Wer das auf Schlagzeilen und Bilder reduzierte Geschehen in der großen weiten Welt mit der Wirklichkeit verwechselt, verpasst das eigentliche Leben.
Dieses vollzieht sich nicht im Scheinwerferglanz auf internationalem Parkett, in abgeschirmten Kongressen selbsternannter Eliten oder in Inszenierungen vorgestriger, mit ihren Konsumenten alt und bedeutungslos werdender Traditionsmedien.
Das Leben ist das, was dem Einzelnen täglich widerfährt und das ist von seltenen Ausnahmen abgesehen das Geschehen vor Ort, im privaten Umfeld, auf der Arbeit – also in der Welt des Kleinen, letztlich dessen, aus dem sich das große Ganze zusammensetzt.
Wer wie ich auf dem Lande lebt, dem offenbart sich das Leben im Kleinen jeden Tag: das Herbstlaub, das die schmale Gasse hinauf in den Hof hineingeweht wird, der schwere Geruch der allmählich vergehenden Äpfel vom Nachbargrundstück, die Musik, die abends von ebendort herüberweht, wenn sich der Hausherr an den verstimmten alten Flügel setzt und ein wenig improvisiert.
Das Leben im Kleinen zeigt sich auch im allabendlichen Rascheln im Carport unter dem unter seiner Haube schlummernden Innocenti Mini Traveller. Ein Igel hat sich dort eingenistet und da er noch recht klein war, füttern wir ihn seit Herbstanfang, damit er genug Gewicht für den Winter ansetzt, der diesmal streng werden dürfte.
Die Freude am Detail, die Zuneigung zum Leben im Verborgenen, das Dasein im Kleinen – das ist etwas, was den Menschen von jeher auszeichnet. Die phänomenale Genauigkeit der frühesten Höhlenmalereien unserer altsteinzeitlichen Vorfahren zeugt ebenso davon wie das, was sich auf den Autofotos unserer Altvorderen offenbart.
Ein hübsches Beispiel dafür habe ich heute für Sie ausgewählt.
Doch zuvor eine Rückblende, um den rechten Vergleichsmaßstab zu haben. Hier haben wir ein Foto des beeindruckend dimensionierten NAG-Protos 14/70 PS von Ende der 1920er Jahre – dem Kennzeichen nach zu urteilen aufgenommen im Raum Hirschberg (Schlesien):
NAG-Protos Typ 14/70 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Dieser 5 Meter messende Koloss mit 3,6 Liter Sechszylinder war eines der letzten Modelle der einst hochbedeutenden Berliner Automobilfirma NAG. Wie so oft, markiert das Wuchern ins Gigantische den bevorstehenden Niedergang.
Doch auch im Größenwahn finden sich noch sympathische Anzeichen der Liebe zum Detail – hier etwa in Form der Eichel nebst Eichenblatt auf dem Kühlergrill. Das war Ergebnis eines Versuchs am Ende der 1920er Jahre, deutsche Fabrikate (übrigens auch Zweiräder) als solche zu markieren – wobei die Herkunft doch offensichtlich war.
Ein weiteres Detail, auf das ich Ihren Blick lenken möchte – neben den in zwei Blöcken angeordneten horizontalen Luftschlitzen in der Motorhaube – sind die großen Chromradkappen. Alles weitere zum obigen Exemplar finden Sie hier.
Nun zum eigentlichen Gegenstand der heutigen Betrachtung. Ihn finden wir aus identischer Perspektive, doch in ganz anderem Umfeld aufgenommen auf dem folgenden Foto:
NAG-Protos Typ 14/70 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Dass wir es hier mit demselben Typ zu tun haben, liegt auf der Hand, nicht wahr?
Die Stuttgarter Zulassung würde ich noch nicht als wesentliche Abweichung im Detail werten – ebenso nicht die Abwesenheit von Radkappen.
Was uns letztlich dazu veranlasst, diesem weitgehend identischen NAG-Protos 14/70 PS besondere Aufmerksamkeit zu schenken, ist auch nicht das Emblem des DDAC, in dem sich ab 1933 nach dem Willen des totalitären NS-Regimes alle bis dato unabhängigen deutschen Autoclubs zusammenzufinden hatten.
Zentralisieren. Vereinheitlichen. Kontrollieren. Das sind Merkmale politischer Systeme, die Individualität, Wettbewerb, Eigeninitiative als Bedrohung empfinden. Man sollte nicht glauben, dass diese Tendenz nur den kollektivistischen Ideologien des 20. Jh. zueigen war.
Zum Glück können wir diesem unschönen Thema im vorliegenden Fall ausweichen. Denn im wahrhaft Kleinen offenbart sich auf dieser Aufnahme gleich in doppelter Hinsicht das Leben in seiner wunderbar naiven Ausprägung – in Form des Buben hinter der Windschutzscheibe und des Schoßhunds auf dem Kotflügel, der uns anschaut:
Der Wille zum Leben offenbart sich im Kleinen, im Individuum, das sich voller Selbstbewusstsein zeigt – das war eigentlich alles, was ich heute illustrieren wollte.
Den NAG-Protos 14/70 PS kennen Sie ja schon. Einem Original werden Sie jenseits alter Fotos wohl nicht mehr begegnen, aber auch deshalb treffen wir uns hier…
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Mitte August und zu meinem Leidwesen macht der Sommer schon wieder Urlaub. Bei der abendlichen Fahrradrunde durch die Wetterau breitete sich angesichts kahler Felder und kühlen Ostwinds eine beinahe herbstliche Stimmung aus.
20 Kilometer scharfe Fahrt und dennoch nicht durchgeschwitzt – so hatte ich mir das abendliche Exerzitium nicht vorgestellt. Wenigstens noch zwei Wochen Hochsommer hätte ich mir gewünscht, nachdem das bisherige Jahr eher durchwachsen war.
Das Nahen des Herbstes – ob bereits tatsächlich oder nur stimmungsmäßig vorweggnommen – veranlasste mich dazu, zu einem alten Thema zurückzukehren, das mich lange nicht mehr beschäftigt hat.
In der CD-Sammlung im Schubladenschrank im englischen Stil fand ich eine Einspielung wieder, die sich ausschließlich dem Lamento Mariens nach dem Tod ihres Sohnes Jesus widmet. Ein und dasselbe Thema bearbeitet von sechs Komponisten der Barockzeit, gespielt vom italienischen Ensemble „Il Giardino Armonico“ und gesungen von der Mezzo-Sopranistin Bernarda Fink (L’Oiseau Lyre, 2009).
Ich hatte vergessen, wie reizvoll diese Variationen über das alte Thema sind.
So hatte ich die perfekte Begleitmusik für den heutigen Blogeintrag gefunden, der sich ebenfalls mit den immer wieder überraschenden Reizen auseinandersetzt, welche sich einem bei der Beschäftigung mit dem NAG Typ C4 10/30 PS aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre darbieten.
Der Wagen war damals ein Dauerthema in deutschen Großstädten und zusammen mit ähnlich motorisierten Typen von Presto und Protos das meistgebaute Auto seiner Klasse hierzulande.
Auch in meinem Blog habe ich bereits x Ausführungen anhand historischer Fotos vorgestellt – dennoch finden sich immer wieder neue Interpretationen:
NAG Typ C4 10/30 PS mit Landaulet-Aufbau; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks
Diese Aufnahme aus dem Fundus von Leser Klaas Dierks zeigt eine Taxi-Version mit einem repräsentativen und kostspieligen Landaulet-Aufbau. Typisch für den NAG Typ C4 10/30 PS ist hier nur der (meist) lackierte Spitzkühler mit ovalem Kühlerausschnitt
Dass sich ein dermaßen teures Manufakturfahrzeug im Droschkenbetrieb amortisieren konnte, ist nur damit zu erklären, dass sich die Kundschaft aus der urbanen Oberschicht speiste, welche damals meist noch kein eigenes Auto besaß.
Man kann davon ausgehen, dass ein solcher NAG auf dem Lande praktisch nicht anzutreffen war – es gab dort schlicht keinen Markt dafür. Hauptsächlich Ärzte und Veterinäre besaßen dort überhaupt Automobile und dann Kleinwagen mit unter 20 PS.
In ländlicher Umgebung konnte man einem NAG Typ C4 10/30 PS nur begegnen, wenn sich die Städter vom Trubel und der (damals noch) schlechten Stadtluft erholen wollten.
Dann kam in der Regel eine Variante mit Tourenwagenaufbau zum Einsatz, die außer bei starkem Regen eigentlich immer offen gefahren wurden, denn man wollte ja etwas erleben.
NAG Typ C4 10/30 PS mit klassischem Tourenwagen-Aufbau; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Doch selbst beim Thema des klassischen Tourer gab es offenbar Variationen, die vom Erfindungsreichtum der damaligen Karosserie-Komponisten ebenso zeugen wie die Interpretationen des Marien-Lamento auf der Aufnahme, welche ich gerade höre.
So kann ich Ihnen heute eine Spielart des Tourers präsentieren, welche ich nicht nur beim NAG C4 10/30 PS, sondern auch bei keinem anderen Wagen je gesehen habe.
Woran sich die Erbauer dieses Spezial-Tourers orientiert haben oder welche Assoziation der Aufbau wecken sollte, darüber kann man wohl nur spekulieren. Ich fühle mich hier an Bootsbau erinnert, aber vielleicht hat jemand eine bessere Idee:
NAG Typ C4 10/30 PS mit klassischem Tourenwagen-Aufbau; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Während ich diese Geselllschaft auf mich wirken lasse und mich an den raffinierten Linien der Karosserie im wahrsten Sinne des Wortes erbaue, lausche ich gerade der „Sinfonia in h-moll, RV169, Al Santo Sepolcro“ des zu unrecht geschmähten Vielschreibers und Großmeisters Antonio Vivaldi.
Er überrascht in seinem Riesenwerk immer wieder durch seinen Erfindungsreichtum. Ja man erkennt irgendwann auch bei entlegenen Werken seinen „Sound“, aber was er einem vermeintlich x-fach abgehandelten Thema an Facetten abzuringen vermochte, das überrascht immer wieder auf’s Neue.
So verhält es sich auch bei einer weit bodenständigeren Materie wie dem NAG Typ C4 10/30 PS, der außer auf alten Fotos fast keine Spuren hinterlassen hat. Im großstädtischen Umfeld, wo er einst zuhause war, hatte man meist keinen Platz, um ihn nach Jahren treuen Dienstes einfach in irgendeinem Schuppen abzustellen, wo er bessere Zeiten entgegenschlummern konnte.
Eine Ahnung davon, was in dieser Hinsicht verlorengegangen ist, erhalten Sie in meiner chronologischen NAG-Fotogalerie, wo Sie Dutzende dieser einst so bedeutenden und vielgestaltigen Wagen studieren können. Wenn Sie dabei leise Melancholie anweht, wissen Sie, wie es mir oft geht, wenn ich den späten Abend allein mit diesen Zeugen einer untergegangenen Welt verbringe…
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Wenn ich heute geradezu verschwenderisch mit dem Material aus meinem Fotofundus sowie dem von Sammlerkollegen umgehe, hat das nur zum Teil damit zu tun, dass ich die letzten Tage jede freie Minute Sonne getankt habe.
Das notorische Schlafdefizit, welches ich meiner unstillbaren Neugier und diesem Blog „verdanke“, wird durch die Energiezufuhr seitens des Fusionsreaktors in durchschnittlich rund 150 Millionen Kilometern Entfernung locker überkompensiert.
Eine Dosis New Orleans Rhythm & Blues – als Abwechslung zum üblichen Klassikprogramm – ergänzt die Rezeptur. Aktuell läuft „Earl King“ über die Lautsprecher, die illiuminierten Leistungsanzeigen des Verstärkers tanzen inspiriert mit.
Machen wir es zur Abwechslung kurz – der Fund des Monats April 2025 ist eine hinreißende Variation über das öfter anklingende Thema NAG C4b „Monza“ in meinem Blog.
Zu Erinnerung: Dabei handelte es sich um eine sportliche Werksversion des Typs C4 der Berliner Traditionsfirma der ersten Hälfte der 1920er Jahre – damals eines der am häufigsten gebauten deutschen Autos überhaupt.
Bereits die „normale“ Tourenwagenausführung des 30 PS-Wagens sah flott aus, zumindest wenn sie so dynamisch inszeniert wurde wie auf dieser Aufnahme:
NAG Typ C4; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)
Als Hommage an einen Werksrennwagen auf dieser Basis, mit dem NAG im italienischen Monza einen vielbeachteten Erfolg erzielte, brachte man eine Straßenversion heraus, die bei gleichem Hubraum (2,5 Liter) stärker war und vor allem unglaublich rasant daherkam.
Für mich ist dieser Typ C4b mit 40 bis 45 PS eines der aufregendsten deutschen Autos der frühen 1920er Jahre überhaupt.
Kein anderer hiesiger Hersteller baute in Serie einen derartig radikal daherkommenden Sport-Tourer:
NAG Typ C4b „Monza“; Originalfoto: Sammlung: Klaas Dierks
Jetzt mögen die Verwöhnten unter Ihnen denken: „Ja, schön und gut, diese Rakete auf Rädern hat uns der Blog-Wart aber schon einige Male präsentiert – was ist denn heute so aufregend anders?„
Um es vorwegzunehmen: Aufregender wird es heute nicht, aber dennoch werden Sie am Ende eine neue Perspektive auf diesen faszinierenden Straßensportler gewinnen. Bleiben Sie dran, Sie werden’s nicht bereuen.
Etliche Exemplare sind zwar bereits in meiner NAG-Galerie versammelt – mehr als irgendwo sonst in der Literatur oder im weltweiten Netz. Und einige stellen dieses Beispiel in den Schatten, das ich hier erstmals präsentiere:
NAG Typ C4b „Monza“; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Vergleichen Sie einmal diesen Sport-Tourer mit dem Standard-Tourer auf dem eingangs gezeigten Foto – außer dem markanten NAG-Kühler und den (beim Monza eher seltenen) Stahlspeichenrädern gibt es keine Gemeinsamkeiten.
Dass man auf praktisch demselben Chassis und mit kaum verändertem Antrieb so ein völlig anders daherkommendes Automobil in Serie bauen konnte, das gehört zu den vielen Reizen von Vorkriegswagen – das geht in der Moderne schon lange nicht mehr.
Und dann konnte so ein Sport-Tourer genauso als verlässlicher Reisewagen eingesetzt werden, sofern man nur Minimalgepäck mitführte und über einen gesunden Body-Mass-Index verfügte.
Wirklich sportlich fahren ließ sich so ein Fahrzeug bei voller Besetzung natürlich nicht – aber darauf kam es nicht an. Es gab vor 100 Jahren eine Klientel, für die ein Auto weit mehr war als ein Fortbewegungsmittel oder ein Wohlstandsindikator.
Ein NAG C4b „Monza“ war ein ästhetisches Statement – wer so etwas „Unvernünftiges“ fuhr, gab damit zu erkennen, dass er etwas von Lebenskunst verstand. Wie ich zu sagen pflege: Kultur beginnt dort, wo nicht mehr schnöde Notwendigkeiten das Dasein diktieren.
Dem vermeintlichen Vernunftwesen Mensch wohnt nämlich die Freude am Überfluss, am Genuss des Augenblicks und am Spiel unter der Sonne inne:
NAG Typ C4b „Monza“; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Ich bin sicher, dass Sie den NAG C4B „Monza“ so noch nie gesehen haben. Es handelt sich übrigens um dasselbe Fahrzeug wie auf dem zuvor gezeigten Foto.
Den Aufnahmeort zu ermitteln, das überlasse ich gerne einem Leser, der schneller in solchen Sachen ist als ich. VIelleicht entstand das Foto am Wolfgangssee, aber das ist nur eine unfundierte spontane Eingebung.
Letztlich steht auch heute das Auto im wahrsten Sinn im Vordergrund – als Transporter in die weite Welt, als Überwinder von Zeit und Raum, als Ermöglicher von Situationen wie dieser, in denen erwachsene Männer mit Bubenfreude Dinge tun, die in keinem Reiseführer „vorgesehen“ sind, während die Damen die Herren tun lassen, was sie tun müssen:
Na, habe ich zuviel versprochen in Sachen NAG C4b „Monza“? Wenn Sie sich jetzt fragen, wo denn verdammt nochmal alle diese umwerfend leicht daherkommenden Sport-Tourer geblieben sind, kann ich es auch nicht sagen.
Aber eines kann ich Ihnen versprechen: Von genau diesem Modell liegen mir aufgrund einer glücklichen Fügung (ok., es war auch nicht ganz kostenlos) ein phänomenaler Fundus an Originalaufnahmen vor, mit dem ich noch viele solcher Funde des Monats bestreiten kann…
Nachtrag: Gerade stelle ich fest, dass die beiden zuletzt vorgestellten Fotos denselben einst im Bezirk Wiesbaden zugelassenen NAG zeigen, den ich bereits früher anhand dieser Aufnahme von Leser Klaas Dierks präsentieren konnte – wahrlich ein Fund des Monats…
NAG Typ C4b „Monza“; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks
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Manche Träume lassen den Menschen nicht los – über Jahrtausende hinweg.
Wir lernen daraus, dass wir zwar in technischer Hinsicht ernorme Fortschritte bei der Bewältigung des Daseins machen mögen, aber im Wesentlichen noch die sind, die einst als an die Erde gebundene Nomaden und später Siedler sehnsüchtig den Vögeln nachschauten, deren Leben sich leicht in den Lüften vollzog.
So ist zu erklären, dass in unseren Tagen evidente Spinnereien wie Flugtaxis für eine ganze Weile einige Aufmerksamkeit auf sich ziehen und sogar die Schatullen vermeintlich abgebrühter Investoren aufgehen ließen.
Der Traum, sich einfach in die Luft erheben und ein Ziel seiner Wahl präzise ansteuern zu können, hat schon die alten Griechen im wahrsten Sinne beflügelt. So entstanden die vielen Mythen, in denen das geflügelte Pferd Pegasos eine Rolle spielt.
Selbiges wird hier auch heute in prominenter Form präsent sein.Ein erstes Mal begegnen wir ihm auf dieser Aufnahme, die Besitzern der 2019er Neuauflage des Klassikers „Deutsche Autos 1920-45“ von Wener Oswald bekannt vorkommen dürfte:
NAG-Protos 14/70 PS Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Eine repräsentative Limousine im typischen „Amerikaner“-Stil der späten 1920er Jahre – so würde man hier zutreffend konstatieren. Die US-Hersteller waren damals tonangebend und kein deutscher Hersteller konnte es sich leisten, trotz unterlegener Produktionstechnik nicht wenigstens in kleiner Stückzahl Ähnliches anzubieten.
Im vorliegenden Fall haben wir es mit dem 6-Zylindermodell 14/70 PS der Berliner Marke NAG-Protos zu tun, die den angesagten Stil durchaus traf und auch mit der großzügigen Motorisierung die Zeichen der Zeit in der Oberklasse erkannt hatte.
Dass man wohl nur eine geringe vierstellige Zahl dieser prächtigen Wagen zwischen 1928 und 1930 zustandebrachte, ändert nichts an ihrem Prestige. Fliegen war zwar auch damit nicht möglich, aber hoch über den Niederungen des Alltags der allermeisten Deutschen bewegte man sich damals in jedem Fall.
Passend dazu war dieses Exemplar vom Besitzer mit einer großartigen Kühlerfigur ausgestattet worden – dem besagten geflügelten Pferd namens Pegasos, mit dem der antike griechische Held Bellerophon seine Abenteuer bestand.
Ich lasse mich gern eines Besseren belehren, aber diese Figur war wohl kein Werksstandard beim NAG-Protos dieses Typs – die expressive Gestaltung steht in klarem Kontrast zur der kühlen Logik der Karosserie des Wagens.
Für Freunde gekonnter Individualisierung von Automobilen wie mich ist indessen genau die Montage des sich aufbäumenden, zum Himmel strebenden Pegasos auf dem Kühler dieses ansonsten hochseriösen Großbürger-Transporters das i-Tüpfelchen.
Zu meinem eigenen Erstaunen vermag der Pegasos aber auch noch etwas anderes. Denn so sehr ich die Auffassung vieler Vorkriegsautofreunde verstehe und teile, dass Tourenwagenaufbauten wenig aufregend sind, so sehr muss ich im Fall des folgenden Fotos zugeben: das Bild kann sich auch ganz anders darstellen.
Diese überraschende Einsicht verdanke ich Leser Matthias Schmidt aus Dresden, der mir in digitaler Form diese großartige Aufnahme übermittelte:
Geht es nur mir so oder wirkt der mächtige NAG-Protos mit seinen 5 Metern Länge hier auf einmal nicht überraschend leicht und viel freundlicher als im eher abweisenden Format einer Sechsfenster-Limousine?
Jedenfalls dürfen wir davon ausgehen, dass diese Ausführung Ende der 1920er Jahre auch in deutschen Landen nur noch selten gewählt wurde, wenngleich der Tourer traditionell die preisgünstigste Karosserieversion war.
Doch selbst dafür waren im Fall des NAG-Protos 14/70 PS Ende der 20er Jahre 11.400 Mark hinzublättern – das entsprach mehr als fünf Brutto-Jahresgehältern eines sozialversicherungspflichtigen Durchschnittsverdieners im damaligen Deutschland.
Demnach ist klar: Wer sich so ein Luxusgerät leisten konnte, der hatte auch das nötige Kleingeld für eine opulente Pegasos-Kühlerfigur aus Manufakturproduktion. Solche Sachen wurden einst von unabhängigen Produzenten in kleinen Serien gefertigt.
Ausnahmsweise weiß ich wovon ich rede, denn mit meiner „EHP“ Voiturette von 1921 erwarb ich ich eine darauf montierte Kühlerfigur, die ebenfalls einen Pegasos zeigt. Produziert wurde sie einst vom französischen Bildhauer Gaston Broquet für die verblichene französiche Marke Victor Buchet (siehe hier).
„Mein“ Pegasos trägt die laufende Nummer 253, was eine ungefähre Vorstellung davon vermittelt, in welchem Umfang solche Kühlerfiguren für rare Marken gegossen wurden.
Die Figur steht heute unter einer gläsernen Haube auf einem der Lautsprecher der französischen Marke „Cabasse„, die meine Mutter in den 1960er Jahren erworben hatte. Sie verdiente damals sehr gut und ließ sich von ihrem damaligen Chef zu dieser Investition in hochwertige Musikwiedergabe inspirieren.
Die Lautsprecher habe ich vor etlichen Jahren „restauriert“. So hatte sich die Membranaufhängung nach Jahrzehnten aufgelöst und die Kondensatoren der Frequenzweiche hatten den Geist aufgegeben. Unter Wahrung der Originaloptik verbaute ich moderne Hoch- bzw- Tief/Mitteltöne, erneuerte Frequenzweiche udn Verkabelung.
Nach fast 60 Jahren verrichten diese historischen Hifi-Lautsprecher zusammen mit einem Vintage-Verstärker beinahe jeden Abend ihren Dienst, während ich am Blog arbeite. Wenn ich den Kopf zur Seite drehe, sehe ich den Pegasos auf dem Lautsprecher aus dem Nachlass meiner Mutter, der ich ein Gutteil meines Blicks auf die Welt verdanke.
Heute jährt sich ihr Todestag und ich bin sicher, es hätte ihr gefallen, wie mir die Beschäftigung mit den Dingen aus der Welt von gestern Flügel verleiht wie einst Pegasos…
Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Ich weiß, es gibt einige richtig gute und sympathische Taxifahrer in deutschen Landen.
Leider habe ich oft schlechte Erfahrungen mit Exemplaren gemacht, die einen am Frankfurter Hauptbahnhof in Empfang nehmen, wenn es 20 Uhr ist, die Bahn mal wieder versagt und man nach einem langen Arbeitstag nach Hause will – koste es, was es wolle.
Ich will nicht darüber spekulieren, wie man heuzutage in deutschen Metropolen an die Taxifahrer-Lizenz gelangt, es gibt da einige Vermutungen.
Der ursprünglich ehrenhafte Beruf des Droschkenfahrers hat aber auch dadurch gelitten, dass er irgendwann von Dauerstudenten oder Studienabbrechern gekapert wurde, die sonst nichts können.
Diesen zum unaufgeforderten Schwafeln neigenden Figuren bin ich während meiner Jahre am Frankfurter Finanzplatz zum Glück selten in die Hände gefallen.
Dass der Beruf des Taxifahrers einst Ehrenmännern oder zumindest respekteinflößenden Mannsbildern vorbehalten war, das will ich heute anhand eines Fotos illustrieren, welches eines der meistgebauten deutschen Automobile der ersten Hälfte der 1920er Jahre zeigt.
Die Rede ist vom hier schon oft besprochenen Typ C4 10/30 PS der altehrwürdigen Marke NAG aus Berlin. Sie finden in meiner NAG-Galerie haufenweise Fotos dieses Modells, das einem zudem mit einer großen Fülle von Aufbauten begegnet.
Gemeinsam war freilich allen Varianten der markante Ovalkühler, der zugleich mittig spitz zulief, wie es bei Fabrikaten aus deutschen Landen von ca. 1914 bis 1925 Mode war.
Zur Bestätigung der Identität trugen die NAGs des Typs C4 meist noch das charakteristische Markenemblem auf der Stange zwischen den Scheinwerfern – so auch hier:
NAG Typ C4 10/30 PS; Originalaufnahme aus Sammlung Wolfram Kuessner (Kiel)
Diese prächtige Aufnahme verdanke ich Wolfram Kuessner aus Kiel, der eine schöne Website betreibt, wo man auf historischen Dokumenten die alte Ostseestadt erleben kann.
In Kiel war es auch, wo einst diese Taxis abgelichtet wurden – darunter „unser“ NAG, gefolgt vom damals ebenso verbreiteten Modell 9/30 PS von Presto aus Chemnitz.
Den Wagen möchte ich heute nicht etwas Neues abgewinnen, ihre repräsentative Erscheinung verrät bereits alles über den exklusiven Rang eines Taxis vor 100 Jahren.
Vielmehr möchte ich Ihren Blick auf die drei Herren lenken, welche hier selbstbewusst neben ihren Fahrzeugen posieren. Sie trugen die „Uniform“ des Chauffeurs von damals: Schirmmütze, zweireihige Jacke und polierte Schaftstiefel.
Man nimmt diesen Typen sofort ab, dass sie ihr Handwerk von der Pike auf gelernt hatten, ihre Wagen und ihre Stadt aus dem Effeff kannten und auch den angemessenen Umgang mit ihren Passagieren beherrschten.
Sollte ich nach nunmehr 12 Jahren selbständiger Existenz noch einmal in die Verlegenheit gelangen, am Hauptbahnhof zu Frankfurt am Main zu stranden und es sollte aufgrund eines unerklärlichen Zeitsprungs dort einer dieser Taxi-Typen neben den üblichen Verdächtigen auf mich warten, dann wüsste ich genau, wem ich mich anvertrauen würde.
Dafür würde ich sogar die Route über die alte Landstraße in Kauf nehmen, denn die A5 von Frankfurt/Main nach Bad Nauheim gab es in den 1920ern noch nicht…
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Ich gebe es zu – der Titel des heutigen Blog-Eintrags ist nichts für schwache Nerven. Der Gedanke, gleich in der Notaufnahme als hoffnungsloser Fall eingestuft und zur „Ersatzteilgewinnung“ ausgeweidet zu werden, ist kein schöner.
Wie bei anderen kontroversen Themen muss man sich aber damit auseinandersetzen – weil es keine objektiv richtige Sicht dazu gibt. Wie im Fall von Abtreibung und Todesstrafe erscheint es mir klug, extreme Positionen zu vermeiden.
Das bedeutet, die Sache weder völlig auszuschließen noch sie zu leicht zu machen. Die Entscheidung über den Umgang mit dem Leben anderer ist eine ernste Angelegenheit, sie sollte so schwer wie möglich fallen und vermieden werden, wenn es irgend geht.
Völlig abwegig erscheint mir im Fall der menschlichen Organspende nur die Idee, dass diese der Normalfall in dem Sinne sei, dass ein grundsätzlicher Anspruch „der Gesellschaft“ auf die Organe eines Individuums bestünde, wenn es „hirntot“, aber sonst noch lebendig ist. Nur wer das vorab durch Willensbekundung ausschließe, könne verschont bleiben.
Diese Sicht ist für mich Ausfluss einer Gesinnung, für die mir die Worte fehlen. Man kann und sollte über alles streiten können, aber alles hat seine Grenze dort, wo der Bürger zur Verfügungsmasse eines übergeordneten Apparats wird.
Das ist meines Erachtens keine moralische Frage – subjektive Moralkategorien haben in den meisten Lebensbereichen nichts zu suchen und schaffen mehr Probleme als sie lösen.
Es genügt, den für Lebenswillen eines Individuums zum Ausgangspunkt zu nehmen. Das darin zum Ausdruck kommende Selbsteigentum kann der Einzelne nur selbst einschränken.
Eigentlich wollte ich nicht so weit abschweifen, aber ein Blog ist ein Format, in dem Dritte dem Verfasser dabei folgen können, wie er sich einem Thema nähert. Für mich ist die Einleitung eine Konzentrationsübung, bevor der entspannende Teil folgt, der dann meist schnell heruntergeschrieben ist.
Wechseln wir also aus dem fahlen Licht der Notaufnahme in den Freiluft-OP-Saal einer Auto-Klinik vor rund 115 Jahren – und damit an einen Ort, wo Organtransplantationen zur guten Praxis gehörten und „ärztliche“ Kunst auf eigene Weise geübt und gepflegt wurde:
Chauffeurschule um 1910; Ansichtskarte aus Sammlung Michael Schlenger
Na, was sagen Sie? In dieser „Klinik“ stellt sich das Thema erfreulich „organisiert“ dar, oder?
Denn an der „Sächsischen Chauffeurschule“ wurden Autos nicht zwecks Teileentnahme geschlachtet, sondern hier wurde das Zerlegen, Reparieren und Zusammensetzen trainiert, auf dass der „Patient“ anschließend geheilt in den Alltag entlassen werden konnte.
Solches lernten die Berufsfahrer zu einer Zeit, als sie noch selbst in der Lage sein mussten, allfällige Wartungs- und Instandsetzungsarbeiten selbst auszuführen.
Geübt wurde am (zumindest zuvor noch) lebenden Objekt. Selbst wenn der „Herztod“ schon eingetreten war – mit Sachkunde, Fleiß und den richtigen Materialen war eine vollständige Wiederherstellung der „Lebensfunktionen“ möglich.
Ein typischer „Patient“ war in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg ein Wagen der Berliner Marke NAG“, die in meinem Blog zu den häufigsten Vertretern zählt. Die Form des Kühlergehäuses ist bereits unverkennbar, das Kühleremblem bestätigt die Identifizierung:
NAG „Puck“, 1908-1910
Die geringe Größe des Kühlers spricht für das Kleinwagenmodell „Puck“ des renommierten Herstellers, das ab 1908 mit Motorisierung 4/12 PS gebaut wurde.
Das Aggregat scheint hier noch vollständig zu sein, nur die Kühlwasserschläuche zum Kühler wurden gelöst und die Motorhaube entfernt.
Die hinten zu sehende Stirnwand – welche zugleich die Abtrennung zum Fahrerabteil war – unterstützt die frühhe Datierung.
Ab 1910/11 wurde auch bei NAG der aus dem Rennsport übernommene Windlauf übernommen, eine kappenartige Blechpartie, die den Übergang von der Motorhaube zur Windschutzscheibe strömungsgünstiger gestaltete und unter der die Stirnwand verschwand.
Was so ein „Puck“ aus dem Hause NAG zu leisten vermochte, wenn er sachgerecht gewartet wurde, das habe ich hier vor einiger Zeit anhand eines Exemplars gezeigt, das vor der Silhouette der Stadt Todi im oberen Tibertal (Umbrien) abgelichtet worden war:
NAG 6/12 PS „Puck“ bei Todi (Umbrien); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Da es südlich der Alpen wahrscheinlich keine NAG-Niederlassung gab und Automobile in Mittelitalien noch eine ganz große Rarität waren, musste der Fahrer seinen „Puck“ wirklich so gut kennen wie ein guter Hausarzt seine Patienten.
Bei einem Problem war keine „Überweisung“ an Spezialisten möglich, also musste die Konstruktion und die Ausbildung der Chauffeure ganz darauf ausgelegt gewesen sein, in jedem Fall zumindest die Situation zu stabilisieren und im besten Fall zu heilen.
Jedes dieser Fotos ist ein Beleg dafür, dass dies in den allermeisten Fällen gelang, sonst hätte sich niemand mit so einem enorm teuren Gegenstand auf Reisen begeben. Mir nötigt das Können der damaligen Konstrukteure, Handwerker und Fahrer größten Respekt ab.
Ohne allerbeste und das heißt gründliche und disziplinierte Ausbildung wäre nichts von alledem möglich gewesen. Für diese angehenden Chauffeure war dieser Aufenthalt in der „Auto-Klinik“ sicher einer, den sie mit Leidenschaft absolvierten.
Seine Profession ernstzunehmen, war eine Frage der Ehre, zumal das eigene materielle Wohl davon abhing, sein Metier völlig zu beherrschen und den Besitzern der Autos, für die man verantwortlich war, Ungemach zu ersparen.
Mit Ernst und Stolz bei der Arbeit, vielleicht auch eine Empfehlung für die Gegenwart:
Ob wir hier einen weiteren NAG nach erfolgter Organentnahme sehen, das vermag ich nicht sicher zu sagen.
Von der Machart des Motors her mit vier aus dem Block herauschauenden Kolben und am Ende angeflanschter Schwungscheibe könnte das aber passen. Denn der kleine „Puck“ besaß einen kompakten Monoblockmotor mit 1,6 Litern Hubraum.
Gut gefällt mir, wie sich hier der grimmig dreinschauende Herr neben dem Motor wie ein Großwildjäger neben seiner Beute präsentiert, nur dass er mit einem Schraubenschlüssel bewaffnet ist. Der Mann neben ihm dürfte zur Leitung der „Auto-Klinik“ gehört haben.
Schön, dass auch die Sekretärin der Einrichtung zu sehen ist, sie durfte am Lenkrad des Wagens sitzen, sicher eine willkommen Abwechslung zur Schreibmaschine. Vielleicht war sie aber auch mit der damaligen High-Tech-Kommunikation vertraut, dem Telegramm.
Dieses erlaubte die erste weltumfassende Kommunikation in (Beinahe) Echtzeit. Dass der Telegramm-Dienst noch bis 2022 in Deutschland in Betrieb war, habe ich soeben mit Erschütterung gelesen, aber es passt zur pathologischen Technologieskepsis in unserem vor dem 1. Weltkrieg noch praktisch in allen Bereichen führenden Land.
Apropos Skepsis: Man kann nie skeptisch genug sein, sowohl was die eigenen Gewissheiten angeht als auch die anderer. Denn der NAG, den ich heute als mutmaßlichen „Puck“ 6/12 PS aus der Zeit von 1908-10 vorgestellt habe – zumindest in Teilen – könnte ebenso der Nachfolger „Darling“ 6/18 PS gewesen sein.
Die einschlägige Literatur – zu NAG leider dürftig und veraltet – behauptet zwar, dass der „Darling“ erst ab 1911 den „Puck“ ablöste, doch fand ich in einer 1910er Ausgabe der Zeitschrift „Jugend“, nach welcher der Jugendstil benannt ist, diese Reklame:
NAG „Darling“; Originalreklame von 1910 aus Sammlung Michael Schlenger
Auch die Angabe der Motorisierung 6/14 PS spricht für eine frühere Einführung noch 1910, während die bis 1914 gebauten Varianten stärker waren (letzte Bezeichnung: 6/18 PS).
Somit muss die Identität unseres heutigen NAG-Patienten in der Auto-Klinik offenbleiben.
Um 1910 jedenfalls wird es gewesen sein, dass man irgendwo in Sachsen an einer Chauffeurschule dem Berliner Gewächs nicht nur den Puls fühlte, sondern beherzt eine vorübergehenden Organentnahme zu Lehrzwecken an ihm praktizierte.
Der kleine NAG wird das überlebt haben, die Wagen der Marke gehörten damals zum Besten, was die deutsche Autoindustrie in größeren Stückzahlen zustandebrachte. Später mag er noch einmal als Organspender gedient haben, aber seine Zeit war bald abgelaufen.
So wie die Lebenserwartung der Menschen vor über 100 Jahren in bedrückender Weise viel niedriger war als heute – die wenigsten wissen dieses heutige Privileg eines langen Lebens zu schätzen, viele können nichts mit ihrer Zeit anfangen – so war auch den damaligen Autos kein langes Dasein beschieden.
Nach fünf Jahren waren sie veraltet und nach zehn Jahren wurden sie meist aus dem Verkehr gezogen. Heute sind viele Autos ohne weiteres für 20 bis 30 Jahre gut, sofern man sich darum kümmert. Chauffeurschule und Auto-Klinik braucht es dazu nicht mehr.
Vieles lässt sich heutzutage mittels Selbststudium in Typenforen oder auf YouTube beheben oder zumindest so weit eingrenzen, dass man weiß, was zu tun ist. Das wirklich ewige Leben, das haben aber nur die ganz frühen Automobile, sofern sie noch existieren.
Dieser Tage stieß ich auf ein wunderbares Dokument, in dem ein alter Herr aus den USA von seinem 1913er „Regal Underslung“ erzählt.
Nicht nur ist das eines der schönsten US-Autos seiner Klasse aus jener Zeit – es fasziniert auch, wie dieser Amerikaner in freier Rede in wohlgesetzten Worten und klaren Sätzen 25 Minuten lang von seinem Wagen erzählt.
Selbst wenn Sie nur über Schulenglisch verfügen, werden Sie dieser Geschichte mit Gewinn folgen können – im Zweifelsfall hören und sehen sie es nochmals an:
Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Noch ein Tag bis zum Fund des Jahres in meinem Blog – ich darf Ihnen versichern, der erspart Ihnen jedes Feuerwerk. Mir wird er noch einen Haufen Arbeit machen, aber ich mache das ja alles freiwillig und staune immer wieder, was man alles dabei erfährt.
So auch heute, als ich leichtsinnigerweise einen mir einfach erscheinenden Fall vornahm, der mir nicht viel Mühe und Ihnen viel Freude bereiten sollte.
Dabei geht es um einen alten Bekannten, der einem wie ein guter Freund immer ein willkommener Anblick ist. Er mag sich etwas rar machen – das ist seine Art und das muss man akzeptieren – doch wenn man seiner nach längerer Abwesenheit ansichtig wird, ist man jedes Mal wieder aus dem Häuschen.
Hier noch das Abschiedsfoto vom letzten Besuch – er hatte es eilig und zeigte uns bereits die Rücklichter – das war in Passau:
NAG-Protos 16/80 PS Typ 208 Sport-Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Den Schlingel mit den zwei Nummernschildern am Heck – heute undenkbar – hatte zwischenzeitlich Leser Klaas Dierks aus anderer Perspektive vor die Flinte bekommen und in Form dieses Konterfeis dokumentiert.
Hier kommt die gute Figur unseres alten Freundes bereits perfekt zu Geltung – eine athletische Erscheinung mit trainierter Muskulatur genau dort, wo man sie braucht, ansonsten mit schlanker Taille und keinem Gramm Speck auf dem Leib.
NAG 16/80 PS Typ 208 Sport-Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks
So ein tief auf der Straße liegendes Sport-Cabriolet mit sprungbereiter Erscheinung bekommt heute keiner mehr hin – der Jaguar XK120 verkörperte diesen Stil in den 1950er Jahren wohl ein letztes Mal in ultimativer Perfektion, meine ich.
Und noch dazu war unser alter Freund nicht nur eine sportliche Erscheinung – er wusste auch von der Papierform her zu beeindrucken: 80 PS aus 4 Litern Hubraum, das versprach Anfang der 1930er Jahre starken Antritt und vor allem Elastizität im Gebirge.
Er war zwar kein Sprinter – bei Tempo 110 war Schluss, dafür sorgte die werksseitig verbaute Übersetzung. Aber wenn es bergauf ging, besaß dieser großvolumige Wagen das Drehmoment, um schaltarm zum Gipfel zu gelangen.
Solche Bergsteigerqualitäten waren in der Vorkriegszeit für viele Käufer in deutschen Landen wichtiger als Beschleunigung und Höchsttempo. In Britannien und Italien verfolgte man damals eine andere Philosophie – doch der Reiz von Europa lag und liegt gerade in den Unterschieden, sonst könnte man ja gleich zuhausebleiben, nicht wahr?
Was man aber wohl am meisten an unserem alten Freund schätzte, war seine stilistische Klasse, die bis heute als Vorbild gelten könnte, wenn sich dafür jemand interessierte:
NAG-Protos 16/80 PS Typ 208 Sport-Cabriolet; Originales Pressefoto aus Sammlung Michael Schlenger
Gewiss, speziell italienische Manufaktur-Karosserien der 1950/60er Jahren erreichten nochmals einen ähnlichen Grad an ästhetischer Wirkung – in ihrer skulpturenhaften Anmutung den besten Werke von Antike und Renaissance vergleichbar, behaupte ich.
Doch, liebe Leser, Sie wissen das: Die besten Vorkriegswagen der 1930er Jahre spielten in einer eigenen Liga.
Nie zuvor und nie danach wurden dermaßen beeindruckende Persönlichkeiten auf vier Rädern geschaffen, die in einem schwer begreiflichen Kontrast zu den sonstigen bedrückenden Verhältnissen der Zeit standen:
NAG-Protos 16/80 PS Typ 208 Sport-Cabriolet; Originales Pressefoto aus Sammlung Michael Schlenger
Über fünf Meter in der Länge maß dieses von der altehrwürdigen Berliner Firma NAG kurz vor ihrem Ende gebauten Sport-Cabriolet des Typs 208.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand dieses Gefährt „zu groß“ findet, auch wenn heuztzutage und hierzulande sonst so viel Propaganda für „Downsizing“, Schrumpfen, Kaltduschen und andere frühmittelalterliche Verzichtstugenden gemacht wird.
So wie wir nicht weniger Energie verbrauchen sollten, sondern im Gegenteil viel mehr benötigen, um den Laden am Laufen zu halten und den Lebensstandard wieder zu heben, so brauchen wir auch die Lust am Exzess in der Nische, die Freude am Überfluss, den Wunsch nach dem Grandiosen und Erhabenen jenseits aller Notwendigkeit.
Daran erinnert uns wohlwollend unser alter Freund, der uns heute zum letzten Mal in diesem Jahr begegnet auf einem Foto, das ich erst kürzlich in einem eigentümlichen Konvolut fand, welches Teile des Archivs von Hans-Heinrich von Fersen umfasste:
NAG-Protos 16/80 PS Typ 208 Sport-Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger, Copyright: J.A. Sural (Hanau)
Nach dem bereits Gebotenen werden Sie vielleicht denken, dass diese Aufnahme dem NAG-Protos 208 Sport-Cabriolet keine neuen Seiten abzugewinnen vermag.
Das ist richtig. Aber ausgerechnet dieses unscheinbare Foto transportiert uns aus dem Berlin der frühen 1930er Jahre auf Umwegen nach Entenhausen und das geht so:
Auf der Rückseite des Abzugs befindet sich der Stempel „Photo-Coypright J. A. Sural, PO Box 767, Hanau, West Germany„.
Alles, was ich zur Hanauer Firma „J.A. Sural, Hanau“ finden konnte, ist der Umstand, dass es sich um einen Lizenzträger von Walt Disney handelte, der in den 50ern u.a. die Figuren aus der Donald Duck-Serie reproduzierte. Das tat die Firma etwa in Form einer Keramikfigur, welche den tragikomischen Helden aus Entenhausen mit einer Uhr zeigt.
So, liebe Leser, jetzt wissen Sie, wie man von einem mondänen Luxusgefährt aus dem Berlin der Vorkriegszeit in die Entenhausener Niederungen der Nachkriegs-„Kultur“ gelangt. Es brauchte dazu bloß gut 15 Jahre und deutsche „Gründlichkeit“.
NAG ist schon lange Geschichte und weitgehend vergessen, doch Entenhausen ist nach Jahrzehnten immer noch quicklebendig. Was einem das über den Zustand der sich immer noch überlegen dünkenden europäischen Kultur verrät, sei dahingestellt.
Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
In diesen Tagen erreichen uns aus dem politischen Berlin laufend Neuigkeiten, die einen bisweilen atem- und sprachlos machen. Zuletzt wurde offiziell, dass genügend Papier aufgetrieben werden konnte, um in gut drei Monaten Neuwahlen abhalten zu können.
Das sind doch einmal gute Nachrichten – nicht dass China als Bezieher deutscher „Entwicklungshilfe“ auch hier einspringen muss, nachdem dort so ziemlich alles produziert wird, womit wir unseren Alltag bestreiten, auch wenn AEG oder Bosch draufsteht.
Nehmen wir die Dinge locker und schauen einmal, was vor ziemlich 100 Jahren Wunderliches aus der Hauptstadt in die deutsche Provinz gelangte – in diesem Fall in die Rheinprovinz, wo einst das Kürzel „IZ“ das Nummernschild zierte:
NAG Typ C4 10/30 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Nun mag einer denken: „Heute hat unser Blogwart aber einen schlechten Tag – die politische Großwetterlage scheint ihm die Sinne zu trüben – ist doch offensichtlich, dass wir es mit einem Exemplar des Anfang der 1920er Jahre gängigen Typs C4 10/30 PS der Berliner Marke NAG zu tun haben. Was sollte daran wunderlich sein?“
Alles richtig, meine Damen und Herren. Es ist schön zu wissen, dass man so ein kritisches und kenntnisreiches Publikum bedient. Dennoch bestehe ich darauf, dass dieser x-tausendfach gebaute NAG im vorliegenden Fall Anlass gibt, sich zu wundern.
Die Vorderradbremsen haben Sie sicher selbst bemerkt. Die wurden im Vorgriff auf den 1925 erfolgenden Wechsel zum Nachfolgertyp D4 10/45 PS den letzten Exemplaren des seit 1920 produzierten C4 10/30 PS verpasst. Damit hätten wir einen Datierungshinweis.
Hier sieht man ausschnitthaft die mächtigen Bremstrommeln auf der Innenseite der Räder:
Aber fällt Ihnen nicht auch auf, dass die Vorderkotflügel ganz anders – viel schlanker und sportlicher geschnitten sind als bei allen Tourern und Limousinen des Typs C4 10/30 PS in meiner NAG-Markengalerie?
Als typisches Beispiel sei dieses Exemplar angeführt, welches in einer bislang einzigartigen Situation festgehalten wurde:
NAG Typ C4 10/30 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Es gab neben diesen breiten und ohne Mittelsteg geformten Kotflügeln nach meiner Wahrnehmung eine weitere gängige Variante, die sich bei Tourern, Limousinen und Landaulet dieses Typs findet.
Diese fiel kantiger aus und lief vorne spitz aus, aber auch sie besaß nicht die auffallende „Mittelrippe“ welche an dem eingangs zu sehenden Wagen mit Zulassung in der Rheinprovinz vor allem am Heck gut erkennbar ist.
Hier also ein Beispiel für die zweite oft anzutreffende Variante, in diesem Fall in der Ausführung als Taxi, welche häufig einen den Einstieg der Passagiere erleichternden Kasten auf dem Trittbrett trug:
NAG Typ C4 10/30 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Langjährige Leser – ich weiß, dass es zumindest einige gibt – wissen, dass ich auch hin und wieder den Sport-Tourer auf Basis des NAG C4 10/30 PS gezeigt habe, der genau solche schmalen Kotflügel mit mittiger „Bügelfalte“ besaß wie unsere eingangs präsentierte mächtige Sechsfenster-Limousine.
Diese sind auf dieser Aufnahme eines NAG C4b „Monza“ gut zu erkennen:
NAG Typ C4b „Monza“; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Sehen Sie die Ähnlichkeit in der Kontur der Schutzbleche, auch hinten?
Allerdings ist zugleich ein Unterschied erkennbar: die sportlichen Ausführungen, die neben leichteren Aufbauten auch mehr Leistung besaßen, hatten vorne keine Innenkotflügel.
Man kann auf dem obigen Foto deshalb die komplette Innenseite der Räder sehen. Das ist bei der eingangs präsentierten Limousine nicht der Fall, hier nochmals der Ausschnitt:
Aus meiner Sicht liegt es aber auf der Hand, dass man sich zumindest stark am Erscheinungsbild der Sportversionen orientiert hat.
Es ist gut möglich, dass man damit dem Eindruck einer gewissen Schwerfälligkeit entgegenwirken wollte, welche sich aus der Verwendung eines ziemlich beeindruckenden aber auch mächtig schweren Limousinenaufbaus mit sechs Seitenfenstern ergab:
Hier sei nochmals auf die stilistische Ähnlichkeit der Kotflügel mit denen des Sport-Tourers hingewiesen. Dieses Detail kontrastiert auf wunderliche Weise mit dem enormen Aufbau, welcher überdies in einem Mitte der 1920er Jahre an sich veralteten Stil gehalten ist.
Die Welt der pferdegezogenen Kutsche und der motorisierten Sportwagen hat hier ein außergewöhnliches letztes Stelldichein, welches ich Ihnen nicht vorenthalten wollte.
Ob man sich diese wunderliche Erscheinung tatsächlich in Berlin bei NAG selbst ausgedacht hat oder ob wir es eher mit einer sympathisch eigenwilligen Schöpfung aus der zu Unrecht geschmähten „Provinz“ zu tun haben, das sei dahingestellt.
Eines noch für die Freunde der NAG-Wagen jener Zeit. Auch der heute nur gestreifte Sport-Tourer C4b „Monza“ kommt irgendwann wieder zum Zuge – allerdings gibt es daneben so viel anderes, wovon ich mich zu später Stunde meist spontan verführen lasse.
Wundern Sie sich also nicht, wenn ich demnächst wieder etwas bringe, womit Sie so nicht gerechnet haben. Die Welt der Vorkriegsautomobile macht einen immer wieder atem- und sprachlos, mal mit und mal ohne Wunderlichkeiten aus Berlin…
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Heute bringe ich ein Foto, das viele Assoziationen weckt.
Mich erinnert es an meinen walrossbärtigen Fahrlehrer aus dem Nachbarort, der Ende der 80er seine attraktive Frau im 3er-BMW über die Dörfer schickte, um uns Fahrschüler einzusammeln – der dröge lokale Monopolist war davon nicht so angetan, zumal seine Preise dabei unterboten wurden.
Der weiße Golf II Diesel, auf dem ich dann fahren lernte, war zwar geeignet, die nächste Generation für das Automobil zu verderben: ein hässliches Wolfsburger Facelift des knackigen Golf I aus italienischer Meisterhand; das primitiv gestaltete Plastikarmaturenbrett vibrierte bedrohlich im Leerlauf und die Kiste war unsäglich lahm.
Doch genau mit diesem Mobil brachte uns Meister Eckardt (so hieß er tatsächlich mit Vornamen) binnen kürzester Zeit das Fahren bei und noch heute denke ich an ihn, denn er war ein Verfechter der stets angemessen zügigen Fortbewegung. Schon in der ersten Stunde drückte er aufs Gas, wenn man auf der Landstraße zu langsam unterwegs war.
Später machte ich noch den Motorrad-Führerschein bei ihm – ebenfalls mit der vorgeschriebenen Mindeststundenzahl – bei ihm ging es auch in der Hinsicht zügig zu.
Das war ein gelungener Kompetenztransfer von einer Generation zur anderen, wie er sein soll – was übrigens auch in jeder anderen Hinsicht gilt: Bildung, Eigenständigkeit, Rücksicht auf die Mitmenschen, Mitleid mit denen, die sich nicht selbst helfen können usw.
Hört man unterdessen denen hierzulande zu, die sich in fortgeschrittenem Alter befinden und larmoyant feststellen, dass ihr eigener Nachwuchs die Liebe zum klassischen Automobil nicht teilt, habe ich den Eindruck, dass sie am Generationswechsel gescheitert sind.
Ich habe selbst keine Kinder – zu viele „gut katholische“ Psychopathen in der väterlichen Linie. Aber ich stelle mir vor, dass Eltern ihren Sprösslingen etwas von den Dingen vermitteln wollen, die sie bewegen – warum sonst haben sie Kinder?
Doch dann hört man in Deutschland immer wieder das Gejammer, dass die nächste Generation sich nicht mehr für Vorkriegsautos interessiere. Vielleicht liegt es am Mangel an einschlägiger Erziehung, meine Herren (und eher selten: Damen).
Die Jugend will verdorben werden, pflege ich zu sagen und stelle meine historischen Autos gern zu diesem Zweck zur Verfügung – hier etwa meinen Peugeot 202 Pickup:
Lächerliche Hinweise wie „Nicht berühren“ oder noch besser: „Nicht fotografieren“ gibt es bei mir nicht. Ein altes Auto, das über Jahrzehnte so viel erlebt hat, geht nicht kaputt, wenn jemand es anfasst oder sich hineinsetzt – im Gegenteil: ich animiere die Leute dazu.
Die nächste Generation will begeistert und im besten Sinn „verdorben“ werden, wenn das historische Automobil und die Leidenschaft für freie Fortbewegung oberhalb des Niveaus eines Lastenrads weiterleben soll.
So, nach dieser Vorrede kommen Sie jetzt in den Genuss des Dokuments, welches all das vollkommen illustriert, wie ich meine:
NAG um 1911; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Hier ist der Generationswechsel in Sachen Vorkriegswagen perfekt auf den Punkt gebracht. Der wiederum walrossbärtige Fahrlehrer auf der rechten Seite bringt der nächsten Generation an Automobilisten die Feinheiten des Kraftfahrzeugs am lebenden Objekt bei.
Dabei war das Anschauungsobjekt für die beiden jungen Herren links sehr wahrscheinlich ein Vorkriegsauto. Doch war es noch geeignet, der nächsten Generation die Grundfunktionen der pferdelosen Kutsche zu vermitteln.
Denn der mit „NAG“ gemarkte Motor mit von oben zugeführter Kühlflüssigkeit und offenbar vier Zündkabeln war um 1920, als diese Aufnahme wohl entstand, im damaligen Deutschland noch durchaus aktuell:
Den Wagen würde ich auf ca. 1911 datieren, doch der Jüngling mit dem offenen Hemd, der neben dem noch mit Vatermörder-Kragen ausstaffierten Kollegen steht, ist aus meiner Sicht ein Indiz für eine Entstehung der Aufnahme nach dem 1. Weltkrieg.
Zu Schulungszwecken der nächsten Generation war der Vorkriegs-NAG noch geeignet.
Bekanntlich hielt die deutsche Autoindustrie bis Mitte der 1920er Jahre überwiegend an Vorkriegstechnik fest – teils aus der Not geboren, teils aufgrund der arroganten Auffassung, dass traditionelle deutsche „Wertarbeit“ ohnehin konkurrenzlos sei.
Jedenfalls sehen wir hier, wie ein gelungener Wissenstransfer in Sachen Vorkriegsauto schon vor über 100 Jahren stattfinden konnte. Es bedarf dazu einer speziellen Mentalität, welche die nächste Generation – ohne diese zu fragen – erst einmal in die Lage versetzt, den Stand der Vorfahren zu erreichen, bevor sie sich davon loslöst und diese überflügelt.
So war das in Europa seit der Antike: Die nächste Generation gewinnt man durch Vorbild, Anschauung und eigene Erfahrung, auf der sich aufbauen lässt. Wer indessen das Desinteresse der Nachgeborenen beklagt, ist schlicht selbst schuld daran…
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Ende Juli 2024 – anstatt bis weit nach Mitternacht warme Sommernächte unterm Sternenzelt zu genießen, treibt einen der kühle Abendhauch schon früh ins Haus. In diesem Sommer scheint wirklich der Wurm zu sein – aber auch das gehört zum ewig wankelmütigen Wetter.
Lassen wir uns also nicht depressiv stimmen, auch wenn der von mir gewählte Titel in der Hinsicht nicht gerade förderlich erscheint. Schon gar nicht bezieht er sich auf meine aktuelle Befindlichkeit, denn weder bin ich einsam noch betrübt.
Zwar wuchert das Unkraut im Garten wie verrückt und es gibt einige ungeplante Arbeiten an Haus und Hof zu erledigen, doch alles liegt im Rahmen dessen, was man als Landbewohner in der hessischen Wetterau zu bewältigen gewohnt ist.
Nein, einsam in trüben Tagen stellt sich nur das Objekt meiner heutigen Betrachtung dar – welches die wundersame Eigenschaft besitzt, gleichzeitig auf die Stimmung zu drücken und diese zu erheben, wie wir noch sehen werden.
Das ist nebenbei auch eine Frage der inneren Verfasstheit und der Stimme, die sich beim Anblick des Gebäudes auf dem folgenden Foto zu Wort meldet:
NAG-Protos 14/70 PS Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Oje, das ist das Wagner-Festpielhaus in Bayreuth – gleich werden wir gewiss eine Eloge auf den wohl „umstrittensten“ deutschen Komponisten hören – schwere Kost steht auf dem Plan.
Ach was, Richard Wagner muss man weder als Gottseibeiuns fürchten noch als gottgleich in den Himmel heben. Dummerweise neigt man hierzulande tradtionell dazu, nur extreme Positionen einzunehmen und die jeweils gegenteilige zu verteufeln.
Während ich bereits als Schüler die musikalische Wunderwelt der deutschen Klassik, später auch des Barock entdeckte und mir selbst erarbeitete (eine Heranführung fand im Augustiner-Gymnasium zu Friedberg/Hessen leider nicht statt), wollte sich kein Interesse an Richard Wagners Werken einstellen.
Das hatte weniger mit den albernen Qualifizierungen durch Freund und Feind zu tun, denn mich hat von jeher nur die Wirkung der Musik auf mich interessiert. Nein, es war wohl der noch unzureichenden Vertrautheit mit der Welt der Oper geschuldet.
Die stellte sich im Laufe vieler Jahre erst nach und nach ein – über den „Umweg“ über die italienischen Meister von Monteverdi bis Puccini. Die Faszination für dieses Fach stellte sich bei mir ein, nachdem ich das Werk einer weiteren „Umstrittenen“ studiert hatte: Maria Callas.
Sie hatte weder eine technisch vollkommene noch besonders schöne Stimme, aber sie erlebte und erlitt die Rollen, die sie sang, wie wohl niemand sonst vor ihr und nach ihr. Ich begann zu verstehen, was es in der Welt der großen Stimmen noch zu entdecken gab.
An Wagners Opern kommt man dann irgendwann nicht mehr vorbei – vor allem wenn man einmal die einsam dastehenden historischen Interpretationen durch Meister ihres Fachs wie Lauritz Melchior und Kirsten Flagstaff aus er ersten Hälfte des 20. Jh. gehört hat.
Mit etwas Nachhilfe durch moderne Technik lassen sich selbst über 80 Jahre alte Aufzeichnungen dieser Wagner-Interpreten auf zutiefst bewegende Weise erleben (Plattentipp: Tristan & Isolde, New York 1941, Walhall Eternity Series, WLCD 0367).
Wem das immer noch unheimlich ist, weil Wagner zumindest schwierig oder sogar ein ganz schlimmer Charakter gewesen sein soll (obwohl er m.W. niemandem etwas getan hat), dem sei versichert: Von Wagner ist der Weg nicht weit zum Wagen, der einst einsam an einem trüben Tag vor dem Bayreuther Festspielhaus abgelichtet wurde:
NAG-Protos 14/70 PS Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Noch einmal davongekommmen, wird jetzt mancher denken.
Ich lasse Sie gern in dem Glauben, denn eines eint uns bei aller Verschiedenheit der Geschmäcker und Weltanschauungen: die Begeisterung für das Vorkriegsautomobil.
Im vorliegenden Fall haben wir es mit einer veritablen Rarität zu tun, auch wenn ich hier vor gar nicht langer Zeit eine Limousine auf derselben Basis präsentiert habe. Den Schlüssel zur Lösung lieferte die Gestaltung der Luftschlitze in der Motorhaube.
NAG-Protos 14/70 PS Limousinen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Zwar gab es einige weitere Fabrikate, die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ebenfalls horizontale Haubenschlitze bevorzugten (u.a. Stoewer), doch in genau dieser Ausführung findet man sie nur am Typ 14/70 PS der Berliner Manufaktur NAG-Protos.
Wer genau hinschaut, wird an dem in Bayreuth fotografierten Tourenwagen dieselben Elemente entdecken – auch die Form der Trittschutzbleche an der Schwellerpartie unterhalb der Türen und die Ausführung der Radkappe des Ersatzradsstimmen überein.
Was den Bayreuther NAG-Protos 14/70 PS mit seinem kraftvollen Sechszylindermotor (4 Liter Hubraum, im Zylinderkopf hängende Ventile) letztlich zu einem einsamen Vertreter seiner Art in trüben Tagen machte, das war die Ausführung als Tourenwagen.
Dieser traditionelle Aufbau war Ende der 1920er Jahre bereits sehr selten, erst recht bei einem so teuren Automobil wie dem NAG-Protos. Tatsächlich ist mir noch keine weitere Aufnahme begegnet, die einen Tourer dieses Typs zeigt.
Wann genau das rare Gefährt vor dem Bayreuther Festspielhaus abgelichtet wurde, ist mir nicht bekannt. Ob es noch am Ende der Weimarer Republik oder schon während der Diktatur der Nationalsozialisten war – waren es so oder so trübe Tage für so viele.
Doch damit will ich Sie noch nicht entlassen. Wenn Sie bislang keinen Zugang zu Richard Wagners Musik finden konnten, dann liegt das vielleicht nur an der Art des Einstiegs.
Bei mir war es ausgerechnet Placido Domingos Interpretation des „Lohengrin“. Domingo ist wahrlich kein typischer Wagnersänger, doch seine Legato-Technik kommt dem nahe, was Wagner selbst als Ideal betrachtete.
Es gibt eine schöne Zusammenstellung der wichtigsten Arien aus dem Lohengrin, die Domingo mit Jessye Norman und den Wiener Philharmonikern unter Georg Solti eingespielt hat (Decca, 1987). Gerade höre ich „In fernem Land“ daraus.
In meinem Fall hat’s dabei vor vielen Jahren „gefunkt“ und ich kann heute Wagner stundenlang rauf- und runterhören. Worum es dabei in den hochartifiziellen Texten geht und was sich der Meister dabei gedacht hat, ist mir dabei so egal wie im Fall geistlicher Musik – mir genügt vollkommen die Wirkung dieser Tonkunst an sich.
Sollten Sie gerade empfänglich für die Stimmung „Einsam in trüben Tagen“ sein, dann hören Sie mal hier hinein: Das ist die Interpretation der schwedischen Sopranistin Birgit Nilsson (1918-2005) aus den 1950er Jahren und ich wüsste bis heute keine, die mithalten kann:
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Bei der Suche nach einem griffigen Titel für meinen heutigen Ausflug ins Berlin der frühen 1930er Jahre haderte ich mit mir: Was war angemessener: „Mehr Schein als Sein„? oder doch eher „Mehr Sein als Schein„?
Ich muss zugeben: So klar mein Votum in Sachen Berlin heute ausfällt – wo ein Juwel wie das Pergamon-Museum wegen Bauarbeiten einfach auf viele Jahre schließt (nicht nur die Stuttgarter wissen, was daraus werden kann…) – so unentschieden bin ich, was das Fahrzeug angeht, was dort einst abgelichtet wurde:
NAG-Protos 14/70 PS Pullman-Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Eine nette Situation, die auch nach über 90 Jahren von der freundlichen jungen Dame lebt, mögen Sie jetzt denken.
Doch die dunkle Limousine, herrje, was mag das schon Besonderes gewesen sein? Irgendeiner der vielen Ami-Schlitten, die seit den späten 1920er Jahren das Straßenbild der Hauptstadt stark prägten…
Tatsächlich findet sich das einzige auffallende Element – die auf zwei Felder aufgeteilten waagerechten Entlüftungschlitze in der Motorhaube – bei dem einen oder anderen US-Modell jener Zeit, wie ich irgendwann beim Durchblättern des einschlägigen „Standard Catalog of American Cars“ von Kimes/Clarke nebenher registriert hatte.
Sehen Sie es mir nach, dass ich gerade keine Lust habe, das rund 1.600 Seiten starke Werk nochmals zu konsultieren, das selbst die Bemühungen der Briten bei der Dokumentation der heimischen Automobilfabrikation weit in den Schatten stellt.
Jedenfalls hatte sich der Hersteller dieses Gefährts an den damals führenden Gestaltungsprinzipien der amerikanischen Großserienhersteller orientiert. War „Mehr Schein als Sein“ das Resultat?
Nun, zumindest was die Dimensionen und die Motorisierung angeht, kann davon keine Rede sein. Ein Radstand von 3,40 Metern, eine Höhe von 2 Metern und ein 70 PS starker Sechszylindermotor mit im Kopf hängenden Ventilen – das war absolut konkurrenzfähig.
Wenn Sie sich fragen, wie ich diese Informationen aus dem eingangs gezeigten Foto herausgezogen habe, dann darf ich auf meine stetig wachsende Bilddokumentation von Marken und Typen der Vorkriegszeit in den Galerien meines Blogs verweisen.
Eine dreistellige Zahl von Herstellern aus Europa und Übersee sowie Dokumente im vierstelligen Bereich sind dort für jedermann zugänglich. Ich bin selbst einer der eifrigsten Besucher, denn ich kann längst nicht alles im Kopf behalten, was ich in den letzten knapp 10 Jahren vor die virtuelle Flinte bekommen habe.
So musste ich auch im vorliegenden Fall einen Moment suchen, bis ich beim Berliner Hersteller NAG fündig wurde, der unter der Marke NAG-Protos zwischen 1928 und 1930 diesen repräsentativen Wagen in Manufaktur fertigte:
NAG-Protos 14/70 PS Pullman-Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Über die vollkommene Übereinstimmung der beiden Fahrzeuge muss ich sie nicht belehren. Eventuell handelt es sich sogar um denselben Wagen, auch wenn zwischen dem Erwerb der Fotos mehrere Jahre liegen.
Nun verstehen wir auch, warum sich die Dame auf der eingangs gezeigten Aufnahme so zu dem mächtigen Wagen hingezogen fühlte, als sei es ihrer: „Mehr Schein als Sein“ – in diesem Fall ein sympathischer Reflex.
So konnte man es der buckligen Verwandschaft auf dem Lande einmal richtig zeigen, die außer dem Opel des Hausarztes kaum je ein Automobil zu Gesicht bekam.
Was haben wir aber von dem NAG-Protos selbst zu halten? Ich „weiß“ auch nur das Wenige, was in der Literatur zu der Marke zu lesen ist – etwa, dass darin eine kuriose halbautomatische Kupplung verbaut wurde, deren Nutzen zweifelhaft scheint.
In der Praxis zählte neben dem schönen Schein ohnehin etwas anderes – der Preis im Vergleich zu den damals dominierenden „Amerikanerwagen“. Und spätestens kommt man doch nicht umhin festzustellen: „Mehr Schein(e) als Sein„.
So waren für die Pullman-Limousine des NAG-Protos 14/70 PS atemberaubende 13.500 Reichsmark hinzublättern. Der amerikanische Buick 15/75 PS – ebenfalls mit 6-Zylindermotor (ohv) und wie der NAG-Protos mit mechanischen Bremsen – war als 6-Fenster-Limousine für 8.350 Mark zu bekommen, bot allerdings nicht so viel Platz.
Ob der Pullman-Aufschlag wirklich gerechtfertigt war, das könnten uns nur die Käufer von einst sagen. Sie kannten die US-Konkurrenz kannten und entschieden sich dennoch für den NAG-Protos.
Speziell für Käufer mit anatomisch bedingt erhöhtem Platzbedarf lautete das Fazit wohl am Ende doch ganz praktisch „Mehr Sein als Schein“ und der NAG machte das Rennen…
NAG-Protos 14/70 PS Pullman-Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
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Gefühlt ist es noch gar nicht so lange er, dass ich hier eine meisterhafte Ausführung des NAG C4 10/30 PS-Modells vorgestellt habe, welches Anfang der 1920er Jahre eines der meistgebauten deutschen Automobile war.
Doch gerade stellte ich fest, dass seither schon wieder mehr als zweieinhalb Jahre ins Land gezogen sind. Höchste Zeit also, daran anzuknüpfen, bevor wir 2023 würdevoll verabschieden (der Fund des Jahres steht an…).
Seinerzeit hielt ich dieses von Ernst Neumann-Neander – dem Jugendstil-Künstler und bedeutenden Automobil-„Influencer“ – entworfene Prachtexemplar für ein Einzelstück:
NAG C4 Sport-Tourer mit Karosserie nach Entwurf von E. Neumann-Neander; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Während die Frontpartie mit dem unverwechselbaren spitz zulaufenden Ovalkühler weitgehend mit der Serienausführung übereinstimmt, folgt darauf ein außergewöhnlich niedriger Passagierraum mit extrem flacher und geneigter Frontscheibe, winzigen Türen und knapp oberhalb der Heckkotflügel angesetztem Minimalverdeck.
Bemerkenswert sind auch die Staukästen auf dem Trittbrett und die „Aufsteighilfe“ am Ende.
Wie radikal anders dieser Aufbau war, das erschließt sich einem, wenn man sich die Standardausführung betrachtet. Praktischerweise habe ich vor kurzem wieder eine „neue“ Aufnahme davon aufgetrieben – und jetzt kann ich sie sinnvoll verwerten:
NAG C4 Tourer mit Standard-Karosserie; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Diesen Aufbau mit hoher Seitenlinie und schön gewölbter „Tulpenkarosserie“ findet man vor allem in der Anfangszeit der Produktion des 1920 eingeführten Vierzylindermodells C4 10/30 PS der altehrwürdigen Berliner NAG.
Jetzt könnte einer sagen: „Schön und gut, aber woran soll man hier eigentlich erkennen, dass auch das ein NAG dieses Typs ist?“
Nun kann ich nicht erwarten, dass alle meine aktuellen Leser von Anfang an mit dabei sind oder wissen, dass ich dieses Modell bereits dutzendfach in meiner NAG-Galerie dokumentiert habe – nebenbei die wohl größte frei zugängliche ihrer Art überhaupt.
Also werfen wir einen kurzen Blick auf die Kühlerpartie, denn die ist wie fast immer bei Automobilen jener Zeit entscheidend:
Zugegeben: Man muss schon eine Weile hinschauen und die Linien der einzelnen Bauteile auseinanderhalten. Achten Sie darauf, wie sich die Kurve des Kühlerausschnitts unterhalb des rechten Kotflügels fortsetzt – sie lässt sich gedanklich zu einem Oval ergänzen.
Schwieriger zu erkennen ist der senkrechte Verlauf der spitz zulaufenden Vorderkante des Kühlers – Sie können die oben kaum wahrnehmbare Linie am unteren Ende des rechten Scheinwerfers wieder aufnehmen.
Beides zusammen findet sich so nur beim NAG C4 10/3 PS, während der bisweilen ähnlich wirkende Kühler der D-Typen von Stoewer erstens keinen ovalen Ausschnitt aufweist und zweitens an der Vorderkante stets leicht geneigt ist.
Zur Identifikation als NAG C4 passt auch die Gestaltung der Stahlspeichenräder mit fünf Radbolzen und sechskantiger Nabenkappe.
Praktisch keinerlei Hinweise auf Hersteller und Typ liefert dagegen der übrige Aufbau – solche Karosserien waren im deutschen Sprachraum nach dem 1. Weltkrieg bei vielen Automarken gang und gebe:
Nur wenn man schon eine Vermutung in der Richtung hätte, könnte man den Wagen auch anhand dieses Bildausschnitts sicher als NAG C4 identifizieren – das ermöglichen Vergleiche der Partie rund um die vordere Blattfederaufnahme der Hinterachse.
Wenn Sie mögen, können Sie das einmal selbst anhand der einschlägigen Fotos in meiner NAG-Galerie versuchen – Sie werden sehen, dass es machbar ist. Ich nutze zuverlässig eingeordnete Aufnahmen in meinen Galerien selbst öfter als Referenz als die bei vielen deutschen Modellen der 1920er Jahre karge Literatur.
Nun aber genug von solchen Dingen – wollte ich nicht am Neanderschen Meisterentwurf auf Basis des NAG C4 anknüpfen? Genau das war das Ziel und möglich gemacht hat es mir wie so oft ein Leser mit formidabler Sammlung und großem Gespür für Qualität – Klaas Dierks.
Ich weiß, dass er es nicht nötig hat, so erwähnt zu werden, aber es gilt nun einmal: Ehre, wem Ehre gebührt. Und alle Leser sollen wissen: Wer sich mit Fotos aus der eigenen Sammlung beteiligt, wird selbstverständlich gewürdigt – es sei denn, er möchte das nicht.
Gerne gebe ich zu, dass dieses herrliche Dokument die Aufnahme mühelos übertrifft, mit der ich seinerzeit in Vorlage gegangen war:
Die Persönlichkeiten am neben und im NAG schaffen es, die außerordentlichen Qualitäten des Wagens in den Hintergrund rücken zu lassen.
Erneut ist etwas Konzentration auf die Linienführung erforderlich. Am besten orientiert man sich an der Seitenlinie von der Frontscheibe bis zum Heck – wieder sehr niedrig ausgeführt mit kleinen Türen und knapp über dem Kotflügel angbrachten Verdeck.
Auch den monumentalen Staukasten und die Aufstiegshilfe an dessen Ende findet man hier. Abweichende Details wie die der Schonung des Lacks dienenden durchbrochenen Bleche unterhalb der Tür und auf der Oberseite der Tür ändern nichts am Befund:
Auch dass muss ein Sport-Tourer nach Entwurf von Ernst Neumann-Neander sein!
Die Frontpartie macht es allerdings diesmal schwerer, sie dem Typ C4 10/30 zuzuordnen:
Auf dem Originalfoto kann man vermutlich unter der Lupe das markante NAG-Emblem auf der Nabenkappe erkennen – auf diesem Ausschnitt ahnt man bestenfalls etwas in der Richtung. Die Kühlerpartie liefert ebenfalls nur eine Indikation, aber vermutlich wäre man auch hier auf den NAG C4 als wahrscheinlichsten Kandidaten gekommen.
Man sieht an diesem Beispiel, wie wichtig jedes Foto auch von exotischen Ausführungen ein und desselben Modells sein kann – jedes kann prinzipiell einen Hinweis auf die Ansprache anderer Fahrzeuge geben. In diesem Fall ist es der Spezialaufbau als Sport-Tourer.
Ob der sich ähnlich auf anderen deutschen Fabrikaten jener Zeit fand, ist mir nicht bekannt. Vielleicht weiß jemand mehr und hat sogar die passende Abbildung dazu.
Ausschließen kann man auf dem Sektor gar nichts, auch das trägt zum schier unerschöpflichen Reiz des Reichs der Vorkriegsautos bei.
Dieser speist sich aber oft auch aus dem menschlichen Element und das Foto von Klaas Dierks zeigt das ideal anhand dieser meisterhaften Inszenierung:
Viel mehr kann man sich nicht wünschen, wenn man solche Autoporträts der Vorkriegszeit liebt. Über jeder diese Personen ließen sich endlose Betrachtungen anstellen, doch die erspare ich Ihnen heute.
Studieren Sie einfach die Gesichter, stellen Mutmaßungen über Verwandschaftsverhältnisse und sonstige Beziehungen oder gar Charakterzüge an. Vielleicht findet jemand sogar heraus, wer hier zu sehen ist.
Die junge Dame mit dem wunderbar lockenumrahmten Gesicht wirkt nämlich auf mich dermaßen perfekt zurechtgemacht, dass sie eine bekannte Schauspielerin, Tänzerin oder Sängerin ihrer Zeit gewesen sein könnte.
Leider ist auf dem Foto dazu nichts Näheres überliefert, nur dieses: „Rhöndorf 1926“. Jetzt sind Sie an der Reihe, wenn Sie mögen. Ich schalte alle Kommentare frei, sofern sie kein blühender Unsinn sind (für den bin ich selbst zuständig).
Nach diesem neuerlichen Meisterstück gehe jetzt noch eine Viertelstunde vor die Tür, schaue ein wenig sehnsüchtig nach dem Vollmond und mache mir Gedanken über den Kandidaten für den Fund des Jahres…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Der Fund des Monats November fiel für mich anfänglich fast ein wenig enttäuschend aus. Denn weder konnte ich mit einem Foto aus meinem eigenen Fundus aufwarten, noch vermoche ich Wesentliches zur Identifikation des darauf abgebildeten Wagens beitragen.
So schien es mir jedenfalls auf den ersten Blick zu sein.
Dennoch bin ich sicher, dass Sie – liebe Leser – ganz auf Ihre Kosten kommen. Das gilt vor allem, wenn Ihnen der Sinn nicht nur nach Nischenfabrikaten steht, sondern auch gelungene Aufbauten Ihr Herz erfreuen – und es gern ein wenig rätselhaft sein darf.
Diese ideale Kombination kann ich jedenfalls heute anbieten, und ich wüsste wirklich nichts daran auszusetzen, wäre da nicht der Makel, dass ich mich (fast) komplett mit fremden Federn schmücke. Doch das werden Sie mir in diesem Fall verzeihen:
Hansa-Lloyd „Trumpf-Aß“ von 1927 ((angeblich); Foto aus dem Borgward Archiv; Originalabzug aus Sammlung Jörg Pielmann
Ein zweitüriges Cabriolet mit hinreißender Linienführung ist das zweifellos. Ich hätte es aus stilistischer Perspektive auf ca. 1930 datiert, doch worum es sich genau handelt, das wäre mir vermutlich verborgen geblieben.
Ins Auge fällt unabhängig davon das ungewöhnlich niedrige Chassis, welches auf eine „Underslung“-Konstruktion hindeutet. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass die blattgefederten Achsen nicht unterhalb des Leiterrahmens angebracht sind, sondern darüber. Der Rahmen ist also unter der Achse entlanggeführt, was einen wesentlich niedrigeren Schwerpunkt und damit bessere Straßenlage ermöglicht.
Diese Lösung wurde bereits weit vor dem 1. Weltkrieg ersonnen – das US-Fabrikat „American Underslung“ trug den Hinweis sogar im Namen. Doch kam so etwas letztlich nur für sportliche Fahrzeuge in Betracht, die sich nicht auf den meist noch kaum befestigten und unebenen Straßen im Alltag bewähren mussten.
Doch zum Posieren in der Großstadt und bei einschlägigen Schönheitskonkurrenzen eignete sich dieses Konzept vorzüglich.
Die elegante Erscheinung des oben gezeigten Wagens ist natürlich auch der außergewöhnlich langen Motorhaube geschuldet, die auf einen Reihensechser oder gar ein Achtyzlinderaggregat schließen lässt; beide bauten wesentlich länger als ein Vierzylindermotor, zumindest wenn sie auch einen größeren Hubraum besaßen.
Aber was ist das denn jetzt für ein Fahrzeug, werden Sie wissen wollen?
Nun, zwar kam mir die Form ein wenig vertraut vor, doch wäre ich nicht auf das gekommen, was auf der Rückseite des Originalabzugs steht, welcher sich in der Sammlung von Leser Jörg Pielmann befindet:
Demnach handelte es sich bei dem schicken Zweitüren-Cabrio um das Achtzylindermodell „Trumpf-Aß“ aus dem Hause Hansa-Lloyd, Baujahr 1927.
Tatsächlich baute der norddeutsche Traditionshersteller ab 1926 in kleinen Stückzahlen auch Achtzylinderwagen mit satten 100 PS Höchstleistung – anfänglich mit 4,6 Litern Hubraum, ab 1927 dann mit 5,2 Litern.
Das waren auch technisch beeindruckende Konstruktionen mit hochfeinem Ventiltrieb über im Zylinderkopf liegende Nockenwelle, getrieben wiederum von einer Königswelle.
Nüchtern veranlagte Zeitgenossen werden sich freilich von solchem Vokabular nicht ablenken lassen. „Stand auf dem Abzug nicht etwas von 7 Litern Hubraum?“ werden Skeptiker stattdessen fragen.
Vollkommen richtig und als ebenfalls keinen vermeintlichen Autoritäten hörige Person machte mich das ebenso stutzig wie die für mich unplausible Jahresangabe 1927.
Konnte man dem Vermerk vielleicht auch in sonstiger Hinsicht nicht trauen?
Werfen wir nochmals einen Blick auf die Vorderpartie des Wagens und prägen uns das Erscheinungsbild der Motorhaube mit den Proportionen der Luftschlitze und der Position des hinteren Haubenhalters ebenso ein wie die Gestaltung des Kühlwasserdeckels:
Und noch etwas: Die Ausführung der Räder mit dem sechseckigen Emblem auf den Nabenkappen behalten wir ebenfalls im Hinterkopf.
Solchermaßen präpariert wenden wir uns nun einem Foto aus meiner Sammlung vor, das ich schon einmal präsentiert habe – es zeigt einen NAG-Protos des Typs 16/80 PS (Bauzeit: 1930-33) in der besonders begehrten Ausführung als Sport-Cabriolet.
Hier haben wir das Prachtwück auf einem originalen Pressefoto:
NAG-Protos 16/80 PS Sport-Cabriolet (Typ 208), Bauzeit: 1930-33, originales Pressefoto von 1930 aus Sammlung Michael Schlenger
Meinen Sie nicht auch, dass die Gestaltung von Haubenpartie, Vorderkotflügel und Kühlwasserdeckel vollkommen übereinstimmen?
Gut, die Radkappen weichen ab, handelt es sich doch hier um Drahtspeichenräder mit Zentralverschlussmutter statt Radbolzen. Aber das sechseckige Logo, das auf den Nabenkappen des angeblichen Hansa zu sehen ist, findet sich hier unterhalb des Motorhaubenhalters.
Kann das ein Zufall sein? Ich halte das für sehr unwahrscheinlich, auch wenn der „Hansa“ auf dem Foto von Jörg Pielmann am Heck anders gestaltet ist als das Sport-Cabrio von NAG-Protos.
Denkbar wäre zwar, dass der Hansa vom selben Karosseriebauer eingekleidet wurde wie der NAG-Protos. Aber wenn ich es richtig verstehe, war der Aufbau als Sport-Cabriolet ein Werksfabrikat des Herstellers selbst.
Außerdem halte ich es für unglaubwürdig, dass die markante Gestaltung des Deckels für den Kühlwassereinfüllstutzen (wohlgemerkt: keine Kühlerfigur) bei zwei Herstellern identisch sein sollte, die nichts miteinander zu tun haben.
Sie sehen: Am Ende habe ich doch etwas Eigenes beizusteuern zu diesem Fund des Monats. Natürlich mag ich falsch liegen mit meiner These, dass der vermeintliche Hansa ein Wahrheit ein NAG-Protos war und bloß das Foto falsch beschriftet wurde.
Doch jetzt sind Sie an der Reihe, liebe Leser, denn dass Sie diese schönen Dinge einfach nur so genießen dürfen, das kann ich nicht immer gewährleisten.
Manchmal kommt man der Lösung nur im sportlichen Meinungsaustausch näher und dass wir es hier mit einem ganz besonderen Sport(objekt) zu tun haben, daran kann kein Zweifel bestehen…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Heute darf ich von einer idealen Verbindung berichten – und das in mehrfacher Hinsicht.
An erster Stelle zu nennen wäre die Verbindung zu meinen Lesern, die deshalb ideal ist, weil sich so viele angesprochen fühlen und mir interessante eigene Fotos und Dokumente zu Vorkriegswagen in digitaler Form zusenden – mitunter sogar im Original!
So gelange ich an weiteres Material, das zu besprechen sich lohnt und an das ich vielen Fällen gar nicht kommen würde. Umgekehrt können die Einsender im besten Fall erwarten, dass ich das gezeigte Fahrzeug identifizieren kann oder zumindest eine angemessene Besprechung zustandebekomme (wenngleich oft mit Verzögerung).
Beim heutigen Beispiel ist die Verbindung auch deshalb ideal, weil Mensch und Maschine gleichermaßen dabei eine Rolle spielen – nur selten begeistern reine Autofotos ohne belebendes Element.
Regelmäßig erweist sich zudem die Möglichkeit zur Verbindung mit anderen, bereits vorgestellten Dokumenten als ideal – denn so kann auch der Leser sein Auge schulen und meine Herleitungen nachvollziehen bzw. kritisch begleiten.
Nun aber zur Sache – wer würde jetzt nicht gern sehen, wie sich so eine ideale Verbindung präsentiert? Nun, vielleicht auf den ersten Blick überraschend:
NAG 10/45 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Privatbesitz (via Guido Riemer)
Das ist eine sehr schöne Aufnahme, auf der es so sehr menschelt, dass das Auto zunächst nur eine Statistenrolle spielt. Doch Geduld, wir kommen noch dazu.
Normalerweise hätte dieses Zeitzeugnis seinen Weg niemals in meinen Blog und damit auf Ihre Bildschirme gefunden, liebe Leser. Doch stellte einer von Ihnen die Verbindung zum Besitzer des Originals her – sein Name ist Guido Riemer (aus Goslar).
Als er vor einiger Zeit einen alten Freund besuchte, zeigte ihm dieser ein Fotoalbum, das Aufnahmen der Studentenverbindung enthält, der er einst selbst beigetreten war. Obige Aufnahme mit dem mächtigen Tourenwagen weckte sein besonderes Interesse.
„Könnte man doch jemanden finden, der das Auto identifizieren und uns damit sagen kann, wann das Foto in etwa entstanden sein dürfte!“ – „Du wirst es kaum glauben, mein Lieber, aber das lässt sich einrichten – ich habe die ideale Verbindung dazu!„
So könnte der Dialog der beiden beim Betrachten des Dokuments abgelaufen sein. Jedenfalls bekam Guido Riemer von seinem Freund das Foto in digitaler Form anvertraut, woraufhin er es mir mit einer sehr freundlichen Nachricht verbunden zusandte.
Im ersten Moment dachte ich zwar, dass dies ein hoffnungsloser Fall sein dürfte, zumal das Foto noch nicht in der Qualität vorlag, wie im heutigen Blog-Eintrag.
Wie soll man so einen typischen Tourer von etwa Mitte der 1920er Jahre ansprechen können, wenn die Frontpartie nicht zu sehen ist?
Doch während mein Bewusstsein sich noch vordergründig mit diesen Zweifeln befasste, stellten die davon unbelasteten Synapsen im Hintergrund von allein die Verbindung her zu etwas, was ich schon öfters gesehen hatte, ohne dass ich gleich darauf gekommen wäre.
Dazu genügte die Wiedererkennung der Charakteristika des folgenden kleinen Ausschnitts:
Lassen Sie uns die Eigenheiten gemeinsam durchgehen, also: was fällt hier als markant auf?
Nun, da wäre zunächst der tiefe Ausschnitt der vorderen Tür – ungewöhnlich für einen Tourenwagen, wo die Seitenlinie ab der Windschutzscheibe meist recht gerade verlief. Eigenwillig ist dabei auch der geknickte Verlauf der vorderen Türkante am oberen Ende.
Dann das gelochte Blech an der Schwellerpartie zwischen Aufbau und Trittbrett. Zwar ist es nicht sonderlich individuell, aber es gab eben auch andere Ausführungen dieses Elements, das den Lack vor Beschädigungen mit den Schuhen beim Einsteigen schützte.
Als Drittes zu nennen ist die kegelförmige, am Ende mit einem Hebel versehene Schraube, welche das Reserverad an der seitlichen Halterung fixiert. Auch das findet man für sich genommen an diversen Fabrikaten, doch ist es die Kombination solcher gestalterischen Details, die letztlich zu einem typischen Resultat führt, das sich wiedererkennen lässt.
Genau diese Denksportaufgabe – an welchem Wagen findet sich die identische Kombination der erwähnten Elemente? – übernahmen meine grauen Zellen und präsentierten dann binnen weniger Sekunden im bewussten Teil meines Gehirns das Ergebnis.
Ohne weiter überlegen zu müssen, begab ich mich in meinen Fundus an eingescannten Fotos und fischte dort treffsicher diese Aufnahme heraus, obwohl ich diese noch nie besprochen hatte – ich hatte sie nur beiläufig als Material für die Zukunft registriert:
NAG 10/45 PS Tourenwagen; Originalfoto: René Liebers
Auch dieses sehr gelungene und gut erhaltene Foto verdanke ich einem Leser (René Liebers)- nicht umsonst nannte ich oben diese wechselseitige Verbindung ideal.
Muss ich jetzt noch auf die vollkommene Übereinstimmung der beschriebenen Elemente hinweisen? Können Sie die Verbindung von allein herstellen? Ideal!
Das Fehlen des Ersatzrads betont hier sogar noch die sonst so unscheinbare Schraube zu dessen Befestigung, offenbar hatte man nach einer Reifenpanne den defekten Pneu zur Aufarbeitung gegeben.
Interessanter ist ohnehin die beeindruckende Frontpartie, welche nun die genaue Identifikation des Wagens als NAG des 1924 eingeführten Typs D10/45 PS erlaubt. Einige Exemplare dieses technisch zwar konventionellen, aber makellos konstruierten Fahrzeugs habe ich vor über einem Jahr hier präsentiert.
Sie müssen aber nicht unbedingt dorthin springen, um meine Ansprache des Autos nachvollziehen zu können. Wenn Sie nämlich immer noch Zweifel hegen – eine mir grunsätzlich sympathische Eigenschaft – ob ich richtig liege, dann kann ich diese leichterhand mit folgender Abbildung zerstreuen:
NAG 10/45 PS Tourenwagen; Abbildung aus: Joachim Fischer, Handbuch vom Auto, 1927
Mehr Evidenz kann man sich kaum wünschen, oder? Hier ist die Verbindung zwischen fotografierter Realität und präzise beschriebener Werksabbildung ideal gelungen, meine ich.
Nur der Vollständigkeit halber sei vermerkt, dass es den NAG-typischen Spitzkühler in Wagenfarbe lackiert oder glänzend vernickelt gab. Auch war der Wagen mit Motorisierung 12/60 PS verfügbar, wobei ich nicht weiß, ob man dies auch von außen erkennen konnte.
Hier sind sie in überwiegend gelöster Stimmung wiedergegeben, schöne Charakterstudien könnte man als Hobby-Physiognomiker nun betreiben, doch das lassen wir heute sein:
Nun wäre es für meinen Geschmack ein wenig langweilig, wenn nur Herren zu sehen wären. Doch durch die Anwesenheit einer jungen Dame ist auch diese Verbindung von männlichen und weiblichen Elementen ideal – womit nicht das Zahlenverhältnis gemeint ist.
Ideal ist diese Verbindung HANSEA auch aufgrund ihres Grundsatzes zu nennen, dass sie ausdrücklich auf Männer mit guten Manieren, Höflichkeit und Anstand abzielt.
Ich habe keinen Zweifel, dass die Herren darüber grundsätzlich verfügten, doch sorgt die Anwesenheit einer Frau zumindest im Abendland traditionell dafür, dass sich die Herren noch mehr um gutes Benehmen bemühen, meistens jedenfalls.
Auch die übrigen Grundsätze der Verbindung HANSEA erscheinen mir ideal. Besonders gilt das hierfür: „Menschen mit Toleranz gegenüber anderen Kulturen – und mit einem guten Verhältnis zu unserem deutschen Vaterland“ – eine fast aus der Zeit gefallene Formulierung, die doch in jedem anderen Land der westlichen Welt universell anschlussfähig ist.
Die Verbindung aus Pflege eigener positiver Traditionen und Aufgeschlossenheit für das Neue, Andersartige – so es denn einen Fortschritt mit sich bringt – diese Verbindung erscheint mir ideal, und das keineswegs nur in Bezug auf das Automobil.
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Wem der Titel meiner heutigen Bildergeschichte ein wenig abenteuerlich erscheint – „Durch’s wilde Kurdistan“ von Karl May lässt grüßen – liegt ganz richtig.
Denn was ich heute präsentiere, ist das Dokument eines geradezu unglaublichen Abenteuers, doch im Unterschied zu Karl May musste ich nichts dazudichten.
Die besten Geschichten schreibt ohnehin das Leben, vor allem wenn man Fortuna walten lässt. Was mir der Zufall diesmal zugespielt hat, daran will ich Sie gern teilhaben lassen.
Kürzlich erwarb ich wieder einmal einen Stapel alter Autofotos für einen überschaubaren Betrag – der eigentliche Preis für solche Schnäppchen ist der, dass man erst einmal nicht genau weiß, was sich auf den meist verblichenenen oder unscharfen Bildern verbirgt.
Bei der ersten Durchsicht blieb mein Blick kurz an diesem vergilbten Abzug hängen – naja, dachte ich, vermutlich ein schwer identifizierbares frühes Mobil irgendwo in Südeuropa:
NAG „Puck“ bei Todi (Umbrien); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Eigentlich wollte ich mich erst später damit beschäftigen, doch die Silhouette der Stadt im Hintergrund interessierte mich aus irgendeinem Grund.
Also tat ich, was ich auch sonst in solchen Fällen tue – ohne dass Sie das mitbekommen: Ich stellte die Bilddatei auf „Schwarzweiß“ um, erhöhte den Kontrast, entfernte einige störende Flecken und Kratzer.
Und auf einmal sah das Ganze schon vielversprechender aus:
Zwar kann man von dem Wagen noch nicht allzuviel erkennen, doch immerhin ist jetzt zu ahnen, dass er ein deutsches Kennzeichen trägt.
Noch war mir nicht bewusst, wo der Wagen aufgenommen worden war, doch war schon an dieser Stelle klar – da waren deutsche Reisende vor 1910 irgendwo im Süden unterwegs!
Da mir dieser Drang prinzipiell sympathisch ist, zumal er heute ohne die meist rein destruktiven Eroberungsgelüste unserer germanischen Vorfahren daherkommt, war ich elektrisiert. Was war das für ein Wagen und wo war er unterwegs?
Also schaute ich genauer hin und plötzlich sah ich den runden Kühlerausschnitt und (wenn ich mich nicht irre) die Kennung „IA“ für Berlin – das muss ein NAG sein!
Der Wagen besitzt zwar einen Tourenwagenaufbau für vier bis fünf Personen – anfangs noch als Doppel-Phaeton bezeichnet – dennoch sind seine Abmessungen sehr kompakt.
Im Programm der Berliner NAG gab es aber neben den beeindruckenden mittleren und großen Typen, die damals zur deutschen Spitzenklasse gehörten, tatsächlich auch ein solches Kleinauto – den NAG „Puck“.
Dieser 1908 eingeführte Wagen ist auf der folgenden Originalreklame zu sehen:
NAG 6/12 PS „Puck“; Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger
Der Vorteil des Drucks liegt darin, dass er den Blick für’s Wesentliche schärft, auch wenn die zugrundeliegenden Zeichnungen selten in allen Details präzise waren.
NAG-typisch war bis zum Ende des 1. Weltkriegs der runde Kühlerausschnitt – er ist also weder baujahrs- noch modellspezifisch, erlaubt aber in der vorliegenden Form schon einmal die Ansprache der Marke.
Einprägen sollte man sich die Ausführung der Vorderkotflügel – eher dünn, nach hinten breiter werdend und nahezu rechtwinklig an das Trittbrett anschließend. Auch die weit auskragenden, nur wenig gebogenen vorderen Rahmenausleger kann man sich merken.
Dann wäre da noch die kurze Motorhaube und der im Vergleich zum Lenkrad sehr kompakte Vorderwagen, was für ein kleines Modell spricht.
Haben Sie noch alles parat? Dann schauen wir jetzt, so ein NAG „Puck“ in der Realität aussah:
NAG 6/12 PS „Puck“; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Erkennen Sie die Übereinstimmungen, auch wenn allerlei Accessories und die Insassen natürlich für ein anderes Gesamtbild sorgen?
Jetzt stellen Sie sich nur noch vor, dass auf der Fahrerseite zwei Reservereifen in einer gemeinsamen Hülle mitgeführt wurden und außerdem auf dem Trittbrett der Beifahrerseite ein Gepäckkoffer angebracht war – denn einen Kofferraum gab es damals ja noch nicht.
Mit diesen Extras versehen war nämlich der NAG „Puck“ auf meinem Foto:
Sind Sie einverstanden mit der Identifikation dieses Wagens als NAG „Puck“?
Ich unterstelle, dass ich hier richtig liege. Nun kann es an die noch spannendere Frage gehen, wo dieser NAG unterwegs war, als er auf Fotoplatte verewigt wurde.
Die Antwort fällt sensationell aus, wenn man bedenkt, dass der NAG „Puck“ einen 1,6 Liter-Vierzylindermotor besaß, der gerade einmal 12 PS Spitzenleistung abwarf.
Tatsächlich ist dieser Wagen einst über die Alpen nach Italien gefahren, was an sich schon ein Abenteuer der besonderen Art war. Doch haben es die Insassen nicht dabei bewenden lassen, die Großstädte Oberitaliens Turin, Mailand und Bologna zu besuchen.
Nein, liebe Leser, diesen Leuten stand der Sinn nach etwas anderem.
Wir kennen die genaue Route nicht, doch vermutlich sind sie über Florenz weiter südlich in die Toscana vorgestoßen, sind dann am Trasimenischen See vorbei nach Osten abgedreht in Richtung Perugia, der Hauptstadt der angrenzenden Region Umbrien.
Von dort muss es dann durch das mittlere Tibertal weiter nach Süden gegangen sein – vielleicht war Rom das Ziel. Ein Halt auf dem langen Weg dorthin ist dokumentiert, nämlich auf dem Foto, das ich heute vorgestellt habe.
Darauf fiel mir links am Rand etwas auf, das wie eine Vision der venezianischen Kirche Santa Maria della Salute im flimmernden Licht am Horizont zu schweben schien:
Als ich das sah, war ich mit einem Mal 30 Jahre jünger! Damals fuhr ich zum ersten Mal nach Umbrien. Ich war Student und hatte in den Semesterferien eine hübsche Summe verdient.
Eine Woche war ich mit Bahn und Bus in der Valle Umbra zwischen Spoleto und Assisi unterwegs; eine Woche lang gönnte ich mir einen Mietwagen (Ford Escort) für die entlegeneren Höhepunkte dieser für mich schönsten Region Italiens.
Den Namen der mir so bekannt vorkommenden Kirche hatte ich nach dieser langen Zeit natürlich nicht mehr parat – Santa Maria della Consolazione heißt sie.
Doch eines wusste ich plötzlich wieder: Das ist in Todi!
Kurios, dass diese Aufnahme an fast derselben Stelle entstand wie einst das Foto mit dem NAG „Puck“, nämlich an der südlich stadtauswärts führenden SS79Bis „Via Angelo Cortesi“ kurz vor der scharf nach Osten drehenden Kurve.
Wie so oft in Umbrien hat sich das Stadtbild in mehr als 100 Jahren kaum verändert. Es wird mit hierzulande kaum vorstellbarem Stolz gepflegt und mit authentischen Baumaterialien und -techniken bis ins Detail erhalten.
Wie bei allen umbrischen Hügelstädten haben wir es mit Siedlungen zu tun, die seit mindestens 2.500 Jahren existieren und schon Stadtcharakter hatten, lange bevor die Römer Italien unter ihre Herrschaft brachten.
Diese noch heute erlebbare kulturelle Kontinuität, welche auch die Nutzung der Landschaft umfasst, ist phänomenal und auch in Italien in dieser Breite wohl einzigartig.
In Deutschland sagt Umbrien dennoch bis heute nur wenigen etwas, allenfalls von der Pilgerstadt Assisi hat man schon einmal gehört. Doch anstatt ebendort durch die Valle Umbra zu fahren, entschieden sich die Insassen des NAG „Puck“ einst, dem westlich davon gelegenen Tibertal nach Süden zu folgen.
Dabei kamen Sie an Todi vorbei und waren offenbar gebannt von dem Stadtbild, obwohl es in Umbrien noch weit grandiosere gibt. Diese Leute müssen jedenfalls Kenner des Besonderen und mit einem Hang zum Abenteuer ausgestattet gewesen sein.
Mit 12 PS von Berlin nach Todi – allein das waren schon 1.500 Kilometer auf oft nur mäßig befestigten Straßen. So etwas machte man auch dann nicht nebenher, wenn man sehr gut situiert war, wie dies bei allen frühen Automobilisten zwangsläufig der Fall war.
So gehört heute meine Sympathie wieder einmal den Pionieren des Autowanderns im Süden. Und weil mir gerade der Sinn danach steht, werde ich es ihnen für ein gute Woche nachtun – mit mehr als 12 PS, aber derselben Leidenschaft und natürlich: in Umbrien!
Nach meiner Rückkehr geht es weiter im Blog, es gibt ja so viel zu erzählen. Sollte Ihnen unterdessen langweilig werden, unternehmen Sie doch mal einen Spaziergang durch Todi…
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Elektromobilität kann eine tolle Sache sein – das weiß ich sogar aus eigener Erfahrung.
Gerade heute war ich mit meiner Akku-„Vespa“ in meinem Heimatstädtchen Bad Nauheim unterwegs. Man ist wieselflink als erster von der Ampel weg, während mancher Autofahrer noch nach dem Gang sucht, sofern er überhaupt schon bemerkt hat, dass „grün“ ist.
Im Akkufach unter der Sitzbank ist Platz für zwei tragbare Batterien, die zusammen für 80 km/h Reichweite gut sind. Meist habe ich nur eine installiert, der Platz daneben reicht, um kleine Einkäufe und Postsendungen unterzubringen.
Die Leute mögen das Teil, sieht es doch fast so aus wie eine klassische Vespa von Piaggio aus den 1960er Jahren. Der Chinamann macht’s möglich – und einige Umbauten von eigener Hand.
„Vespa“ und „50 Special“ steht am Heck, was passt, denn knapp 50 Sachen schafft das Teil, das mit Moped-Kennzeichen unschlagbar günstig im Unterhalt ist.
Die wohlgeformte Karosserie ist aus Kunststoff – somit leicht und billig. Bloß die Akkus gehen ins Geld – 1.500 EUR waren dafür zu berappen, mehr als für den Roller selbst, der ein achtbares Fachwerk, passable Reifen und zupackende Scheibenbremsen besitzt.
Das Beste aber ist: Ich habe das Gerät zu 100 % selbst bezahlt! Dagegen mit dem Geld anderer Steuerzahler sich ein Elektrofahrzeug sponsern lassen – das ist das Gegenteil von sozial, wenn Sie wissen, was ich meine.
Dies als Vorrede für den Fall, dass einer meint, ich sei ein notorischer Verbrenner-Fanatiker. Das stimmt zwar, ist aber nur die halbe Wahrheit. Auch bei meinen Scalextric-Rennautos schwöre ich auf Elektrovortrieb…
Es kommt aber noch besser: Ich liebe die Ästhetik von Elektrowagen! „Nun ist auch er zur „Alles-mit-Strom“-Sekte übergelaufen„, mögen Sie jetzt denken.
Tatsächlich, aber unter einer Bedingung – jetzt können Sie aufatmen – es muss ein Vorkriegsmodell sein! Denn das sieht doch einfach umwerfend gut aus, oder?
NAG-Elektrowagen um 1910; originale Postkarte aus Sammlung Stefan Rothe
Dieses Dokument verdanke ich Stefan Rothe, in dessen Sammlung sich diese Postkarte von 1911 befindet, die ein gewisser W. Friedländer an einen Herr Fröbus in Berlin sandte.
Was er ihm schrieb, das erfahren Sie gleich, doch zuvor noch ein Blick auf das Gefährt mit der schön gestalteten „Motorhaube“ im Stil früher französischer Fabrikate.
Darunter befand sich so gut wie nichts, immerhin hatte man dort einigen Stauraum bei Bedarf. Das mächtige „NAG“-Emblem lässt keinen Zweifel daran, dass dies ein Fabrikat der gleichnamigen Berliner AEG-Tochter war.
NAG war längst als Hersteller hocklassiger Wagen mit Benzinmotor etabliert, als man 1907 ein Elektrofahrzeug vorstellte, welches einige Jahre im Programm blieb.
Diese Ausführung dürfte ab 1910 entstanden sein, vorher gab es den schräg nach oben weisenden „Windlauf“ nur bei Sportfahrzeugen:
Sonderlich viel ist über die NAG-Elektroautos nicht in Erfahrung zu bringen – sie scheinen vor allem als Taxis im relativ ebenen Berlin unterwegs gewesen sein, blieben aber selbst dort gegenüber Benzin-Droschken in der Minderzahl.
Die Hauptgründe waren – kaum überraschend – die geringe Reichweite, die langen Ladezeiten und die Alterung der Akkumulatoren, die übrigens mittig im Chassis untergebracht waren.
Hier haben wir eine entsprechende Abbildung aus „Das Weltreich der Technik“ von Artur Fürst, veröffentlicht 1924 (offenbar war der NAG damals immer noch repräsentativ für Elektrowagen):
Zurück zur Fotokarte aus der Sammlung von Stefan Rothe.
Dort suggeriert der Absender, dass er die Insassen des abgebildeten NAG-Elektroautos kenne, doch das scheint mir ein Scherz zu sein – es gibt nämlich weitere Aufnahmen desselben Wagens nur mit der Dame am Steuer (siehe hier).
Aber lesen Sie selbst, was er umseitig in lässigem Ton heruntergeschrieben hat:
NAG-Elektrowagen um 1910; originale Postkarte aus Sammlung Stefan Rothe (Rückseite)
Ich vermute, dass es sich bei dem Foto des NAG um ein beliebtes Motiv handelte, das eine bekannte Schauspielerin, Sängerin oder Tänzerin als Werbeikone am Steuer zeigt.
Für eine durchschnittliche Berlinerin – Lokalpatrioten überlesen das besser – sieht sie nämlich entschieden zu hübsch aus. Wer sie und ihre Beifahrerin gewesen sein mögen, das mag vielleicht jemand sagen können.
Der afrikanischstämmige Diener auf dem hinteren Notsitz scheint mir nachträglich retuschiert zu sein – evtl. war sein Kopf verwackelt wiedergegeben. Jedenfalls wirkt sein Gesicht ein wenig wie hineinmontiert – womit er erkennbar nicht glücklich war:
Wie gesagt, kann ich zu dem Wagen selbst wenig sagen, außer dass er mir sehr gut gefällt. Auch in den USA sahen solche Elektroautos (für kurze Distanzen und vorwiegend für Damen bestimmt), oft sehr ansprechend aus.
Ihnen fehlte das Maschinenhafte, nirgends tropfte Öl, es roch nicht nach Benzin und die Geräusche beschränkten sich auf die, welche das Abrollen der Reifen verursachte.
Doch das alles genügte nicht, solange die Mobilität von Elektrofahrzeugen eingeschränkt war oder – wie in den besten Exemplaren heute – annähernd ebenbürtig ist, aber für Normalsterbliche selbst mit heftigsten Subventionen unbezahlbar bleibt.
Fazit: Elektromobilität kann eine wunderschöne Sache sein, wie der heute vorgestellte NAG beweist. Doch nach über 100 Jahren sollte sie sich schon von selbst dort durchsetzen können, wo sie wirklich Vorteile bietet.
Intensiver Wettbewerb unter Marktbedingungen – mit allen Chancen und Risiken auf privater Seite – ist die Voraussetzung für die Entwicklung und Durchsetzung überlegener und nutzerorientierter Technologie, nicht staatliche Planung und Reglementierung.
Unser gesamter Wohlstand, unser gesamter Alltag basiert darauf, doch das scheint in unseren Tagen hierzulande in Vergessenheit geraten zu sein.
Elektromobilität muss sich im freien Spiel der Kräfte beweisen – ihr immer noch drastisch erhöhter Preis signalisiert, dass sie unnötig Ressourcen kostet, damit ist sie das genaue Gegenteil von Ökologie.
Mit meiner elektrischen Pseudo-Vespa made in China fühle ich mich wohl, und ihre Schönheit ist unbestritten. Aber ich habe noch nie eine andere gesehen. Und das sagt eigentlich alles.
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Überwiegend fällt die Wirklichkeit nicht so aus, wie man sich das wünscht – eine Grundkonstante des Daseins und Basis des Geschäftsmodells von Trittbrettfahrern aller Art – Glaubensstifter, Heiratsschwindler und Visagisten.
Doch bisweilen übertrifft auch die Wirklichkeit die Welt der Wünsche, nämlich dann, wenn sich etwas ereignet, was man nicht für möglich gehalten hat. Das von Ludwig Erhard initiierte deutsche „Wirtschaftswunder“ der 1950/60er Jahre war so etwas.
Da wir in unseren Tagen von Vergleichbarem mangels qualifiziertem Regierungspersonal nur träumen können, müssen wir uns damit begnügen, dass uns im Privaten ab und zu etwas begegnet, das über unsere Vorstellungen und Erwartungen hinausgeht.
Ich weiß nicht, ob das bei dem Automobil der Fall ist, das ich Ihnen heute präsentieren möchte. Jedenfalls regt es dazu an, über Wunsch und Wirklichkeit zu sinnieren.
Man kann dieses rund 110 Jahre alte Dokument aber auch einfach so auf sich wirken lassen und sich seine ganz eigenen Gedanken darüber machen:
NAG um 1910; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Fremd wie ein Geschöpf aus einer fantastischen Urzeit schaut uns dieser Wagen an, und doch würde jeder dieses Fahrzeug sofort als Automobil ansprechen. So furchtbar viel hat sich nämlich an dieser genialen Erfindung nicht geändert.
Ja, aber inzwischen gibt es doch auch Elektroautos und die sehen schon anders aus, mag jetzt einer denken. Gewiss, das taten die Elektroautos aber damals auch.
Der Hersteller dieses Tourenwagens – NAG aus Berlin – hatte sogar selbst welche im Programm. Sie verkauften sich eine Weile recht gut, und das obwohl deren wohlhabende Käufer nicht einen Teil des Preises von ihren Mitbürgern zwangserstattet bekamen.
Einen solches NAG-Elektroauto stelle ich gelegentlich hier vor und ich darf schon jetzt sagen, dass ich mich darin verliebt habe – was mir beim Batteriewagenangebot unserer Tage bislang unmöglich erscheint (nicht nur wegen der aberwitzigen Kosten).
Wie gesagt, die altehrwürdige Berliner NAG war der Schöpfer des oben gezeigten recht großzügig dimensionierten Fahrzeugs. Zwar sind die Autos der seit 1903 mit Eigenkonstruktionen sehr erfolgreichen Marke an dem Rundkühler leicht zu erkennen.
Doch der genaue Typ ist meist nur anhand von Größenvergleichen einzugrenzen. Im vorliegenden Fall würde ich schon einmal das Einstiegsmodell N2 6/12 PS „Puck“ ausschließen – es war im Vergleich wesentlich kompakter:
NAG Typ N2 6/12 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Zudem scheint der NAG auf meinem eingangs gezeigten Foto über eine etwas modernere Karosserie zu verfügen.
So besitzt sie bereits über einen „Windlauf“, also eine zur Frontscheibe bzw. zum Fahrerabteil hin ansteigende Blechkappe am hinteren Ende der Motorhaube.
Ab 1910 taucht dieses Element bei deutschen Serienautos auf, vorher fand es sich nur bei speziell für Sporteinsätze vorgesehene Wagen.
Genau dieses Detail wird uns noch einmal beschäftigen. Wir werfen erst einmal einen näheren Blick auf die Vorderpartie des aus idealer Perspektive fotografierten NAG:
An sich ist hier alles so, wie man es bei einem NAG aus der Zeit ab etwa 1905 erwarten würde. Ins Auge sticht jedoch die Plakette vorne am Kühlwassereinfüllstutzen.
Sie ist mir schon einmal begegnet, doch ist mir entfallen, auf welche Vereinigung sie hinweist – hier sind wieder sachkundige Leser gefragt.
Eventuell handelt es sich um einen Club von Sportsleuten, die bei Beginn des 1. Weltkriegs ihre Automobile dem Heer zur Verfügung stellten. Darauf deutet das auf dem Windlauf aufgemalte Kürzel und das Fehlen eines zivilen Kennzeichens hin.
Jetzt sind wir dem Punkt angelangt, an dem wir uns zwischen Wunsch und Wirklichkeit entscheiden müssen.
Schauen Sie sich doch einmal die Kühlerpartie direkt unterhalb des Einfüllstutzens an. Bilde ich es mir ein oder ist da tatsächlich „B2“ zu lesen gefolgt von einer nicht zu entziffernden Kombination aus Ziffern, die durch einen Schrägstrich getrennt sind?
Mag sein, dass mir mein Gehirn einen Streich spielt und der Wunsch in meinem Kopf etwas Wirklichkeit werden lässt, was es gar nicht gibt. Dabei mag eine Rolle spielen, dass es andere Fotos von im 1. Weltkrieg auf deutscher Seite eingesetzter PKW gibt, bei denen auf dem Kühler die offizielle Typbezeichnung aufgemalt war – warum auch immer.
Nun gab es von NAG ab 1907 einen Typ „B2“ mit (je nach Baujahr) variierenden Leistungsbezeichnungen: 40-45 PS, 31/50 PS, 29/55 PS, 26/45 PS. In jedem Fall handelte es sich dabei um einen großvolumigen Vierzylinder mit anfänglich 8, später 6,7 Litern.
Auch bei den Angaben zur Bauzeit geht es durcheinander (frühe NAG-Wagen sind wie bei vielen deutschen Autos üblich schlecht dokumentiert). Teilweise wird ein Bauzeitende von 1908 angegeben, teilweise aber auch 1909/10.
Denkbar ist nun Folgendes: Wir haben es entweder mit einem älteren NAG „B2“ zu tun, der 1910 einen modernen Aufbau mit „Windlauf“ erhielt – was öfters vorkam. Oder es handelt sich um ein Exemplar des ganz späten Typs B2a von 1910.
Vielleicht irre ich mich aber auch völlig und wir sehen hier doch einen der kleineren NAG, also einen N2 6/12PS „Puck“ oder einen frühen Vertreter seines Nachfolgers K2 6/18 PS.
Letztlich ist es aber auch gar nicht so wichtig, denn Aufnahmen solcher NAG-PKW im Kriegseinsatz sind keineswegs ungewöhnlich. NAG lieferte daneben vor allem Lastkraftwagen an das deutsche Militär, aber das ist eine andere Geschichte.
Mich interessiert am Ende Ihr Urteil, was die von mir wahrgenommene Beschriftung des Kühlers angeht – Wunsch oder Wirklichkeit bzw. Typvermerk oder Straßenschmutz?
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Wenig ist für den Vorkriegsauto-Enthusiasten aufregender, als einem bisher unbekannten Modell auf die Spur zu kommen. Das Dumme daran ist, dass man sich letztlich nicht sicher sein kann, was man da entdeckt hat, denn definitionsgemäß weiß keiner etwas darüber.
Am Ende hat man es „nur“ mit einem Einzelstück zu tun, das andernorts nirgends Spuren hinterlassen hat – das folgende Foto könnte einen solchen Kandidaten zeigen:
unbekanntes Automobil vor der Berliner Siegessäule um 1920; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Eine ziemlich spannende Kreation ist das. Die Frontpartie mit dem Spitzkühler scheint auf den ersten Blick gut zum Entstehungszeitpunkt dieser Aufnahme zu passen – um 1920, das verrät uns das Erscheinungsbild der Insassen.
Die Scheinwerfer könnten aber noch gasbetrieben sein, dann würde sich in dem Kasten auf dem Trittbrett keine Batterie, sondern ein Karbidentwickler verbergen. Sicher elektrisch betrieben sind nur die Standlichter vor der Windschutzscheibe.
Die Frontpartie wäre demnach typisch für deutsche Fabrikate von 1913/1914. Dazu will jedoch etwas ganz anderes nicht passen: Der Kettenantrieb an den Hinterrädern!
Zwar findet man das kurz vor dem 1. Weltkrieg vereinzelt noch bei Daimler-Wagen mit starker Motorisierung (22/50, 28/60 bzw. 38/80 PS), aber der Kasten mit dem vorderen Kettenritzel sah dort nicht so kolossal aus.
Der Wagen bleibt somit rätselhaft, es sei denn, einer meiner Leser hat eine Idee.
Unterdessen wenden wir uns der zweitinteressanteste Kategorie zu: Vorkriegswagen, deren Existenz in der Literatur belegt ist, von denen aber bisher keine Abbildung zu finden war. Einem solchen Fall kommen wir heute zumindest ein ganzes Stück näher.
Zunächst möchte ich an meinen Blog-Eintrag mit dem Motto „So ziemlich das Letzte“ erinnern, der dem Typ D 10/45 PS der Berliner Marke gewidmet NAG war.
Ich hatte den Titel seinerzeit mit Bedacht gewählt, denn ich wusste: dieses ab 1924/25 gebaute Modell war einer der letzten NAG mit dem typischen Ovalkühler, aber noch nicht der allerletzte.
Zur Erinnerung darf ich ein zwischenzeitlich neu aufgetauchtes Foto dieses Typs vorstellen, das mir Leser René Liebers in digitaler Kopie zur Verfügung gestellt hat:
NAG Typ D4 10/45 PS; Originalfoto: Sammlung René Liebers
Von seinem 1920 eingeführten Vorgänger Typ C 10/30 PS unterscheidet sich der NAG D4 10/45 PS vor allem durch die Vorderradbremsen.
Zudem scheinen die sonst sehr ähnlichen C-Typen häufiger einen lackierten Kühler besessen zu haben; vereinzelt findet sich das aber auch beim Modell D 10/45 PS. Vielleicht konnten Käufer zwischen den beiden Varianten wählen.
Jedenfalls fand ich kürzlich in einem 1927 erschienen Buch (Joachim Fischer, Handbuch vom Auto) die folgende Abbildung eines NAG Typ D 10/45 PS:
NAG-Typentafel aus: Joachim Fischer, Handbuch vom Auto, 1927; Original: Sammlung Michael Schlenger
Neben der geschmackvollen Zweifarblackierung fiel mir auf, dass auch dieses Exemplar noch über Rechtslenkung verfügt – ungewöhnlich im Jahr 1927.
Natürlich könnte die Abbildung selbst noch von 1925/26 stammen und einen späten NAG D 10/45 PS zeigen. Interessanter ist aber etwas anderes: Obige Typentafel ist unten mit dem in Klammern gefassten Zusatz „NAG 12 PS Typ 1927“ versehen.
Das würde bedeuten, dass der gezeigte Aufbau grundsätzlich auch mit der Motorisierung 12/60 PS verfügbar war, die 1926 neu eingeführt wurde. Bei diesem Antrieb handelte es sich um einem Sechszylinder, weshalb das Modell als Typ D6 firmierte.
Nach den Daten in der Literatur war der Radstand nur geringfügig länger als beim D4, sodass man die beiden Modelle anfänglich äußerlich kaum unterscheiden konnte.
Kurz danach wurde jedoch das Erscheinungsbild des D6 modernisiert und der nunmehr als NAG-Protos 12/60 PS firmierende Wagen nerhielt einen Flachkühler, womit die traditionelle Markenoptik endgültig passé war.
Beim überarbeiteten NAG 12/60 PS findet sich dann auch der Hinweis auf Linkslenkung. Ich kann mir aber vorstellen, dass der noch traditionell mit ovalem Spitzkühler ausgestattete NAG D6 12/60 PS ebenfalls bereits linksgelenkt war.
Ein solches Exemplar, das ich bislang als D4 10/45 PS angesprochen hatte, könnten wir dann auf meiner folgenden Aufnahme sehen:
NAG D4 10/45 PS oder D6 12/60 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Bis hierher bin ich auf plausible Annahmen angewiesen – bewiesen ist noch nichts.
Aber in meinem Fundus gibt es ein Dokument, mit dem wir dem NAG D6 12/60 PS noch ein ganz erhebliches Stück näherkommen. Es handelt sich um eines von zwei Glasnegativen des Instituts für Kraftfahrwesen in Dresden, die ich vor Jahren erstand.
Ich nehme an, dass es sich um Ausschussexemplare handelt, denn sie zeigen zwar zwei Karosserievarianten eines NAG D6, enthalten aber einen Fehler bei der PS-Angabe (20/60 PS statt 12/60 PS) – hier das Positiv des zweiten (besser erhaltenen) Dias:
NAG D6 als Pullman-Limousine; Abbildung von originalem Glasnegativ aus Sammung Michael Schlenger
So faszinierend dieser Fund auch ist – so ganz sind wir noch nicht am Ziel. Der Zeichner hat sich bei der Arbeit für einen Prospekt (vermute ich) hier einige Freiheiten genommen.
Sehr wahrscheinlich besaß der 1926 parallel zum D4 eingeführte NAG D6 serienmäßig Vorderradbremsen – anderes ist nach 1925 und bei dieser Motorisierung kaum vorstellbar.
Zudem dürften die sechs kleinen Luftschlitze in der Haube kaum zur Ableitung der Wärme im Motorraum ausgereicht haben – wahrscheinlicher ist eine lange Reihe hoher Schlitze wie beim D4.
Bei allen Vorbehalten lässt sich heute als vorläufiges Fazit festhalten: NAG D6 – wir kriegen Dich, irgendwann!
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Zu meinen historischen Interessen gehört neben der Welt der Vorkriegs-Automobile vor allem die römische Epoche. Wenn man wie ich in der hessischen Wetterau aufwuchs, liegt das nahe – die Römer haben hier reiche Spuren hinterlassen.
Zwar währte die Zeit nur kurz, in welcher die fruchtbare Region zwischen dem Main im Süden und dem Gießener Becken im Norden ein kleiner Zipfel des Imperium Romanum war.
Doch in den Wäldern findet man immer noch eindrucksvolle Reste der Grenzbefestigung „Limes“ mit ihren Kastellen und Wachtürmen. Auch das römische Straßennetz ist vielerorts noch gut erkennbar und unter den Feldern ruhen die Fundamente hunderter Landgüter mit komfortabler Ausstattung.
An der Ausgrabung einiger davon habe ich einst in meinen Semesterferien teilgenommen. Auch später war ich noch öfters als ehrenamtlicher Grabungshelfer tätig, zuletzt 2016 auf dem Areal dieser „Villa Rustica“ bei Gambach in Sichtweite der Münzenburg:
Fundamente der Villa rustica „Im Brückfeld“ bei Gambach (Wetteraukreis); Bildrechte: Michael Schlenger
Während die römische Besiedlung in meiner Region schon 260 n.Chr. ein geordnetes Ende fand – die nachrückenden Germanen vegetierten dann in Grubenhäusern und plünderten die römischen Friedhöfe auf der Suche nach Verwertbarem – blieb die Hochkultur Roms andernorts auf deutschem Boden viel länger präsent.
Das gilt vor allem für die römischen Städte enlang der Donau. Dort hielt das Imperium den ständigen Angriffen germanischer Horden noch über 100 Jahre stand. Erst nach dem Jahr 375 brach die Finanzierung der Grenzsicherung zusammen.
Doch selbst danach ist für ein weiteres Jahrhundert ziviles römisches Leben an einem Ort dokumentiert, der für uns heute auch in anderer Hinsicht interessant sein wird – in Passau:
NAG-Protos 16/80 PS Sport-Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Diese Aufnahme entstand in den 1930er Jahren vom nördlichen Donauufer aus mit Blick den zweitürmigen Dom. Auf der dahinterliegenden Landspitze, an der Donau und Inn zusammenfließen, befand sich das römische Passau („Batavis“).
Erst gegen 480 nach Christus musste die verbliebene romanisierte Bevölkerung Passaus dem zunehmenden Siedlungsdruck germanischer Völker weichen.
Beschrieben wird das in einem der letzten Schriftdokumente der Spätantike, der Lebensbeschreibung des Heiligen Severin. Er war ein gebildeter Mann der Kirche und zugleich lebenstüchtiger Organisator des spätrömischen Lebens in der Region.
Mit ihm und der Aufgabe Passaus endete nach über 400 Jahren die große Historie der römischen Zivilisation an der Donau, die Barbaren übernahmen das Regiment.
Dazu passt der am Donauufer abgestellte Wagen – denn auch er markiert annähernd das Ende einer langen und bedeutenden Geschichte, und als die letzten Exemplare 1933 entstanden, hatte die germanische Barbarei Deutschland abermals erfasst:
Dieser auffallend flach bauende Wagen mit der markanten Zweifarblackierung war eines der letzten in Serie gebauten Automobile der traditionsreichen Berliner Marke NAG – vielleicht auch das großartigste.
Die Details des Hecks, darunter die farblich kontrastierenden Kanten des angesetzten Koffers, die doppelten Stoßstangen und die Gestaltung des Reserverads finden sich genau so beim Sport-Cabriolet 208, das auf Basis des NAG-Protos 16/80 PS von 1930-33 entstand.
Ich habe bereits mehrere Aufnahmen davon bei früherer Gelegenheit präsentieren können (hier), daher sei an dieser Stelle nur eine davon wiedergegeben:
NAG-Protos 16/80 PS Sport-Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks
Doch so wie sich in Passau Ende des 5. Jahrhunderts eine romanisierte Restbevölkerung zäh gegen den Untergang ihrer Zivilisation wehrte, wollte auch NAG Anfang der 1930er Jahre nicht ohne weiteres aufgeben.
Nach dem hinreißenden 16/80 PS Sport-Cabriolet mit seinem 4 Liter großen Sechszylinder wollte man noch einmal seine ganze einstige Größe demonstrieren.
Dazu ließ man Chefkonstrukteur Paul Henze, der früher bei Simson und Steiger brilliert hatte, Deutschlands ersten V8-Motor im unveränderten Chassis des NAG-Protos verbauen.
Äußerlich war der daraus resultierende NAG-Protos 18/100 PS kaum vom Sechszylindertyp 16/80 PS zu unterscheiden. Folgende Aufnahme von letzterem war einst das erste Foto eines Vorkriegsautos überhaupt, das ich erwarb – zu meiner Studentenzeit, als ich meine Freizeit noch überwiegend der antiken Historie widmete:
NAG-Protos 16/80 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Wenn man auf dem Original genau hinschaut, kann man auf dem Kühleremblem „NAG Protos“ lesen, andernfalls wäre es nicht so leicht gewesen, den Hersteller zu identifizieren.
So tat sich auch Leser Matthias Schmidt schwer mit der Ansprache der grandiosen Limousine auf einem seiner Fotos, mit denen er und einige Sammlerkollegen uns immer wieder Freude und Genuss bereiten.
Denn dort ist das Markenemblem nicht lesbar und die Kühlerform ist nicht so spezifisch, dass einem gleich NAG-Protos als Marke einfallen dürfte. Doch ich erinnerte mich an meinen frühen Fotofund und konnte anhand der identischen Kühlergestaltung den Hersteller rasch ermitteln:
NAG-Protos 18/100 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)
Einen kleinen Unterschied – abgesehen vom Aufbau als sechs- statt nur vierfenstrige Limousine – hatte ich zunächst übersehen.
Daher war ich bis heute der Meinung, dass es sich bei diesem Prachtstück ebenfalls um einen NAG-Protos des Sechszylindertyps 16/80 PS handeln müsse. Dazu passend hatte ich bereits das Passauer Foto der Sportlimousine auf derselben Basis herausgesucht.
Erst bei näherem Hinsehen stellte ich nun fest, dass der NAG-Protos auf dem Abzug von Matthias Schmidt eine „8“ auf der Scheinwerferstange trägt. Das war der Hinweis darauf, dass wir es hier tatsächlich mit dem letzten in Serie gebauten NAG-Protos mit erwähntem V8 zu tun haben, der noch ein Jahr länger als der Typ 16/80 PS gebaut wurde.
An sich hätte dieser grandiose Wagen die Präsentation als Fund des Monats verdient, doch will ich heute spendabel sein.
Die diesjährige Vorweihnachtszeit ist für viele von uns durch Sorgen und Zukunftsängste überschattet. So kann ich mir vorstellen, dass in dieser dunklen Zeit manchem jede kleine Freude willkommen ist.
Und ist es nicht ganz wunderbar, was NAG am Ende einer langen und großen Historie der Nachwelt hinterlassen hat?
Analog zu den Menschen im Europa der untergehenden Antike sind wir heute berufen, diesen Teil unseres kulturellen Erbes zu bewahren, am Leben zu erhalten und die Hoffnung auf eine neue Blüte nicht aufzugeben…
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Langjährige Leser meines Blogs mögen sich vielleicht verschaukelt fühlen, wenn ich unter dem Motto „Öfter mal ‚was Neues“ ausgerechnet mit einem alten Kameraden wie dem NAG-Typ C4 10/30 PS komme.
Apropos „alte Kameraden“ – auch diese Herren von der Reichswehr schätzten einst die Qualitäten des 1920 von dem Berliner Traditionshersteller eingeführten Modells:
NAG C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
So präsentierte sich der bis 1924 in etlichen tausend Exemplaren gebaute Vierzylinderwagen meistens – als vier- bis sechssitziger Tourer. Entsprechend oft finden sich zeitgenössische Aufnahmen davon.
Dieses Foto gehört dabei zu den schwächeren aus meiner Sammlung. Dennoch will ich es der Vollständigkeit halber zeigen. Nur selten verzichte ich darauf, Bilder von mäßiger Qualität zu präsentieren – denn auch sie helfen das Bild von der Vorkriegsmobilität vervollständigen.
Einen wesentlich besseren Eindruck von der konventionellen Tourenwagenausführung bekommt man auf diesem „neuen“ Foto aus dem Fundus von Leser Klaas Dierks:
NAG C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks
Die Aufnahme zeigt den NAG aus sehr willkommener Perspektive – sieht man hier doch einmal den spitz ausgeführten Ovalkühler, den es so nur bei NAG gab.
So ist unterhalb des auf eine Zulassung in Sachsen verweisenden Nummernschilds der Unterteil des Kühlerausschnitts zu sehen, der genau dem Oberteil entsprach (gespiegelt natürlich).
Dies ist nebenbei ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu dem auf den ersten Blick recht ähnlichen Kühler der D-Typen von Stoewer, welche unten horizontal abschlossen.
Die typische NAG-Plakette auf der Verbindungsstange zwischen den Scheinwerfern unterstreicht die Markenidentität. Sie ist in manchen Fällen das entscheidende Element, welches die Ansprache als NAG erlaubt – so etwa hier:
NAG C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Bei dieser Aufnahme, die ich schon vor Jahren vorgestellt habe, hatte ich mich von dem Greif-Kühlerfigur zunächst verleiten lassen, in dem Wagen einen Stoewer aus Stettin in Pommern zu sehen, da der Greif das pommersche Wappentier war.
Doch bei näherem Hinsehen erkannte ich vor dem mit einer Kunstledermanschette verkleideten Kühler besagtes NAG-Emblem.
Ja, schön und gut, wo aber bleibt das Neue, Genosse? Gemach, man muss nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.
Wenn Sie noch etwas Zeit haben, will ich Sie erst einmal mit einer weiteren Aufnahme eines NAG Typ C10/30 PS belästigen:
NAG C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt
Prinzipiell haben wir es hier mit dem gleichen Modell zu tun, bloß wirkt der Tourer hier dynamischer. Das liegt an der expressiven Ausführung des Aufbaus als sogenannte Tulpenkarosserie.
Nur selten sieht man das opulent auskragende Oberteil so schön wie hier. Wie eine Blüte wird der Aufbau nach oben hin immer breiter – auf eine enge „Taille“ folgt zuletzt eine breite „Schulter“.
Dieser Mode folgten die Linien vieler deutscher Tourenwagen für eine Weile nach dem 1. Weltkrieg, bevor sich sachliche und auf mich beliebig wirkende Formen durchsetzten:
NAG C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Auch dieses Exemplar hatten wir schon vor Jahren – höchste Zeit also für die eingangs angekündigten Novitäten aus dem Hause NAG.
Nun, wie wäre es zur Abwechslung einmal mit einer geschlossenen Version des NAG Typ C4 10/30 PS? Das wäre doch ein Fortschritt nach allen diesen Tourenwagen, oder?
Ganz neu in meinem Blog ist aber auch das nicht.
Vor längerem konnte ich diese Aufnahme aus der Sammlung von Matthias Schmidt präsentieren:
NAG C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)
Was es mit der Situation auf sich hat, können Sie im zugehörigen Blog-Eintrag nachlesen.
So eindrucksvoll diese Ausführung des NAG Typ C4 10/30 PS als Chauffeur-Limousine (ein Außenlenker, um genau zu sein) auch wirkt, ist sie noch nicht ganz das, wohin ich will.
Der Wagen ist mir nämlich nicht luxuriös genug. Jetzt spinnt er aber, mögen Sie jetzt denken – exklusiver geht’s doch kaum, oder? Zugegeben: ich hätte das auch nicht gedacht.
Aber das ist ja das Magische bei der Beschäftigung mit Vorkriegsautomobilen. Es tauchen immer wieder aus den Tiefen der Vergangenheit neue Fundstücke auf, die einen erst einmal sprachlos dastehen lassen – auch wenn man schon viel gesehen hat.
Und jetzt schauen Sie sich einmal das an:
NAG C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Kann natürlich sein, dass Sie so etwas bereits kennen, dann müssen Sie halt zur Konkurrenz wechseln (wenn es eine gibt).
Ich jedenfalls habe so etwas Großartiges auf Basis des NAG C4 10/30 PS noch nirgends gesehen. Ja, Raffiniertes und Sportliches durchaus, aber ein solches „Raumschiff“ – das sucht meines Erachtens seinesgleichen.
Solche hocheleganten Aufbauten als Chauffeur-Limousine mit riesigen Fensterflächen kennt man eher aus der Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg – und sie waren mit Abstand das Teuerste, was man sich überhaupt als Karosserie vorstellen konnte.
Die vier Personen davor wirken vor dem wohl mehr als 2,10 m hohen NAG eher klein – doch „kleine Leute“ waren das mit Sicherheit nicht.
Dieses Manufakturfahrzeug war ungeheuer kostspielig – ich pflege den Besitz solcher Wagen mit dem heutigen Besitz eines Privatflugzeugs zu vergleichen.
Wie so oft muss ich feststellen, dass sich die enorme Wirkung dieser Aufnahme mindestens genauso aus der phänomenalen Präsenz der vier Individuen davor ergibt:
Geben Sie es doch zu, meine Herren:
So aufmerksamkeitsstark das Muster auf dem Kleid der Dame ist, die bestens gelaunt auf dem Werkzeugkasten auf dem Trittbrett sitzt – Sie schielen doch auch heimlich bloß nach der verschwörerisch dreinblickenden jungen Frau ganz links…
Mir geht es jedenfalls so – wir Männer sind seit Urzeiten auf so etwas programmiert, ganz gleich was einem freudlose Verfechter der politischen Korrektheit zu erzählen versuchen. Intelligente Frauen wissen das und setzen es zu ihrem Vorteil ein.
Um der Geschlechtergerechtigkeit willen möchte ich aber auch den Herrn nicht unerwähnt lassen, der in lässiger Pose am Ersatzrad lehnt.
Er sieht dem Hausarzt meiner Kindheit ähnlich, Dr. Gundermann, der in seiner kargen Freizeit mit Hund und Pfeife spazierenging und der ebensolche Reithosen mit Stiefeln trug.
Seine Pose ist makellos und sein abgeklärter Blick ist der eines durch das Leben zum Philosophen gewordenen Mannes. Da kann der Jüngling weiter links nicht mithalten, der vielleicht Sohnemann war.
Er tut nämlich genau das Gegenteil von dem, was mir mein Großonkel Ferdinand – stets wie aus dem Ei gepellt mit gestärktem Oberhemd und Krawatte, ein guter Klavierspieler, brillianter Fotograf, launiger Unterhalter und großer Frauenfreund – früh beibrachte: In der Gegenwart von Damen hat ein Mann niemals die Hände in den Hosentaschen!
„Öfter mal was Neues“ – vielleicht dachte sich das ja dieser Bursche mit dem dreisten Seitenblick auf seine Nachbarin…
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.