2.000 Exemplaren gebaute Typ verfügte über einen 2,1 Liter großen Vierzylindermotor mit Seitenventilen, der 24 PS leistete. Die größeren Modelle wurden mit 6-Zylinder-Aggregaten angeboten, die deutlich leistungsfähiger waren.
Wie es der Zufall will, ähnelt der Wagen auf dem Foto stark dem stilisierten Fahrzeug auf der oben gezeigten Originalreklame. Dies unterstützt die hier vorgetragene These; vielleicht kann ein Leser hierzu noch mehr beitragen.
Nun nochmals ein Blick auf die Mittelpartie des Stoewer mit seiner schnittigen Windschutzscheibe. Dort ist in Fahrtrichtung links ein Winker angebracht, ein schön gestalteter Pfeil, der mechanisch betätigt wurde. Rechts vom Fahrer – Rechtslenkung war seinerzeit auch bei uns verbreitet – befindet sich ein wohl nachgerüsteter Rückspiegel. Seine Halterung sieht etwas improvisiert aus.
Aus dem Rahmen fällt die große elektrische Hupe, die seitlich zwischen Ersatzreifen und Vorderschutzblech montiert ist. Dieses Zubehör kann erst in den späten 1920er Jahren verbaut worden sein; dazu passt der gut gebrauchte Zustand des Stoewer.
Leider gibt die Kleidung des etwas abschätzig dreinschauenden Fahrers keinen weiteren Datierungshinweis. Seine über der Brust gedoppelte Lederjacke mit Pelzkragen wurde vom 1. Weltkrieg bis in die 1940er Jahre von Auto- und Motorradfahrern geschätzt – ein Klassiker, der sich auch heute hervorragend zu Veteranenfahrzeugen macht.
Das weitere Schicksal der Marke Stoewer war von einem ständigen Auf und Ab geprägt, wie es anderer Hersteller von Nischenmarken ebenfalls durchmachten. Immerhin überstand die Stettiner Firma die Weltwirtschaftskrise, allerdings verlor die Gründerfamilie in den 1930er Jahren die Kontrolle über das Unternehmen. Damit ging auch der eigene Charakter der Marke verloren.
Während des 2. Weltkriegs produzierte das Stoewer-Werk Militärfahrzeuge. Viel zu spät – im April 1945 – unternahm man im Geschützdonner der heranrückenden Roten Armee den Versuch der Evakuierung von Teilen der Produktionsanlagen und des Geschäftsarchivs. Die Sowjets beschlagnahmten das gesamte Material und die Fabrikanlage in Stettin, ohne nochmals eine Produktion zuwegezubekommen.
Damit war die Marke Stoewer Historie. Der Autor des erwähnten Stoewer-Buchs musste bei der Flucht aus Stettin 1945 seine bis dahin aufgebaute Sammlung zurücklassen. In den folgenden Jahrzehnten gelang es ihm in akribischer Kleinarbeit, wieder genügend Material für sein gelungenes Buch zusammenzutragen.
Zeitzeugen wie ihm ist es zu verdanken, dass wir überhaupt soviel über die Marke Stoewer wissen, in der sich nicht zuletzt ein Teil unserer Geschichte widerspiegelt.