Ein Hauch von Luxus mit 3 Grazien: Wanderer W10/IV

Audi, DKW und Horch kennt heute noch jeder Klassikerliebhaber, auch wenn die beiden letzten Marken untergegangen sind. Die vierte Firma im einstigen Auto-Union-Verband wird merkwürdigerweise meist übergangen – Wanderer.

Auf diesem Blog wurden bereits einige Modelle dieser soliden Marke vorgestellt. Zuletzt haben wir uns mit dem Vierzylindertyp W10/II beschäftigt. Heute gibt ein schönes Originalfoto Anlass, die letzte Ausführung dieses Modells der frühen 1930er Jahre zu besprechen,  den Wanderer W10/IV:

Wanderer_W10_IV

© Wanderer Typ W10/IV, Bj. 1930-32; Foto aus Sammlung Michael Schlenger

Auf dieser Aufnahme stellt das Auto nur Staffage dar – wer auch immer dieses Foto gemacht hat, verfügte über malerisches Gespür. Er oder sie verteilte nach klassischem Vorbild drei Grazien über den Wagen  und integrierte den herrlichen spätmittelalterlichen Turm im Hintergrund.

Der mutmaßliche Fahrer hat sich hinten platziert und scheint die Szene zu genießen. Das Ganze ist so elegant inszeniert, dass wir es uns gleich noch einmal näher ansehen:

Die drei Damen scheinen einige Jahre auseinander zu sein, doch tragen sie Kleider mit fast identischem Muster. Wer genau hinsieht, bemerkt, dass der Schnitt etwas unterschiedlich ist. Könnten das Schwestern sein, die dieselbe Schneiderin hatten?

Leider wissen wir nichts Genaues darüber. Jedenfalls scheint die Aufnahme nach dem Stil der Frisuren und der Rocklänge Anfang der 1930er Jahre entstanden zu sein.

Kommen wir nun zum Wagen, auf dem man sich seinerzeit ganz selbstverständlich platzierte – heute heißt es bei überrestaurierten Vorkriegswagen: „Nicht anfassen“ oder sogar „Fotografieren verboten“. Das gibt’s aber wohl nur in Deutschland.

Das Auto ist ein Wanderer W10/IV, dessen verchromte Kühlerfront bei Vorstellung 1930 einen Hauch von Luxus ausstrahlen sollte. Technisch war die Marke mit 30 PS aus 1,6 Liter, 3-Gang-Getriebe und mechanischer Bremse dagegen kaum konkurrenzfähig,

Es bleibt ein schönes Foto, von dem man gern wüsste, wo es aufgenommen wurde. Vielleicht weiß ein Leser mehr.

Typischer Stil der 1920er Jahre mit Wanderer W10/II

Jede Generation hat ihre Stil-Heroen und versucht, diesen nachzueifern. Auch heutzutage sind das natürlich nicht die Eltern – die wirken mit kinderbunter Funktionsjacke und obligatorischem Fahrradhelm bei Tempo 15 eher peinlich.

Wie es scheint, nimmt sich die „Jugend von heute“ das Erscheinungsbild einer B-Prominenz aus Möchtegern-Gangstern und IS-Kriegern bzw. dem Hungertod entronnenen und zu spät aufgestandenen Models im Hausanzug zum Vorbild…

Genug davon, blenden wir zurück in die späten 1920er Jahre:

© Wanderer Typ W10/II, Bj. 1927-29; Foto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch dieser junge Mann hat seine modischen Vorbilder genau studiert. Der Nadelstreifenanzug mit Taschentuch und der elegante Hut sind der „feinen Gesellschaft“ abgeschaut.

Gleichzeitig hat er nach britischer Art die Anzugjacke verkehrt geknöpft – will nach alter Dandy-Manier heißen: Natürlich kenne ich die Regeln, ich verstoße aber bewusst gegen diese. Auch die Krawatte ist einwandfrei geknotet – gelernt ist gelernt – doch ihr Muster ist zu verwegen für einen nüchternen Juristen oder braven Bankangestellten.

Genau dieser Stil, der Konventionen gezielt bricht, aber diese damit auch anerkennt, ist Ausweis von Geschmack. Das ist das Gegenteil des „anything goes“ unserer Tage, wo jede Entgleisung als Ausdruck von „Vielfalt“ gilt.

Jetzt aber zum Automobil auf dem Foto. Man meint zunächst, der nur teilweise zu sehende Wagen sei nicht zu identifizieren. Unser stilbewusster junger Mann posiert schließlich genau vor dem Kühler und verdeckt das Markenemblem.

Gehen wir aber systematisch vor und schauen uns einmal das Umfeld an:

Wer statt künstlicher Urlaubswelten lieber das gute alte Europa bereist, weiß: im Hintergrund ist deutsches Fachwerk zu sehen. Ein Spezialist in dieser Hinsicht könnte sogar die Region näher bestimmen.

Uns genügt aber die Beobachtung, dass das Foto in Deutschland entstanden ist. Die Wahrscheinlickeit spricht dann dafür, dass der Wagen auf dem Foto auch von einer deutschen Marke stammt.

Welcher Autotyp aus Deutschland weist nun die auf folgendem Ausschnitt zu sehenden Charakteristika auf?

Wir sehen genug, um Marke und Typ präzise anzusprechen. Da sind zum einen die einzigartigen Positionsleuchten auf den Schutzblechen. Dann fällt der leichte Abwärtsschwung in der Mitte der Kühlermaske auf. Das findet sich so nur bei Wagen der sächsischen Marke Wanderer, die bis 1945 Teil des Auto-Union-Verbunds war.

Den entscheidenden Hinweis auf den Typ gibt die hinter dem Scheinwerfer zu sehende Unterteilung der Luftschlitze in der Motorhaube in zwei Felder. Das ist ein Kennzeichen des Wanderer W10/II, der von 1927-29 gebaut wurde.

Der Wagen verfügte über einen 2 Liter-Vierzylindermotor mit 40 PS. Die Leistungssteigerung war durch den Erfolg des Ford Model A erzwungen worden, der mit seiner großzügigen Motorisierung auch in Europa Maßstäbe setzte.

Die Automobilindustrie in den USA gab in den 1920er Jahren in praktisch jeder Hinsicht den Ton an: Gestalterisch, technisch und preislich. Die selbstgefälligen Hersteller in Europa mussten auf das Entwicklungstempo der Amerikaner reagieren – zum Vorteil der Kunden.

Und so mag es sein, dass sich der stilbewusste junge Mann auf unserem Foto in modischer Hinsicht auch ein wenig an amerikanischen Vorbildern aus der Film- und Musikindustrie orientiert hat…

Wanderer W8: Nachkriegsversion des „Puppchens“

Von den vier deutschen Marken, die einst in der Auto-Union zusammengefasst waren, wird zumindest eine nach Ansicht des Verfassers viel zu selten gewürdigt.

Jeder kennt die Marke Audi, die sich geschickt die Tradition der Auto-Union angeeignet hat. Auch DKW ist in Oldtimerkreisen ein Begriff, sei es wegen der Zweitakt-Motorräder oder der Fronttriebwagen der 1930er bis 50er Jahre. Die Luxusmarke Horch genießt bei Klassikerfreunden ohnehin einen legendären Ruf.

Doch was verbindet man mit der Auto-Union-Marke Wanderer? Der eine oder andere mag sich an die attraktiven Typen W23-26 der späten 1930er Jahre erinnern, die die letzten Autos von Wanderer sein sollten und meist im 2. Weltkrieg verheizt wurden.

Dass den meisten Oldtimer-Freunden wenig zu Wanderer einfällt, mag auch mit den Typbezeichnungen der Marke zu tun haben. Bei Wanderer wurden die einzelnen Typen einfach chronologisch durchnummeriert und ansonsten nur mit der Angabe von Steuer-PS und Nennleistung versehen.

Oft war der Volksmund erfindungsreicher als die Vertriebsleute, wenn es um griffige Autonamen ging. So erhielt das erste in Serie gebaute Wanderer-Automobil – das ab 1913 gebaute 5/12 PS Modell (Typ W3)  – den Beinamen „Puppchen.“

Für die gleichnamige Operette, in der ein kleines Auto eine Rolle spielte, hatte Wanderer ein Exemplar seines neuen Wagens zur Verfügung gestellt. Von da an sollte der kleine Wanderer W3 den Spitznamen „Puppchen“ tragen.

Der einfache, aber zuverlässige Wagen wurde sogar im 1. Weltkrieg als Aufklärungsfahrzeug eingesetzt und trug damit zum guten Ruf der Marke bei.

Nach dem Krieg bot Wanderer mit dem Modell W6 6/18 PS auch ein ausgewachsenes Auto an. Ein rares Exemplar wurde auf diesem Blog bereits präsentiert (Bildbericht).

Das „Puppchen“ wurde in der Zwischenzeit jedoch ebenfalls modernisiert. Das folgende Originalfoto zeigt einen Wagen dieses weiterentwickelten Typs W8 5/15 PS:

© Wanderer Typ W8 5/15 PS, Bj. 1923; Foto aus Sammlung Michael Schlenger

Das über 90 Jahre alte Foto ist von ausgezeichneter Qualität, wenngleich der Abzug durch Fingerabdrücke beeinträchtigt ist. Das Bild zeigt viele interessante Details, die eine nähere Betrachtung verdienen.

Zunächst ein paar Worte zur Identifikation des Wagens. Der unbefangene Betrachter sieht bloß einen typischen Tourenwagen der frühen 1920er Jahre mit Drahtspeichenrädern. Das kompakte Format und die Form des Kühlers lassen den Kenner aber bereits an ein Modell von Wanderer denken. Schauen wir genauer hin:

Man kann das Emblem auf der Kühlermaske zwar nicht genau erkennen, doch die Form und das nach unten ins Kühlergitter hineinragende Ende sind typisch für Wanderer-Wagen jener Zeit. Auch Zahl, Anordnung und Größe der Luftschlitze in der Motorhaube lassen sich präzise einem Wanderer-Modell zuordnen, dem Typ W8 5/15PS. 

Erleichtert wird die Identifizierung durch ein einschlägiges Buch, das allen Freunden der Marke empfohlen sei: „Wanderer-Automobile“ von Thomas Erdmann und Gerd Westermann, hrsg. vom Delius Klasing Verlag, ISBN: 978-3-7688-2522-1.

Das Werk ist eines von mehreren mit Unterstützung von Audi Tradition entstandenen Büchern über die Marken der einstigen Auto-Union, die an Genauigkeit der Recherche, Qualität der Texte, Abbildungen und Fotos wirklich nichts zu wünschen übrig lassen.

In besagtem Buch ist auf Seite 51 ein Wanderer W8 5/15 PS in identischer Perspektive zu sehen. Auch die dort zu erkennenden, ab 1923 verbauten gewölbten Vorderschutzbleche sind auf unserem Bild vorhanden. Damit haben wir einen klaren Datierungshinweis.

Bevor wir uns mit der Aufnahmesituation befassen, einige technische Details zum abgebildeten Wagen: Der Wanderer W8 5/15 PS war gegenüber dem „Puppchen“ der Vorkriegszeit in mancher Hinsicht verbessert worden. Der Motor war nun kopfgesteuert (hängende Ventile), was bis in die 1930er Jahre nicht selbstverständlich sein sollte. Der Motor war durch Vergrößerung des Hubraums auf 1,3 Liter elastischer geworden und auch die Hinterradfederung war wesentlich verbessert worden.

Dass dieses kleine, aber sorgfältig konstruierte Auto auch für Fahrer mit sportlichen Ambitionen attraktiv sein sollte, zeigt nicht zuletzt folgendes Detail: Über ein Pedal im Fußraum konnte eine Klappe im Auspuff betätigt werden, die die Verbrennungsgase unter Umgehung des Schalldämpfers direkt ins Freie entließ. Der Wagen wurde zudem ab 1923 serienmäßig mit Anlasser und elektrischen Scheinwerfern sowie einer mechanischen 8-Tage-Uhr, Öldruckkontrolle, Tachometer und Kilometerzähler angeboten.

In unseren Tagen, in denen Alltagswagen über ein Vielfaches an Leistung verfügen und dennoch meist ängstlich bewegt werden, mag ein 15 PS-Automobil kurios erscheinen. In den 1920er Jahren war Deutschland jedoch in automobiler Hinsicht hoffnungslos rückständig und überhaupt einen Wagen zu besitzen, war ein Privileg.

Auf unserem Foto scharen sich – abgesehen von den Insassen – 14 Personen aller Altersklassen um den Wanderer herum. Ein Automobil war seinerzeit hierzulande immer noch eine Sensation. Wie auf diesem Blog üblich, sollen daher auch die Menschen auf unserem Foto gewürdigt werden:

Hier sieht man Vertreter von drei Generationen: Der bärtige Herr mit Schirmmütze und der kaum jüngere Mann im Hintergrund sind noch im 19. Jh. geboren und haben die Kaiserzeit erlebt. Der Hutträger ganz rechts steht für die Nachkriegsgeneration – er wäre modisch auch noch in den 1930er Jahren auf der Höhe der Zeit gewesen. Man beachte die unterschiedliche Form von Hemdkragen und Krawatten.

Die beiden Buben in der Mitte waren zum Zeitpunkt der Aufnahme vielleicht 12 Jahre alt. Sie wurden wahrscheinlich im 2. Weltkrieg zum Militärdienst eingezogen. Sie schauen für Kinder ungewohnt ernst, als ahnten sie etwas von dem Kommenden.

Interessant sind auch die Personen rund um das Heck des Wanderers:

Die Dame im gestreiften Faltenrock ist nicht mehr ganz jung, doch auch sie ist zumindest modisch der Vorkriegszeit entrückt. Ohne Hut hätte man sich in der Kaiserzeit jedenfalls kaum in der Öffentlichkeit gezeigt.

Interessant ist der großgewachsene Herr, der uns den Rücken zukehrt. Er befindet sich im Gespräch mit einem Automobilisten, von dem nicht viel mehr als die Fliegerbrille zu sehen ist. Gut zu erkennen sind die Knickerbocker-Hosen mit Hahnentrittmuster, zu denen er wollene Gamaschen und aufwendige Halbschuhe trägt. Die zerknitterte Jacke lässt vermuten, dass er ebenfalls in einem Auto unterwegs ist.

Möglicherweise handelt es sich bei dem Foto also um einen Schnappschuss anlässlich einer gemeinsamen Ausfahrt mehrerer Wagen. Genaues wissen wir nicht, doch solche historischen Bilder von Automobilen und Menschen strahlen eine ganz eigene Magie aus.

Eines von nur 175 Exemplaren: Wanderer W6 von 1923

Zahlreiche deutsche Automobilhersteller gingen bei Kriegsende im Jahr 1945 unter oder stellten zumindest keine PKW mehr her. Die renommierte Firma Stoewer aus Stettin in Pommern beispielsweise wurde ein Opfer der Aufteilung Deutschlands durch die Siegermächte. Adler in Frankfurt entwickelte zwar noch einen Wagen mit Pontonkarosserie, dieser ging jedoch nicht in Produktion.

Von den vier Marken der einstigen Auto-Union gelang zunächst nur DKW eine Wiederauferstehung in Westdeutschland. Audi wurde immerhin in den 1960er Jahren wiederbelebt, blieb aber lange unter dem einstigen Niveau. Die Marken Horch und Wanderer hatten dagegen nach dem 2. Weltkrieg keine Zukunft mehr.

Nachdem in diesem Blog bereits einige Horch-Modelle anhand originalen Bildmaterials besprochen wurden, soll nun erstmals Wanderer aus Chemnitz gewürdigt werden. Den Auftakt soll ein auf den ersten Blick unspektakuläres, aber äußerst seltenes Modell bilden, das auf folgendem Originalfoto zu sehen ist:

© Wanderer 6/18 PS Tourenwagen von 1923; Fotoquelle: Sammlung Michael Schlenger

Bevor wir uns dem Wagen näher zuwenden, ein Rückblick auf die Markengeschichte:

Der Ursprung von Wanderer liegt in der Produktion von Fahrrädern, die ab 1886 unter diesem Namen vertrieben wurden und rasch einen guten Ruf erlangten. Von den beiden Unternehmensgründern blieb einer der Firma auch später als Aufsichtsrat und technischer Berater verbunden. Er befürwortete die Aufnahme des Automobilbaus im Jahr 1913 als weiteres Standbein.

Vorausgegangen war der Bau eines Prototypen bereits im Jahr 1906. So unglaublich es klingt – das als W1 bezeichnete Einzelstück existiert noch heute (Verkehrsmuseum Dresden).

Das erste Serienfahrzeug von Wanderer war der ab 1913 produzierte Typ 5/12 PS bzw. 5/15 PS (intern: W3), der als „Puppchen“ bekannt wurde. Charakteristisch für das frühe Modell war die Anordnung der beiden Sitze hintereinander. Später gab es auch Drei- und Viersitzer mit zuletzt etwas stärker Motorisierung (5/20 PS).

Zunächst sprach einiges dafür, dass das hier präsentierte Foto eine solche viersitzige Ausführung des „Puppchens“ zeigt. Doch die horizontal geteilte, ausklappbare Windschutzscheibe spricht dagegen. Sie war dem etwas größeren Modell 6/18 PS (intern: W6) vorbehalten.

Die Abgrenzung vom sehr ähnlichen, ab 1924 gebauten Nachfolger W9 ist anhand des gerundeten (statt eckigen) hinteren Türabschlusses möglich. Abgesehen von diesen Details sind die Modelle W3, W6 und W9 der frühen 1920er Jahre auf Fotografien kaum auseinanderzuhalten.

Gebaut wurde der in den Grundzügen noch vor dem 1. Weltkrieg entwickelte Typ W6 ab 1920. Eine Besonderheit des hier gezeigten Exemplars erlaubt die Identifikation als 1923 gebaute Ausführung – auf der linken Seite ist nur noch eine statt zwei Türen verbaut. Die Fondspassagiere konnten also bloß auf der dem Bürgersteig zugewandten Seite aussteigen.

Die legere Kleidung der jungen Herren im Wanderer und die Schattensituation weisen auf einen Aufnahmezeitpunkt zur Mittagszeit an einem Hochsommertag irgendwann in den 1930er Jahren hin.

Der Wanderer war damals schon ein altes Auto, vermutlich hat einer der Insassen ihn sich bei den Eltern zu einer Spritztour ausgeliehen. Vielleicht handelt es sich um einen Studentenausflug, immerhin ist bei zwei der Insassen die „Denkerstirn“ schon sehr ausgeprägt. Der Fünfte im Bunde hat das Foto geschossen, im Kleinbildformat übrigens, was auf eine Leica oder Contax hindeutet.

Die Passagiere stammten aus gutsituierten Verhältnissen. Genützt hat ihnen das womöglich wenig, wenn man bedenkt, dass kurze Zeit später der 2. Weltkrieg begann, in dem das Überleben für Angehörige dieser Generation zum Roulettespiel wurde.

Übrigens war der Wanderer W6 schon damals eine Rarität. Ausweislich der Firmenunterlagen wurden ganze 175 Stück gebaut. Wanderer betrieb den Autobau seinerzeit gewissermaßen nebenher und unter Manufakturbedingungen.

Nun mag man sich fragen, wo überhaupt verlässliche Informationen und aussagefähige Bilder zu einer derartigen Rarität zu finden sind. Nun, hier erweist das gute alte Autobuch einmal mehr seine Qualitäten. Denn dank der Unterstützung von Audi Tradition gibt es das folgende, hervorragend recherchierte, faktengesättigte, opulent bebilderte und 360 Seiten starke Standardwerk zu Wanderer-Automobilen:

Erdmann/Westermann: Wanderer Automobile, hrsg. vom Verlag Delius Klasing 2011, ISBN: 978-3-7688-2522-1 

Dort findet man auf Seite 44 eine zeitgenössische Prospektabbildung des hier vorgestellten Wagens. Unser Foto dürfte damit großen Seltenheitswert haben.

Klassiker der 1930er Jahre in Wiesbaden

Während moderne Autos in historischen Innenstädten störend wirken, ergänzen Vorkriegsfahrzeuge eher das Idyll. Der Grund: Ihre Formensprache knüpfte noch an über Jahrhunderte gültige gestalterische Prinzipien an.

Anschaulich macht dies die Kühlermaske von Rolls-Royce, die sich an griechischen Tempelfassaden mit Säulen und Dreiecksgiebel orientiert. Ein solcher Wagen wirkte auch vor dem Eingangsportal eines 200 Jahre alten Herrenhauses harmonisch.

© Rolls-Royce 20HP, Kronprinz Wilhelm Rasanz 2015; Bildrechte: Michael Schlenger

Es ist interessant zu sehen, wie die klassische Formensprache, die seit der Antike immer wieder Neuinterpretationen erfahren hat, sich vor dem 2. Weltkrieg schleichend aus dem Alltag zu verabschieden beginnt.

Am augenfälligsten war dies in der Architektur der Fall. Vom Neoklassizismus öffentlicher Bauten jener Zeit abgesehen finden sich ab den 1920er Jahren vermehrt Gebäude, die in ihrer Freudlosigkeit auch in der Nachkriegszeit hätten entstehen können. Die funktionalistische Bauhaus-ldeologie begann ihre Wirkung zu entfalten.

Genau in dieser Zeit ist folgendes Privatfoto entstanden, das Zeuge des sich abzeichnenden ästhetischen Umbruchs ist. Es zeigt die nach klassischem Vorbild gestaltete Fassade des Kurhauses der Stadt Wiesbaden, die in der Römerzeit den Namen AQUIS MATTIACIS trug.

© Kurhaus Wiesbaden, Originalfoto der 1930er Jahre; Sammlung Michael Schlenger

Der Fotograf hat die Szene mit malerischem Blick eingefangen: Links oben ragen Zweige ins Bild, der Vordergrund ist bewusst einbezogen. So gewinnt das Bild eine schöne Tiefenstaffelung – ein Beispiel für gelungenen Bildaufbau.

Für Klassikerfreunde sind natürlich die Wagen im Vordergrund besonders interessant. Der oberflächliche Betrachter sieht dort bloß drei Vorkriegsautos, doch tatsächlich sind es höchst unterschiedliche Typen. Der Zufall hat dort Fahrzeuge platziert, die drei Generationen von Automobilen repräsentieren.

Das mittlere Modell ist das älteste – ein Mercedes-Benz 8/38 PS (Baureihe W02). Der Wagen war das erste seit der Fusion von Daimler und Benz 1926 in Serie gefertigte Auto. Konstrukteur war Ferdinand Porsche, damals bei Daimler-Benz angestellt.

Neben dem schwachen 2-Liter-Sechszylinder gab es später ein äußerlich gleiches 2,6-Liter-Modell (10/50 PS, Baureihe W11). Nach dem Weggang Porsches wurden die nicht ausgereiften Wagen verbessert und als Stuttgart 200 bzw. 260 bis 1934 weitergebaut, optisch leicht modernisiert (siehe Sammelbild).

© Originales Sammelbild der 1930er Jahre; Sammlung Michael Schlenger

Der Mercedes auf dem Foto lässt noch deutlich die Ableitung des Automobils aus der Kutsche erkennen. Die Frontscheibe steht senkrecht, die Motorhaube stößt übergangslos auf die Schottwand. Der Kühlergrill besitzt keine Neigung, aerodynamische Elemente fehlen. Auch die Gußspeichenräder mit den großen Reifen verweisen auf die automobile Frühzeit, ebenso die dekorativen Sicken in den Frontkotflügeln.

Der Wagen rechts – ein Wanderer W22 – gehörte in die gleiche Klasse wie der Mercedes, war aber formal eine Generation weiter. Die Gemeinsamkeiten mit dem Mercedes beschränken sich auf die Motorisierung (2 Liter, 6 Zylinder, 40 PS) und die Entwicklung durch das Konstruktionsbüro Porsche.

© Originales Sammelbild der 1930er Jahre; Sammlung Michael Schlenger

Gebaut wurde der Wanderer von 1933 bis 1938. Schnittig sind die schräge Frontscheibe und die von Aerodynamikwagen inspirierte Kühlermaske. Die Motorhaube geht harmonisch in die Fahrgastzelle über, eine Schottwand ist von außen nicht mehr sichtbar. Die Reifen sind auf Scheibenfelgen montiert.

Links der formal modernste Wagen – ein Opel 1,3 Liter (Bj. 1934-35). Er war in der unteren Mittelklasse angesiedelt und mit 24 PS noch schwächer als der Mercedes und der Wanderer. Doch mit tropfenförmigen Scheinwerfern, aerodynamisch anmutenden Kotflügeln und breiter Fahrgastzelle ohne Trittbretter verwies der Opel weit in die Zukunft.

© Originales Sammelbild der 1930er Jahre; Sammlung Michael Schlenger

Entstehungszeitpunkt des Bildes; Die drei Wagen können frühestens 1934 zusammen abgelichtet worden sein. Der Lack des nur 1934/1935 hergestellten Opel verrät, dass er nicht mehr ganz taufrisch war.

Somit dürfte das Bild in der zweiten Hälfte der 30er Jahre entstanden sein. Gegen eine frühere Entstehung spricht auch, dass der seltene Wanderer vorher kaum Verbreitung gefunden hatte.

Die späteste Datierung ist 1939. Danach wäre kriegsbedingt die nächtliche Beleuchtung des Kurhauses nicht mehr möglich gewesen. Nach 1945 hätten die Wagen keine Nummernschilder des Deutschen Reichs mehr getragen.

Das zeitgemäßeste der drei Autos war der Opel, doch einen Schönheitspreis hätte er schon damals nicht gewonnen. Der Wanderer wirkt rassig, allerdings halten seine Leistungsdaten nicht annähernd, was die Form verspricht.

Der Ehrlichste im Bunde ist der Mercedes Sport-Zweisitzer. Seine Form repräsentiert die harmonische Linie der 1920er Jahre, die der konservative Hersteller erfolgreich bis in die 30er Jahre beibehielt. Vor dem antikisierenden Portal des Kurhauses in Wiesbaden wirkt der Mercedes am zeitlosesten – eben klassisch.